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Big Data im Fußball: Taktikforschung am Pool

Big Data beziehungsweise sogenannte Positionsdaten helfen beim Erkennen von taktischen Mustern, denn sie ermöglichen heutzutage die genaue Erfassung der Positionen jedes Spielers und des Balles.
Ein Tafelbild zeigt Aufstellung und Räume auf dem Fußballfeld

Man stelle sich folgendes Bild vor: Ein Bundesligatrainer sitzt nach einer erfolgreichen Spielzeit am Pool, kann nicht wirklich abschalten und denkt darüber nach, welche taktischen Spielprinzipien er in der neuen Spielzeit mit seiner Mannschaft trainieren muss, um die anderen Teams erneut zu überraschen. Plötzlich hat er eine Idee und ruft die Sportwissenschaftler in Köln an: »Ich glaube, dass wir mit den taktischen Spielprinzipien XY noch mehr Raum im letzten Drittel und im Strafraum kontrollieren können. Damit werden wir mehr Tore erzielen. Stimmt das?« Die Sportwissenschaftler machen sich sofort daran, die U19 des Vereins als Probanden zu rekrutieren, die sich daraufhin am Nachmittag einfindet. Die neuen taktischen Spielprinzipien XY werden gegen die traditionellen Spielprinzipien UVW getestet, Positionsdaten erfasst und direkt mit ©SOCCER ausgewertet. Am gleichen Tag ruft der Sportwissenschaftler beim Abendessen an und muss bedauerlicherweise mitteilen, dass sich durch die neue Maßnahme keine taktischen Leistungsindikatoren verändert haben. Ist dies ein realistisches Szenario? Ja, wie gleich gezeigt wird. Heutzutage geht die Datenerfassung sehr schnell (also auf der Basis von Positionsdaten) und die Datenauswertung (basierend auf ©SOCCER) ebenfalls.

Experimente auf dem Fußballplatz

Schon heute kann uns die Sportwissenschaft mithilfe der datengestützten Spielanalyse tiefe Einblicke in die Wirkungsweise taktischer Leistung im Fußball geben. Einige haben wir ausgiebig in diesem Buch kennengelernt. Jeden Monat erscheint, beschleunigt durch die stetig wachsende Verfügung der Spieldaten, eine Vielzahl von neuen wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema. Neue Leistungsindikatoren werden vorgeschlagen und verschiedene taktische Leistungen miteinander verglichen, oft im Hinblick auf den Spielausgang. Doch über all diesen Veröffentlichungen schwebt die Frage, welche Rückschlüsse sich letztlich für die Sportpraxis ziehen lassen. Obwohl es dieser Fundus aus gesicherten Erkenntnissen ermöglicht, Unterschiede zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Leistungen zu ermitteln, bleibt zuweilen unklar, aus welchem Grund diese Leistungen erbracht werden konnten.

Das hier geschilderte Problem ist eine grundlegende und stets wiederkehrende Frage aller empirischen Wissenschaften, nämlich jener Frage nach dem Zusammenhang zwischen Korrelation (Wer besser spielt, kontrolliert mehr Raum) und Kausalität (Wer besser spielt tut dies, weil er mehr Raum kontrolliert). Es ist leicht, Letzteres aus Ersterem zu folgern – doch im Allgemeinen ein Trugschluss. Nur unter gewissen Voraussetzungen kann man sich, im wissenschaftlichen Sinne, wirklich sicher sein, dass gewisse Faktoren den sportlichen Erfolg tatsächlich bedingen anstatt lediglich zu begleiten. Abhilfe schafft das vielleicht wichtigste Werkzeug der Empirie: das Experiment. Unter Laborbedingungen ist es möglich, einzelne Faktoren zu variieren (man spricht auch von »manipulieren«) und die Effekte zu vergleichen. Geknüpft an Theorien, Hypothesen und statistische Auswertungen kann man so valide Aussagen über Ursache und Wirkung treffen.

Das bedeutet nicht, dass die Aussagen aller bisherigen Studien wertlos wären. Im Gegenteil: Basierend auf den Erkenntnissen dieser Untersuchungen kann nun der nächste Schritt erfolgen. Vermutungen können aufgestellt und diese mit Experimenten überprüft werden. Dies ergänzt die wesentliche Schwachstelle, welche alle bisherigen Untersuchungen vereint. Nämlich die Tatsache, dass diese lediglich »post-hoc«, also im Nachhinein, mit Spieldaten beispielsweise aus den europäischen Wettbewerben arbeiten. So ist es schwierig, den Einfluss eines einzelnen Faktors inmitten einer Vielzahl von Faktoren im hochkomplexen Geflecht des Spielgeschehens einwandfrei zuzuordnen. Gut ersichtlich wird dieser Umstand anhand der Tatsache, wie unterschiedlich verschiedene Trainer, Spieler und Fans die Gründe für den Spielverlauf beschreiben. Man überlege sich, wie viele Antworten man von zehn Leuten auf die Frage für den Grund eines umkämpften 0:0-Unentschiedens bekäme.

Ein Experiment hingegen versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Indem unter möglichst identischen Rahmenbedingungen genau ein Aspekt verändert wird, lässt sich die Auswirkung auf das Ergebnis diesem Aspekt zuschreiben. Aber identische Rahmenbedingungen im Fußball? In einem hochdynamischen, auf Wechselwirkung basierenden Spiel voller Zufälle und Unwägbarkeiten? Mit einem festgelegten Paradigma, das wiederholbare Spielsituationen definiert, ist dies weitestgehend möglich! Ein solches Paradigma wurde Anfang 2019 zum ersten Mal vorgeschlagen (Memmert et al. 2019) und beschreibt einen theorieorientierten, experimentellen Ansatz, der die annahmebasierte Manipulation ermöglicht.

Welche Formation passt zu mir?

Wie kann ein solcher experimenteller Ansatz aussehen? Wir wollen dies am Beispiel der oben genannten Studie von Memmert und Kollegen zeigen, welche zwei gängige Formationen miteinander vergleicht: das 4-2-3-1 und das 3-5-2. Auch wenn die Formation einer Mannschaft während des Spiels nicht in Stein gemeißelt ist und die Positionen der einzelnen Spieler oft von der Grundordnung abweichen, legt sie grundsätzlich Rollen, Aufgaben und Verantwortungen der einzelnen Akteure fest. Somit bildet sie nicht nur eine wichtige Stellschraube für den Trainer, sondern sorgt auch immer wieder für hitzige Debatten unter Fans und Fachleuten gleichermaßen – man möge sich nur die Diskussionen über Dreier- oder Viererkette ins Gedächtnis rufen.

Um diese beiden Formationen miteinander zu vergleichen, wurde zunächst eine Ausgangssituation festgelegt, aus welcher immer und immer wieder die gleiche Spielsituation folgte. Der konkrete Ablauf gestalte sich wie folgt: Zwei Mannschaften spielen gegeneinander, abwechselnd nehmen sie die Rolle der angreifenden und verteidigenden Mannschaft an. Sind die Rollen verteilt, erfolgt ein Angriff. Dazu positionieren sich beide Mannschaften, dirigiert von zwei A-Lizenz-Trainern, auf festgelegten Positionen, je nach ihrer Grundordnung, Angriffs- oder Verteidigungsstrategie. Dann spielt der Torwart der angreifenden Mannschaft den Ball kurz in den Fuß eines Verteidigers und es folgt ein freies Spiel. Die angreifende Mannschaft versucht nun, ein Tor zu erzielen, während die verteidigende Mannschaft versucht, dies zu verhindern. Gespielt wird so lange, bis der Ball das Spielfeld verlässt, ein Abschlussversuch erfolgt oder die verteidigende Mannschaft in gesicherten Ballbesitz kommt. Dieser Prozess, vom Abspiel des Torwarts bis zum Ende der Szene, wird als Versuch gewertet. Diese Versuche werden jeweils sechs Mal durchgeführt, danach werden die Rollen getauscht.

Der Clou bei der Sache: Die Formation der angreifenden Mannschaft wechselt zwischen den einzelnen Blöcken von sechs Versuchen. Zunächst spielen sie ein 4-2-3-1, dann ein 3-5-2. Gemäß eines festgelegten Studiendesigns hat so jede der beiden Mannschaften mehrere Versuche als angreifende Mannschaft (in beiden Formationen) sowie als verteidigende Mannschaft. Die Reihenfolge ist so gewählt, dass Effekte der Ermüdung, Gewöhnung oder Mannschaftsstärke auf ein Minimum reduziert werden können. Übrig bleiben zwei Datensätze von Angriffsversuchen, welche sich lediglich durch die gewählte Formation der angreifenden Mannschaft unterscheiden – alle anderen Rahmenbedingungen bleiben konstant und somit im Sinne der Testtheorie kontrollierbar. Lediglich der Faktor der Spielformation wird verändert. Nun lassen sich beide Datensätze statistisch miteinander vergleichen und Unterschiede in der Leistung sich weitestgehend auf die gespielte Grundordnung zurückführen.

Dreier- oder Viererkette, ein oder zwei Stürmer

Für die Datenerhebung wurde das Spielfeld mit einem lokalen Trackingsystem (Kap. 3) ausgestattet, zusätzlich wurden Kameras installiert. Die Spieler trugen Transponder in Brustgurten, und auch der Ball war mit einem Mikrochip versehen, sodass alles genau aufgezeichnet werden konnte. Gespielt wurde mit den Standardregeln (abgesehen von der künstlichen Zerteilung in Versuche) auf einem Naturrasenfeld. Abb. 19.1 (in dieser Leseprobe nicht enthalten) veranschaulicht den Versuchsaufbau. Man sieht die Anordnung der Empfängereinheiten sowie der Kameras. Auf dem Platz ist außerdem die Positionierung der Spieler zum Anfang eines Versuchs schematisch dargestellt. Die rote Mannschaft, im Angriff, nimmt hierbei die 4-2-3-1-Formation an, die blaue verteidigt – wie im gesamten Experiment – in einem 4-4-2 mit Mittelfeldpressing. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich nun der Angriff, bis er beendet wird. Nach insgesamt 144 solcher Versuche war alles im Kasten, und die Positionsdaten konnten zur nachfolgenden Analyse vorbereitet werden.

Wie bereits beschrieben, konnten nun beide Datensätze hinsichtlich der Leistung miteinander verglichen werden. So wurde sowohl die Raumkontrolle als auch die Druckeffizienz berechnet. Auch die Zeiten für beide Gruppen wurden miteinander verglichen, um zu untersuchen, ob die Angriffsdauer sich eventuell unterscheidet. Zusätzlich wurden drei weitere Indikatoren betrachtet, deren Ursprung in der Forschung zu Kleinfeldspielen (zum Beispiel 5 gegen 5 auf kleine Tore) liegt und welche sich vornehmlich mit den geometrischen Eigenschaften der Spielerpositionen befassen (vgl. Frencken et al. 2011, Silva et al. 2014 und Vilar et al. 2014). Eine grafische Darlegung erklärt ihren Ansatz (Abb. 19.2, in dieser Leseprobe nicht enthalten).

Der Indikator »Effektive Spielfläche« bemisst den Flächeninhalt, der durch alle Feldspieler aufgespannt wird und versucht, die räumliche Ausdehnung der Mannschaft greifbar zu machen. Das »Länge-zu-Breite-Verhältnis« hingegen teilt die Ausdehnung dieser Fläche in der Länge des Spielfeldes durch die Ausdehnung in der Breite. So soll erfasst werden, in welchem Zusammenhang die Tiefenstaffelung zur Nutzung der gesamten Feldbreite einer Mannschaft steht. Als dritter Indikator misst der »mittlere Spielerabstand« den durchschnittlichen Abstand aller Feldspieler zum nächststehenden Gegner – ein Hinweis darauf, wie eng Spieler von der gegnerischen Mannschaft gedeckt werden. Diese Indikatoren wurden jeweils für einen ganzen Versuch gemittelt.

Welche Ergebnisse waren nun zu erwarten? Zum einen könnte man erwarten, betrachtet man die Geometrie der Umsetzung der Formationen, dass die 3-5-2-Formation eine höhere Tiefenstaffelung und somit ein größeres Länge-zu-Breite-Verhältnis aufweisen sollte. Zudem bietet diese Formation mit einem zusätzlichen Stürmer eine weitere Anspielstation an vorderster Front – mehr Raumgewinne und höhere Druckeffizienzwerte dürften die Folge sein.

In der Tat trafen zwei dieser Vermutungen ein. Die Variante mit Dreierkette und zwei Stürmern konnte sowohl bessere Druckeffizienzwerte vorweisen als auch ein größeres Länge-zu-Breite-Verhältnis. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass man mit dieser Formation ein effektiveres Vertikalspiel ermöglichen kann – zumindest, wenn der Gegner im 4-4-2 flach verteidigt. Keine Unterschiede konnten hingegen bei den weiteren Indikatoren gefunden werden. So zeigten sich ähnliche Charakteristika beider Formationen bezüglich effektiver Spielfläche, mittlerem Spielerabstand und Dauer der Versuche. Interessanterweise wurde ebenso die Vermutung widerlegt, dass das 3-5-2 zu mehr Raumgewinnen vor dem gegnerischen Tor führt. In beiden Formationen schafften es die Mannschaften gleichermaßen, sich gut zu positionieren und Kontrolle zu erlangen. Das heißt zusammenfassend: Obwohl das 3-5-2 in diesem Aufeinandertreffen von Formationen lebhafteres Vertikalspiel aufweist, geschieht dies bei ähnlich starker Deckung und unter vergleichbarer Verfügbarkeit von Raum.

Elektronisches Zusatzmaterial

Die Online-Version dieses Kapitels (https://doi.org/10.1007/978-3-662-59218-2_19) enthält Zusatzmaterial, das für autorisierte Nutzer zugänglich ist.

Teile des Puzzles

Mit einem einzelnen Experiment ist die große Anzahl taktischer Spielarten bei Weitem nicht entschlüsselt, soviel steht fest. Aber es zeigt dennoch: Die Isolation einzelner taktischer Faktoren ist möglich und ihr Effekt auf die Spielleistung messbar und bewertbar. Es bleibt abzuwarten, welches Bild sich ergibt, sollte der Gegner statt im Mittelfeld bereits sehr früh die angreifende Mannschaft unter Druck setzen oder auf eine andere defensive Aufstellung vertrauen. Nichtsdestotrotz ist es nun möglich, auch die Wechselwirkungen solcher Aspekte greifbar zu machen. Eine ganze Reihe von derartigen Experimenten könnte letzten Endes zu einem besseren Verständnis davon führen, wie Trainer mit ihren Maßnahmen die Organisation und Spielanlage ihrer Mannschaft beeinflussen können. Dies gäbe weiterhin den Trainern die Möglichkeit, die Effektivität ihrer Entscheidungen zu bewerten: Hat etwa die Umstellung auf zwei Spitzen zur erwarteten Verbesserung des Vertikalspiels geführt?

Die Vielfalt von Faktoren, die Einfluss auf die Spielleistung haben könnten, ist enorm – defensiv wie offensiv. Dennoch ist es interessanterweise möglich, eine große Menge von ihnen im Versuchsparadigma, das in der erwähnten Studie zum Einsatz kam, zu überprüfen. Welche Pressingstrategie führt zu schnelleren Ballgewinnen im gegnerischen Drittel? Erreiche ich mit Angriffen über die Flügel oder durchs Zentrum größere Dominanz im gegnerischen Strafraum? Überspielt Ballbesitz- oder Konterfußball im Schnitt mehr gegnerische Spieler? Experimente wurden in der Sportspielforschung im Bereich von Kleinfeldspielen schon seit Längerem durchgeführt, doch die Übertragung dieser Idee auf das Großfeld eröffnet eine neue Möglichkeit der direkten Untersuchung des Spitzensports. Stück für Stück können nun weitere Teile zusammengesetzt werden. Man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse in den nächsten Jahren auf diese Weise gewonnen werden können.

Übrigens: Am nächsten Tag ruft der Trainer wieder an und schlägt den Sportwissenschaftlern ein neues taktisches Spielprinzip ABC vor …

Literatur

Frencken, W., Lemmink, K., Delleman, N., & Visscher, C. (2011). Oscillations of centroid position and surface area of soccer teams in small-sided games. European Journal of Sport Science, 11(4), 215–223.

Memmert, D., Raabe, D., Schwab, S., & Rein, R. (2019). A tactical comparison of the 4-2-3-1 and 3-5-2 formation in soccer: A theory-oriented, experimental approach based on positional data in an 11 vs. 11 game set-up. PLoS ONE, 14(1), e0210191.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0210191.

Silva, P., Duarte, R., Sampaio, J., Aguiar, P., Davids, K., Araújo, D., & Garganta, J. (2014). Field dimension and skill level constrain team tactical behaviours in small-sided and conditioned games in football. Journal of Sports Sciences, 32(20), 1888–1896.

Vilar, L., Duarte, R., Silva, P., Chow, J. Y., & Davids, K. (2014). The influence of pitch dimensions on performance during small-sided and conditioned soccer games. Journal of Sports Sciences, 32(19), 1751–1759.

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