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Bis(s) ins Innere des Protons: Kindlicher Spieltrieb – Motivation und Leben der Teilchenphysiker

In meinem Alter falle ich ja nicht mehr auf Tricks rein. Vor allem nicht als Physiker. Jeder von uns kennt es: das Süßigkeitenregal im Supermarkt direkt vor der Kasse. Als kleine Belohnung für den anstrengenden Einkauf soll ich mir etwas gönnen. So hätte der Supermarkt das vielleicht gerne. Aber nein, nicht mit mir. Brauche ich nämlich gar nicht. Dann aber fällt mein Blick auf etwas, was mich ergreift. Gerade als Physiker. Es weckt meine innersten Instinkte. Ich muss es einfach kaufen.
LHC-Simulation einer Proton-Proton-Kollision

Es ist ein Überraschungsei. Es ist ja so viel mehr als nur eine in Eiform gepresste Schokolade. Es enthält ein Geheimnis in seinem Inneren. »Na, was meinst du wohl, was in mir drin ist?«, scheint es mir zuzurufen. Und das Gefühl kennen wir alle, schon seit dem Kindesalter. Sei es nun eine Schatzkiste, ein Sparschwein des kleinen Bruders oder eben so ein Schokoladenei. Die Antwort auf unsere innere Stimme zu finden, scheint recht simpel: Aufmachen und Reinschauen. Jetzt könnte ich mich natürlich damit zufriedengeben, rausgefunden zu haben, dass ein Airbus A380 in dem Ei steckte, das wir auf der Titelseite dieses Kapitels gesehen haben.

Wo hören die Fragen auf?

Aber was, wenn mein Wissensdurst nach mehr verlangt? Wenn ich die Frage »Und was ist darin?« einfach immer weiter stelle, bis ich als Antwort bekomme: »Das war’s!«? Exakt das ist der kleine Unterschied, der ein neugieriges Kind – und das steckt sicherlich in jedem von uns – von einem Teilchenphysiker unterscheidet. Der Teilchenphysiker geht nämlich bis ans Limit. Aber Kind und Physiker treibt doch letztlich die gleiche Motivation.

Die Welt ist voller schöner Dinge, die man gerne verstehen oder nachbauen können würde. Und daher gehen die Teilchenphysiker auch hier wieder bis ans Limit. Nicht nur die Zutaten und Rezepte zum Kochen und Backen wollen wir rausfinden, sondern die der Welt. Ach, was soll der Geiz, die des ganzen Universums! Auf einer Jacke von mir steht all das, was wir Teilchenphysiker bisher an Bausteinen und Rezepten gesammelt haben. Ein Foto davon gibt’s in Abb. 1.1. (in dieser Leseprobe nicht enthalten

Auf den ersten Blick sieht diese Formel ziemlich fies aus. Aber wir werden im Laufe des Buches rausfinden, was es mit den geheimen Schriftzeichen so alles auf sich hat. Wir werden sehen, welcher Teil erklären kann, wieso das menschliche Herz schlägt, wie wir eine SMS auf ein anderes Handy schicken können und wieso die Sonne scheint. Und wir werden sehen, welchen Teil der Formel wir bisher nur für richtig halten – ohne es wirklich hundertprozentig zu wissen – und welcher für uns bislang eines der größten ungelösten Rätsel darstellte, das vielleicht im Sommer 2012 gelöst wurde.

Und bevor wir uns durch das Getümmel des Teilchenzoos schlagen, möchte ich einen kurzen Einblick in das Leben eines Teilchenphysikers geben. Und hinterher sieht man: Das erklärt so einiges.

Die Welt der Teilchenphysiker scheint ja dem Alltag ein wenig fremd zu sein: Die Maschinen sind besonders groß, die Teilchen besonders klein, die Computer besonders schnell und die Menschen besonders … besonders. Begleiten wir die Teilchenphysiker mal an den Ort, wo es für sie derzeit besonders spannend ist, nämlich an das Forschungszentrum CERN bei Genf, Heimat des größten Teilchenbeschleunigers LHC und seiner Experimente.

1.1 Jederzeit, überall und international: ein Meeting

Teilchenphysik ist Teamsport. Das sieht man schon daran, dass bei den LHC-Experimenten ATLAS und CMS (mehr zu den Experimenten später in Kap. 5) jeweils mehr als 3000 Physiker arbeiten. Jeder ist Experte auf einem ganz speziellen Gebiet und die großen Ergebnisse werden immer zusammen erarbeitet. Dafür muss natürlich auch viel besprochen und koordiniert werden.

Jetzt kann es sein, dass der Kollege, mit dem man gerade dringend etwas bereden muss, auf dem gleichen Flur arbeitet. Kann aber auch sein, dass er gerade in Tokio sitzt. Oder Toronto. Oder auf nem Boot. Was macht man dann? Man kann ja nicht immer hinfahren.

Unsere Meetings finden daher immer online statt. Wenn gerade besonders viele Menschen am gleichen Ort sind, kann man sich auch schon mal als Gruppe in einen Raum setzen, der eine Videokonferenzanlage hat. Aber in der Regel wählen sich die Leute online ein und können so miteinander reden oder sogar noch ein Bild von sich mit übertragen. Egal von wo. So sieht man auch schon mal eine Bühne mit einem leeren Rednerpult, wenn der Sprecher selbst nur zugeschaltet ist. Witzig ist auch, wenn sich jemand von zu Hause aus zuschaltet und vergisst, seine Kamera auszuschalten.

Manchmal wird es schwierig, eine passende Zeit für ein Meeting zu finden. Nicht nur weil die Physiker an ihrer Uni zu Hause noch andere Meetings oder Vorlesungen haben. Das Ganze wird noch mal ein wenig kniffliger, weil die Kollegen aus Japan und Amerika ja etwas andere Zeitzonen haben. Da kann es schon mal passieren, dass der eine meckert, weil er so früh aufstehen muss, während der andere vor dem Rechner einschläft.

Kein Rang, keine Vorurteile

Ein Online-Meeting mag jetzt ein wenig unpersönlich erscheinen. Ist es auch. Und es geht auch nichts über ein persönliches Treffen. Aber man muss eben einfach schauen, was möglich ist.

Auch wenn sie nicht so gut sind wie echte Meetings, hat die Online-Variante einige Vorteile. Ich kann mir z. B. aussuchen, von wo aus ich an einem Meeting teilnehme. Ich muss zu keinem Raum hetzen, sondern kann in meinem Büro sitzen bleiben. Wenn ich selber keinen Vortrag halte, kann ich sogar nebenbei zu Mittag essen, ohne dass es jemanden stört. Und wenn das Meeting mal besonders früh ist, macht’s auch nichts, wenn ich noch zu Hause bin und im Bett liege. Nur wach sollte ich sein.

Auch eine Fahrt mit dem Schlauchboot geht klar, wenn der Internetempfang gut genug und die Konferenz-App auf dem Smartphone installiert ist. Aber der Komfort des »überall ist alles möglich«-Gefühls ist nicht das Beste an Online-Meetings. Denn der Nachteil, Menschen nicht persönlich zu treffen, kann auch ein Vorteil sein. Bei den Teilnehmerlisten in den Meetings sehe ich immer nur den Vor- und Nachnamen. Keinen Titel, keinen Rang. Es kann also sein, dass ein noch sehr junger und unerfahrener Student eine sehr gute Idee hat und prompt von allen ernst genommen wird. Das wäre vielleicht nicht unbedingt der Fall, wenn der junge Mann als »der Neue« vorgestellt worden wäre.

Umgekehrt gilt auch: Nur weil einer seit vielen Jahren Professor an einer Elite-Uni ist, hat er nicht automatisch recht. Es kommt in den Online-Meetings nur darauf an, was man kann und weiß. Und nicht auf irgendwelche Äußerlichkeiten. Das führt dazu, dass es viel auf Können ankommt und weniger auf früher mal Gekonntes. Das bietet wiederum gute Aufstiegschancen für junge Wissenschaftler.

Ich hatte zum Beispiel mal einen Kollegen, der leitete immer das Meeting zu meinem Forschungsthema. Gesehen hatte ich ihn nie, er sitzt im Ausland. Von der Stimme her dachte ich: »Wow, der Kerl klingt mächtig. Er muss groß sein. Und alt.« Nach einem Jahr traf ich ihn dann endlich mal in echt und stellte fest: Das Gegenteil war der Fall. Witzig!

1.2 Teamwork

Wie Teilchenphysiker ihre Ergebnisse zusammen besprechen, ist jetzt jedem klar. Aber sie reden nicht nur gemeinsam, sondern arbeiten auch gemeinsam. Und das geht genauso über alle Ländergrenzen hinweg wie das Reden.

Programmieren im Team

Bei meinen Kollegen und mir geht es meist ums Programmieren. Damit man auch halbwegs komfortabel am gleichen Programmcode arbeiten kann, braucht man entsprechende Programme. Ein wichtiges Werkzeug heißt SVN (Subversion).

Eine Kopie des Codes wird online gelagert und es ist geregelt, welche Nutzer Zugriff darauf haben. Sehen kann bei uns in der Kollaboration prinzipiell jeder immer alles. Das ist auch ein wichtiger Grundgedanke: Alles, was ich erarbeite, stelle ich allen zur Verfügung. Meine Programme müssen für jeden einsehbar und benutzbar sein. So kann man alles, was ich tue, auf Richtigkeit überprüfen und im Notfall kann auch mal jemand anderes meine Programme laufen lassen, falls ich vom Bus angefahren werde und dadurch zu einem ungünstigen Zeitpunkt für eine Woche ausfalle.

Man kann sich aber auch die Schreibrechte am eigenen Code mit anderen Menschen teilen. Jeder Mitprogrammierer bekommt dann eine lokale Kopie des Codes und kann damit machen, was er will. Im Idealfall natürlich das, was vorher koordiniert wurde. Und das kann man dann wiederum von überall machen. Zum Beispiel im Zug auf dem Weg von Genf nach Gießen. Wenn die Internetverbindung dann wieder da ist, kann man den Code mit der Online-Version synchronisieren. Man sieht dabei, welcher Nutzer welche Änderungen gemacht hat.

Wenn zwei Nutzer gleichzeitig aus einer Zeile Code zwei verschiedene neue Versionen machen, meckert SVN rum und man muss den Konflikt manuell lösen. Ansonsten werden immer die Änderungen aller Nutzer zusammengeführt. Ein weiterer großer Vorteil von SVN ist, dass alle Änderungen protokolliert werden. Wenn ich also morgens ins Büro komme, mein Programm nicht mehr funktioniert und ich dann im Logbuch sehe, dass ich am Vorabend nach der Weihnachtsfeier noch mal »schnell eine total gute Idee einbauen wollte« und der Plan in die Hose ging, reicht ein Knopfdruck und es ist wieder alles wie vorher.

Der Chef, dein Kollege

Wie in den Meetings selbst sind auch im Alltag während der Arbeit die Hierarchien sehr flach. Natürlich lernen die Jungen erst mal mehr von den Alten. Aber wenn es mal klemmt, packen alle gemeinsam mit an. Generell duzen sich auch alle in der Kollaboration und nennen sich beim Vornamen. Das ist manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, wenn im Kontrollraum der große Professor neben einem sitzt und man sagt: »Hier Horst, bei dir leuchtet ein Lämpchen rot, schau da mal nach!«

Die Bürotüren der Teilchenphysik-Professoren stehen meist offen und man kann jederzeit vorbeischauen und etwas fragen, so wie bei seinen Kollegen auch. Das mit dem Du gilt zum Beispiel auch für unseren aktuellen Chef bei ATLAS (das ist das Experiment, an dem ich arbeite). Er wird übrigens bewusst von uns nicht Chef genannt, sondern »Spokesperson«, also Sprecher. Ansonsten hat jede Teilgruppe einen »Convener« (»Zusammentrommler«), der die Meetings einberuft und die Arbeit ein wenig koordiniert.

Interessant ist es immer, wenn jemand fragt: »Wer ist eigentlich dein Chef?« Tja, in welcher Hinsicht? Es gibt meinen Doktorvater, meinen Betreuer, die Chefin der Göttinger Studenten am CERN, die Chefs meiner Analysegruppen-Meetings, den Chef von ATLAS und den Chef vom CERN. Zum Glück kommen die sich alle nicht in die Quere. Denn auch hier gilt: Man spielt und gewinnt gemeinsam, als Team.

Mir gefällt auch die Internationalität unserer Teams. Menschen aus 38 Ländern arbeiten allein bei ATLAS zusammen. Die tägliche Zusammenarbeit gibt einem viele Möglichkeiten, Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Klar, es gibt ab und an ein paar kleine kulturelle Missverständnisse. Wenn jemand etwas »sofort« braucht, kann das entweder »innerhalb der nächsten Minuten« heißen oder »irgendwann nächste Woche, wenn’s nicht zu viel Stress macht«. Aber unterm Strich ist die Herkunft der Menschen wirklich egal. Ein »Woher kommst du?« hat sowieso immer verschiedene Antworten. Geht es um das Land der Uni, die einen bezahlt und zum CERN schickt? Oder um das Land, in dem man wohnt? Das Land, in dem man geboren ist? Man profitiert viel von dem kulturellen Austausch und sieht sogar an solch schönen Aktionen wie einem»Israelisch-palästinensischen Freundschaftsfest« unter den Sommerstudenten am CERN, wie überflüssig und unsinnig ideologische Feindschaften und Vorurteile sind.

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