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Leseprobe »Das Rätsel Dunkle Materie«: Von der Kunst, einen Stern zu wiegen

Was veranlasst Astrophysiker dazu, mehr Materie zu postulieren, als beobachtbar ist? Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst ein Exkurs in die Geschichte der Naturwissenschaften nötig, der den Begriff Masse, wie er im Rahmen der Modelle der Astrophysik und der Physik eingesetzt wird, erläutert, um das Konzept der Dunklen Materie besser zu verstehen.
Galaxienhaufen Abell 520

Der Begriff Dunkle Materie deutet bereits an, worum es geht: Materie, die weder für das bloße Auge noch für die empfindlichen Instrumente der Astronomen sichtbar ist. Materie, die im wahrsten Sinne des Wortes »dunkel« ist.

Vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass den Himmelsforschern bis vor nicht allzu langer Zeit nur der für das menschliche Auge sichtbare Bereich des Lichts zugänglich war, erscheint nicht verwunderlich, dass Objekte des Universums noch im Dunkeln lagen. Doch auch seit uns immer größere Bereiche des Lichtspektrums als Informationsquelle zur Verfügung stehen, hat sich die Situation nicht verbessert, sondern nur verschlimmert.

Die Frage, die sich an dieser Stelle naturgemäß aufdrängt, ist: Was veranlasst Astrophysiker dazu, mehr Materie zu postulieren, als beobachtbar ist? Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst ein Exkurs in die Geschichte der Naturwissenschaften nötig, der den Begriff Masse, wie er im Rahmen der Modelle der Astrophysik und der Physik eingesetzt wird, erläutert, um das Konzept der Dunklen Materie besser zu verstehen.

2.1 Massenbestimmung im kosmischen Vorgarten – das Sonnensystem

Das Konzept der Masse als Maß für die gravitative Anziehung von Körpern hielt geschichtlich zuerst in der Astrophysik Einzug: bei der Erforschung und mathematischen Modellierung der Umlaufbahnen unserer Planeten. Dies ist ein Beispiel dafür, wie das astrophysikalische Experiment, die Beobachtung, zusammen mit der theoretischen Modellierung zu Modellen führt, die uns zu Vorhersagen über den zukünftigen Zustand von astronomischen Systemen befähigt. Im konkreten Fall also über die Bahnen der Monde und Planeten unseres Sonnensystems.

Diese spannende Geschichte begann in der Hochblüte der Renaissance. Kunst und Kultur erlebten eine Revolution und setzten neue Gedanken in die Welt, die für Jahrhunderte in ihrer Wirkung nachklingen sollten. In dieser Zeit wurde unser Wissensstand über die Abläufe im Kosmos neu ausgerichtet. Das Zusammenspiel von detaillierten Beobachtungen und deren Auswertungen anhand theoretisch-mathematischer Modelle ermöglichte es, die Planetenbahnen zu berechnen, ihre Positionen am Firmament vorherzusagen und sie somit aus der Welt der Mythen in die wissenschaftlich rationale Welt der Aufklärung zu überführen. Und wie fast immer in der Wissenschaftsgeschichte war es kein einfacher, direkter Weg zu den ersten brauchbaren Modellen der Planetenbewegungen, es war vielmehr ein verschlungener Pfad von Versuch und Irrtum, so kompliziert wie die Planetenbahnen am nächtlichen Himmel selbst.

In unserer Geschichte stehen drei große Naturforscher und deren Werk im Mittelpunkt unseres Interesses: Tycho Brahe, Johannes Kepler und Sir Isaac Newton. Natürlich ist dies eine verkürzte Betrachtungsweise und jeder Wissenschaftshistoriker müsste diese Darstellung als unzureichend abtun, doch für die Einführung des Konzeptes der Masse erscheint sie mir an dieser Stelle ausreichend.

Nähern wir uns zunächst der Person Tycho Brahe. Er war einer der bedeutendsten Astronomen seiner Epoche. Er studierte Philosophie, Rhetorik, Rechts-, Geistes- und Naturwissenschaft ab der Mitte des 16. Jahrhunderts an den Universitäten in Stockholm, Leipzig, Wittenberg, Basel und Rostock – ein wahrhaftiger Universalgelehrter seiner Zeit. Dass er seine Standpunkte vehement vertreten konnte, zeigte sich schon bei einem Duell im Alter von 20 Jahren, bei dem er einen Teil seiner Nase verlor. Glaubt man so mancher Quelle, so ging es um ein mathematisches Problem, das er wahrhaft leidenschaftlich mit seinen Studienkollegen im wörtlichen Sinne ausfocht. Er brachte es aber nicht wegen seiner speziellen Duellfähigkeiten in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte, vielmehr war er aufgrund seiner exakten Himmelsbeobachtungen einer der größten Astronomen seiner Zeit. Diese Beobachtungen führte er noch gänzlich ohne das astronomische Teleskop eines Galileo Galilei durch, sondern nur mit – aus heutiger Sicht – primitiven technischen Mitteln, wie zum Beispiel dem Mauerquadranten. Dabei handelt es sich um ein einfaches, aber sehr effektives Instrument zur Vermessung der Positionen der Gestirne am Firmament. Der Mauerquadrant liefert genaue Beobachtungswinkel auf einer Nord-Süd-Achse. Dadurch kann die jeweils höchste Position eines Objekts auf seiner Bahn am Firmament sowie der Zeitpunkt dieses Ereignisses vermessen werden. Dies sind zwei wichtige Größen, um die Bahn eines Gestirns am Himmel zu beschreiben. Wenn man so möchte, handelte es sich um einen großen Winkelmesser für Himmelsobjekte.

Exakte Messungen der Verläufe der Wandersterne, wie man Planeten damals nannte, waren zu jener Zeit Mangelware und erst Tycho Brahe sammelte Positionsdaten mit Hilfe etlicher Mitarbeiter in einer Qualität und Menge wie nie zuvor. Was Brahe aber wollte, war, mit seinen hervorragenden Daten das damals aufkeimende heliozentrische Weltbild zu widerlegen. Er lehnte die Vorstellung ab, dass die Sonne im Mittelpunkt des Universums wäre und die Erde nicht nur um das Zentralgestirn, sondern auch um die eigene Achse rotiere. Er meinte, dass dies auch nicht mit seinen alltäglichen Beobachtungen in Einklang zu bringen sei. Deswegen entwickelte er sein ganz eigenes Weltbild, das Tychonische Planetenmodell. Es beschrieb die Bahnen von Planeten und Sonne derart, dass die Erde weiter im Mittelpunkt des Geschehens blieb und sich Sonne und Planeten um diese drehten. Um nun alle seine Beobachtungen mit diesem Modell vereinbaren zu können, ließ er die damals bekannten Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn) allesamt um die Sonne kreisen. Das Modell war sehr komplex und mathematisch kaum beherrschbar. Es war eine Unzahl an Parametern nötig, was fast immer darauf schließen lässt, dass das Modell die Realität nicht gut beschreibt.

Und damit kommen wir schon zum zweiten Protagonisten unserer Geschichte. Brahe fehlte also ein stabiles, elegantes, theoretisches Gebäude, basierend auf der Mathematik jener Tage, um seinem Modell zum Durchbruch zu verhelfen. Daher stellte er einen gewissen Johannes Kepler als Assistenten ein. Kepler war wegen seiner mathematischen Fähigkeiten bekannt und geachtet. Doch die Zusammenarbeit war im Sinne Brahes nicht fruchtbar. Kepler war kein guter Beobachter und, was noch schlimmer war, vom Weltbild seines Geldgebers nicht überzeugt. Und Brahe hatte Angst, dass Kepler auf den Grundlagen seiner großartigen Beobachtungen zu Ruhm gelangen könnte und er nicht die entsprechende Anerkennung erhalten würde.

Kepler auf der anderen Seite, ein Zahlenmystiker, sah vornehmlich mathematische Beziehungen als die der Natur zugrunde liegende Ordnung an. So dachte er anfänglich, dass die Planetenbahnen fünf perfekt ineinandergeschachtelten Sphären innerhalb regulärer Polyeder folgten. Verschiedene geometrische Formen sollten die Bahnen der Planeten exakt beschreiben.

Geometrische Formen standen für ihn, genauso wie für ganz viele Wissenschaftler jener Zeit, für eine göttliche Harmonie, die sich auch in den Bahnen der Gestirne widerspiegeln musste. Man kann sich heute kaum vorstellen, welche inneren Konflikte Kepler gehabt haben musste, als er in all den wundervollen Daten Tycho Brahes etwas anderes als diese reine Harmonie fand. Nämlich jene Beziehungen, die wir heute als die drei Kepler'schen Gesetze kennen.

Es war Kepler, der in den Daten von Brahe drei grundlegende Zusammenhänge erkannte.

  • Die Planeten bewegen sich auf elliptischen Bahnen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht.
  • Die gedachte direkte Verbindungslinie Sonne zu Planet überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.
  • Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich zueinander wie die Kuben der großen Bahnhalbachsen.

Aber Kepler war mit diesen bahnbrechenden Erkenntnissen noch nicht zufrieden. Er versuchte eine ursächliche Wirkung für seine Beobachtungen zu finden. Der Naturforscher Kepler nahm an, dass die Sonne eine Art magnetische Wirkung auf die Planeten habe. Er selbst bezeichnete diese Wirkung als Anima motrix, als Seele des Bewegers, und modellierte für diese Fernwirkung auch bereits eine Abhängigkeit ganz in der Art der Abnahme der Intensität des Lichts mit dem Abstand vom leuchtenden Stern. Die Form der Abnahme dieser neuen Kraft mit dem Abstand war von Kepler als ursächliche Wirkung der Planetenbahnen postuliert worden, was sich als ein sehr erfolgreiches Konzept erwies.

Des Weiteren ging in seinem Modell diese Kraft von allen Körpern aus: der Sonne, den Planeten, den Monden, jedem noch so kleinen »Klümpchen« Materie. Eine derartige »magnetische« Kraftwirkung der Körper, die Anima motrix, mit ihrer quadratischen Abnahme, hat noch eine weitere interessante Eigenschaft: Sie wird niemals gänzlich erlöschen. Auch in den tiefsten Tiefen des Alls hat die Sonne nach diesem Modell ihre Kraftwirkung, natürlich nur noch äußert gering. Aber niemals wird diese Kraft gänzlich verschwinden.

Keplers Gesetze waren in seiner Astronomia nova 1609 noch nicht elegant mathematisch modelliert, sondern eher als lose Axiome formuliert – ein Umstand, der sich Ende des 17. Jahrhunderts ändern sollte.

Mit Sir Isaac Newton, dem dritten Akteur unserer Geschichte, und seinem Hauptwerk, der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1686), erscheint erstmals eine auf mathematischer Beschreibung basierende Theorie der Dynamik der Körper auf dem Parkett der Naturwissenschaft. Seine Theorie führte die Beobachtungen der Fallexperimente Galileo Galileis und Keplers Gesetzmäßigkeiten unserer nächstgelegenen Himmelskörper formal zusammen und stellte damit eine allgemeingültige Theorie der Gravitation (der Massenanziehung) dar. Newtons Theorie war über einige Jahrhunderte unangefochten und ist dies in vielen Bereichen auch heute noch. Mit ihr kann eine Vielzahl unserer Beobachtungen einfach und elegant beschrieben werden.

Erneut sind es drei Zusammenhänge, drei Gesetzmäßigkeiten, welche die Bewegungen der Körper beschreiben und exakte Vorhersagen ihrer Bahnen zulassen:

  • Newtons erstes Gesetz oder Trägheitsprinzip: Ein Körper behält seine Geschwindigkeit und Richtung so lange bei, wie er nicht durch äußere Kräfte gezwungen wird, seinen Bewegungszustand zu ändern
  • Newtons zweites Gesetz oder Aktionsprinzip: Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der verursachenden Kraft proportional und geschieht in der Richtung derjenigen geraden Linie, nach der jene Kraft wirkt.
  • Newtons drittes Gesetz oder Wechselwirkungsprinzip: Kräfte treten paarweise auf. Übt ein Körper auf einen anderen Körper eine Kraft aus (actio), so wirkt umgekehrt eine gleich große, aber entgegengerichtete Kraft (reactio) – actio est reactio.

Die erste wichtige Erkenntnis in Newtons Modell: Die Beschleunigung von Körpern wird durch eine Kraft hervorgerufen. In diesem abstrakten Konzept ist stets eine Kraft Ursache dafür, dass sich Richtung und Geschwindigkeit der Bahn eines Körpers ändern.

Je stärker die Kraft, desto stärker die Beschleunigung, desto stärker die Änderung der Bahn. Newtons zweites Gesetz spricht nun von einer Bewegungsänderung proportional zur einwirkenden Kraft. Also in gleichem Verhältnis zu einer Größe, die wir als Masse bezeichnen können. Diese Beschreibung deckt sich auch gut mit unseren alltäglichen Erfahrungen. Man denke nur einmal daran, wie weit man selbst einen Tennis- oder einen Medizinball mit derselben Kraft schleudern kann. Da nun nach Newtons erstem Gesetz mit jeder Krafteinwirkung die Änderung von Geschwindigkeit oder Richtung eines Körpers, also eine Beschleunigung, einhergeht, kann Masse als Verhältnis von Kraft zur resultierenden Beschleunigung aufgefasst werden.

Wir halten fest: Bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts gab es eine allgemeine Theorie der Bewegung der Körper, deren zentrales Konzept eine angenommene Kraftwirkung, die Gravitation, als Ursache für Bahnänderungen ist. Dabei verursacht jeder Körper diese Kraft und jeder Körper wird umgekehrt von dieser Kraft beeinflusst. Die so resultierenden Kräfte beschleunigen Körper, was wir durch Messung der Positionen am Himmel bestimmen können. Wie stark die wirkende Kraft ist, die von einem Körper ausgeht, und wie stark dieser auf eine externe Kraft reagiert, hängt von seiner Masse ab. Zusammen mit dem Prinzip der Superposition – die Summe der Einzelwirkungen ergibt eine Gesamtwirkung – wurde den Naturforschern damit ein Regelwerk in die Hände gelegt, das exakte Vorhersagen über die Bewegungen der Himmelskörper im damals bekannten Kosmos zuließ.

Um dieses Regelwerk auf unser Sonnensystem anwenden zu können, ist noch eine weitere Erkenntnis nötig. Die Erkenntnis, dass eine Bahn wie die der Planeten um die Sonne zu jedem Zeitpunkt eine beschleunigte Bahn ist. Maßgeblich wird sie durch unsere Sonne beeinflusst, mit ihrer großen Masse und ihrer demzufolge ebenso großen gravitativen Auswirkung auf ihre Umgebung. Es ist diese Kraft, die die Planeten auf die von Kepler erkannten Ellipsenbahnen um die Sonne zwingt.

Eigentlich sollte man an dieser Stelle denken, dass alle Planeten aufgrund der enormen Anziehungskraft der Sonne einfach in diese stürzen sollten und es somit eigentlich keine Planeten gebe dürfte. Doch die Natur ist – glücklicherweise – im Allgemeinen komplexer und an dieser Stelle darf die Entstehungsgeschichte unseres Sonnensystems nicht ganz außer Betracht gelassen werden.

Nachdem sich die Sonne und ihre Planeten aus dem gravitativen Kollaps einer interstellaren Gaswolke formten, hatte das entstehende System einen Drehimpuls, der eine gleichförmige Rotation der Objekte um den gemeinsamen Massenschwerpunkt (im groben die Position unserer Sonne) verursacht. Im Falle der Planetenbahnen bedeutet das: Je näher sich das Objekt am Zentralgestirn mit der dominierenden Masse befindet, desto stärker ist zwar die Anziehungskraft des Zentralgestirns, desto höher ist aber gleichzeitig die Umlaufgeschwindigkeit des Objekts, die dieser anziehenden Beschleunigung entgegenwirkt.

An dieser Stelle ist ein interessantes Gedankenexperiment sehr hilfreich: Wäre die Sonne ein »dunkler«, nicht direkt beobachtbarer Stern, so könnten wir allein aus den Geschwindigkeitsänderungen entlang der Planetenbahnen auf diese dunkle Masse und ihre Position in unserem Sonnensystem rückschließen. Welch mächtiges Konzept, um Licht in die Dunkelheit unseres Universums zu bringen.

Wir fassen zusammen: Körper sind selbst Quelle einer anziehenden Kraft, der Gravitation, und reagieren wiederum auf die gravitative Kraft anderer Körper. Insgesamt bedingt die Summe aller einwirkenden Kräfte eine resultierende Beschleunigung, die wir durch Beobachtungen der Himmelskörper zu verschiedenen Zeitpunkten messen können. Das Konzept der Masse, das die Beschleunigung in Relation zur Kraft beschreibt, stellt den zentralen Ankerpunkt für genaue Vorhersagen über die Bahnen der Gestirne dar. Können wir die Massen und aktuellen Positionen der Himmelskörper messen, dann können wir ihre zukünftigen Positionen exakt vorausberechnen. Diese Fähigkeit ermöglicht uns, nicht nur künstliche Satelliten für Telekommunikation, Erderkundung und astronomische Beobachtungen, sondern sogar bemannte Raumkapseln in den nahen Kosmos zu schicken.

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