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Leseprobe »Lebe mehr, grüble weniger«: Schluss mit der Innenschau

Depression und ihre Anfänge – tiefe Niedergeschlagenheit – sollen durch eine einfache Methode überwunden werden können: indem Betroffene lernen, negative und zwanghafte Grübelschleifen zu durchbrechen, die der Auslöser für Stimmungstiefs sind, schreibt die Autorin Pia Callesen in ihrem Buch. Eine Leseprobe.
Zermürbendes Gefühl

Ich wage es gleich zu Beginn, dich mit einer Behauptung zu provozieren: Wir werden nicht von einer Depression überfallen. Die kommt nicht von außen. Wir provozieren sie selbst. Darum können wir sie auch selbst bekämpfen, wenn wir das wollen. Wir können die Kontrolle zurückgewinnen, müssen nicht den depressiven Gedanken die Kontrolle über uns überlassen.

Es wird dir vielleicht schwerfallen, meine Behauptung anzunehmen. Die meisten von uns haben gelernt, dass eine Depression ein Zustand ist, der uns aufgrund einer emotionalen Krise oder eines chemischen Ungleichgewichts im Gehirn aus der Bahn wirft. Mit dieser Annahme geht die Überzeugung einher, dass wir keine Chance haben, eine Depression zu vermeiden. Dass wir es nicht beeinflussen können. Dass wir von einer Depression heimgesucht werden können, wenn die Umstände entsprechend sind – und zwar ganz unabhängig von unserem Verhalten.

Es handelt sich dabei um eine fast schon einbetonierte Überzeugung, aber neueste Forschungen zeigen, dass es sich ganz anders verhält. Das Leben hinterlässt bei allen von uns Schrammen und Narben an Körper und Seele. Wir durchleiden Krisen, müssen Niederlagen und Enttäuschungen einstecken und mit Krankheiten zurechtkommen. Wir spüren Schmerz, Trauer, Angst, Niedergeschlagenheit, Frustration und Wut. Aber nicht alle werden davon depressiv. Warum ist das so?

Die Antwort verbirgt sich in den Strategien, die jeder Einzelne von uns einsetzt, wenn wir uns mit Krisen und negativen Gedanken konfrontiert sehen. Einige dieser Strategien aber sind nicht geeignet und führen direkt in eine Depression. Andere wiederum führen an ihr vorbei – und die kannst du erlernen, um dir selbst zu helfen. Die effektivste Methode heißt Metakognitive Therapie.

Wenn ich meinen Patienten erzähle, dass sie die Verantwortung dafür übernehmen können, die Depression zu beseitigen, spüren viele von ihnen einen großen Druck. »Bin ich jetzt auch noch allein dafür verantwortlich, dass es mir wieder besser geht?«, fragen sie mich. Es ist vollkommen normal, dass man das am Anfang als schwierig empfindet. Aber mit der richtigen Hilfe findest du so den Weg aus der Depression. Du wirst in diesem Buch Natascha, Mette, Leif und Berit kennenlernen, die nach nur sechs bis zwölf Sitzungen Metakognitiver Therapie alle von ihrer Depression befreit waren.

Die Metakognitive Therapie räumt endlich mit den Überbleibseln der alten freudianischen Psychoanalyse auf, die der Ansicht war, dass eine Depression mit Gesprächen über die Ereignisse der Kindheit des Patienten behandelt werden muss. Wir gehen aber auch auf Konfrontationskurs mit der Kognitiven Therapie, die damit arbeitet, negative Überzeugungen in realistischere oder nuancierte Überzeugungen zu verwandeln. Die Metakognitive Therapie leitet also einen bahnbrechenden Paradigmenwechsel innerhalb der Psychologie ein, weil sie sich weder mit der Kindheit beschäftigt noch dunkle Gedanken in hellere Versionen umwandeln will. Jetzt ist Schluss mit der Innenschau, um sich von seiner Depression zu befreien. Die Metakognitive Therapie baut nämlich darauf auf, sich weniger statt mehr mit seinen Gedanken und Gefühlen zu befassen, damit es einem besser geht.

Menschen, die zuvor mit anderen Therapieformen gearbeitet haben, erleben die Metakognitive Therapie verständlicherweise als »verkehrt herum«. Wenn wir eine Therapie machen, erwarten wir, dass wir unsere Probleme bearbeiten und uns mit unseren Gefühlen beschäftigen, damit es uns wieder besser geht. Die Metakognitive Therapie aber vertritt die grundlegende Ansicht, dass die Bearbeitung der eigenen Gedanken und Gefühle depressive Symptome erzeugt. Wenn wir stundenlang und täglich an unsere negativen Erlebnisse und Gefühle denken, über sie sprechen und sie analysieren oder uns zwingen, Lösungen und Antworten auf unsere emotionalen Fragen zu finden, riskieren wir es, uns in eine Depression zu grübeln. Und wenn die depressiven Symptome dann aufkommen, haben wir uns neuen Stoff besorgt, über den wir grübeln und spekulieren können – nämlich die Depression selbst. Und mit dem unaufhörlichen Analysieren und Bearbeiten halten wir sie in Gang.

Überraschende Forschungsresultate

Die Metakognitive Therapie hält gerade weltweit Einzug in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, weil diese Behandlungsform nachweislich bei Depressionen hilft. Sie ist so effektiv, dass sie vom englischen Gesundheitssystem als Methode zur Behandlung von generalisierten Angststörungen empfohlen wird, nachdem eine groß angelegte Studie fantastische Ergebnisse erbracht hat. Ich bin davon überzeugt, dass es eine ähnliche Empfehlung auch bald für die Behandlung von Depressionen geben wird.

Die Abhandlungen anderer Forscher und die viel versprechenden Ergebnisse der Psychologen, die mit der Metakognitiven Therapie gearbeitet haben, führten schließlich dazu, dass ich meine klinische Arbeit mit der Forschung verbinden wollte. Die Forschungsergebnisse des Psychologen und Professors an der University of Manchester Adrian Wells haben mich tief beeindruckt und inspiriert. Bis zu 80 Prozent seiner Patienten konnten sich mit Hilfe der Metakognitiven Therapie aus ihrer Depression befreien. Der Effekt seiner Therapie war folglich markant höher als alle anderen therapeutischen Ansätze, darunter auch die Kognitive Therapie. Die vorliegenden positiven Ergebnisse basieren aber auf Einzelfällen, und ich war neugierig, ob sich Ähnliches auch bei einer breiteren Zielgruppe ergeben würde. Also schrieb ich Wells an, um mich bei ihm für ein Promotionsprojekt vorzustellen. Wir besprachen, dass ich eine Reihe von so genannten Wirksamkeitsstudien an jenen Probanden vornehmen sollte, die in meine Praxis kamen und um Hilfe baten. Ich sollte also den direkten, unmittelbaren Effekt der Therapie untersuchen.

Zuallererst verschaffte ich mir einen Überblick über die vorhandenen Forschungsergebnisse, die sich mit dem Effekt einer therapeutischen Behandlung bei Depressionen beschäftigen. Daraus ging hervor, dass circa 50 Prozent aller Teilnehmer dieser Studien nach Anwendung einer Kognitiven Therapie oder einer anderen Therapiemethode depressionsfrei waren. Dies waren Ansätze, die den Fokus auf die Gedanken des Patienten, seine aktuellen Lebensumstände und Beziehungen zu anderen Menschen setzen. 50 Prozent ist aber kein so beeindruckendes Resultat.

Als Nächstes untersuchte ich, ob sich die beeindruckenden Ergebnisse von Wells' Studie, bei der 80 Prozent seiner englischen Patienten nach wenigen Sitzungen Metakognitiver Therapie ihre Depressionen überwunden hatten, auch auf meine dänischen Landsleute übertragen ließen. Ich führte zunächst eine Studie an Einzelpersonen durch. Drei Wochen vor Therapiebeginn überprüfte ich den Depressionsgrad der potenziellen Teilnehmer genauestens, um nicht fälschlicherweise einen Effekt zu messen, der ohnehin gekommen wäre, weil ausreichend Zeit verstrichen war. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich dann vier dänischen Teilnehmern, die an einer Depression litten, eine Metakognitive Therapie unter der Supervision von Adrian Wells angeboten.

Alle vier Patienten waren bei Therapiebeginn schwer depressiv. Drei von ihnen waren nach fünf bis elf Sitzungen depressionsfrei, einer von ihnen litt danach noch an einer mittelschweren Depression. Sechs Monate später gaben alle vier an, keine Depression mehr zu haben: Der Effekt war also anhaltend. Diese Ergebnisse waren beeindruckend und wurden in der Fachzeitschrift »Scandinavian Journal of Psychology« veröffentlicht.

Danach habe ich über eine Zeitspanne von sechs Jahren eine groß angelegte Studie mit 153 dänischen Patienten durchgeführt, die alle an Depressionen litten. Ich habe sie in zwei zufällig zusammengestellte Gruppen eingeteilt – die eine Gruppe erhielt eine Kognitive Therapie, die andere eine Metakognitive Therapie. Das Ergebnis der Studie ließ keinen Zweifel daran, dass die Metakognitive Therapie einen signifikant besseren Effekt hatte, sowohl auf kurze als auch auf lange Sicht. Parallel zu meiner Forschungsstudie hat eine Gruppe von norwegischen Forschern unter der Leitung des Psychologen Roger Hansen den Effekt von Metakognitiver Therapie an 39 norwegischen Patienten untersucht, die alle an Depressionen litten. Auch hier waren die Ergebnisse beeindruckend. Zwischen 70 und 80 Prozent der Teilnehmer waren danach geheilt, und auch bei einer Follow-up-Studie sechs Monate nach Abschluss der Behandlung hatte sich diese Zahl nicht geändert. Die Ergebnisse dieser Studien dokumentieren, dass die Metakognitive Therapie den bisher größten Effekt bei der Behandlung von Depressionen hat.

Machst du gerade eine Therapie?

Wenn du gerade eine kognitive oder eine andere Form von Therapie machst und diese auch fortsetzen möchtest, würde ich dir empfehlen, nicht gleichzeitig eine Metakognitive Therapie zu beginnen, weil beide Methoden ihre Effekte gegenseitig aufheben könnten. Die Metakognitive Therapie wirkt am besten pur.

Unsere Psyche reguliert sich selbst

Therapeuten waren, wie ich schon gesagt habe, seit Generationen der Ansicht, dass wir von einer Depression oder einem anderen psychischen Leiden von außen befallen werden, wenn uns das Leben verletzt. Deshalb ging es bei den Behandlungsmethoden darum, die Traumata und schlechten Erlebnisse aufzuarbeiten, weil die sich sonst in der Psyche des Menschen anhäufen. Es erzeugte darum ein vernehmliches Echo im Kreis der Therapeuten, als Adrian Wells und sein Kollege Gerald Matthews nach vielen Jahren intensiver Forschungsarbeit in den frühen 90er Jahren ein neues Modell des menschlichen Geistes präsentierten. Sie belegten, dass sich die menschliche Psyche selbst regulieren kann: Unser Körper verfügt über Selbstheilungskräfte, und das gilt auch für unsere Psyche.

Der menschliche Körper besitzt die Fähigkeit, Haut und Knochen nach Verletzungen und Brüchen zu heilen. Wir alle haben in unserer Kindheit die Erfahrung gemacht, dass die Schürfwunde am Knie nach dem Sturz mit dem Fahrrad nicht bis ans Ende unseres Lebens bluten wird. Auf wundersame Weise heilt sie, ohne dass wir irgendetwas Nennenswertes dafür tun müssen – und verhältnismäßig schnell geht es auch. Wenn wir die Wunde aber nicht in Ruhe lassen, kann sie nicht heilen. Wir riskieren dadurch sogar, dass es schlimmer wird, sie sich infiziert oder vernarbt.

Das Gleiche geschieht mit unserer Psyche, wie die Forschungsergebnisse von Wells und Matthews gezeigt haben. In der Phase nach einem unangenehmen oder schmerzlichen Ereignis wie einer Scheidung, einem Unfall oder einer Kündigung wollen unsere Gedanken sich natürlich nur damit beschäftigen. Das Ereignis taucht immer wieder in unserem Bewusstsein auf, in Form von Gedanken und Bildern, mehrmals am Tag. Es ist ganz natürlich, dass diese Gedanken negativ sind und von Schmerz, Trauer, Angst, Niedergeschlagenheit, Enttäuschung und vielleicht sogar Wut beherrscht werden. Unmittelbar nach dem Ereignis wird die Psyche bluten, brennen und wehtun – so wie das Knie nach dem Sturz, wenn die Haut abgeschabt ist. So wie das Knie von allein heilt, wenn wir die Wunde in Ruhe lassen und nicht an ihr rühren, wird auch unser Geist heilen, wenn wir vermeiden, dass die negativen Gefühle Raum gewinnen, indem wir grübeln. Gedanken, Bilder und Impulse streifen uns nur einen kurzen Augenblick lang, aber sie verschwinden auch wieder, wenn wir sie nicht festhalten, sie weder unterdrücken noch versuchen, sie zu bearbeiten. Dann sammeln sie sich auch nicht in unserem mentalen Rucksack an, sondern ziehen weiter wie Sandkörner, die durch ein Sieb rieseln.

Dieses neue Verständnis der menschlichen Psyche räumt auf mit der bisherigen Auffassung, woher eine Depression kommt. Denn wenn unsere Psyche also Selbstheilungskräfte hat, warum werden einige Menschen nach einer Lebenskrise depressiv und andere nicht?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Leseprobe aus dem Buch »Lebe mehr, grüble weniger« von Pia Callesen. Er spiegelt die Meinung der Autorin und nicht die der Redaktion wider. Mehr zur Metakognitiven Therapie lesen Sie hier.

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