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Diagnostik: Ratgeber Polyneuropathie und Restless Legs

Aufklärung und Entscheidungshilfen für Betroffene: Wie kann ich meine Polyneuropathie und Restless Legs verstehen, was kann ich selbst tun?
einzelne Nervenzelle, rechts Zellkörper und Dendriten

5.2 Stufendiagnostik

Bei der Stufendiagnostik folgt der Untersuchungsgang dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Seit jeher gilt für diagnostische Maßnahmen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es soll nicht bei jedem Patienten immer alles untersucht werden. Üblicherweise orientiert sich der Arzt am Schema der sogenannten Stufendiagnostik:

Am Anfang steht die Anamnese und vielleicht eine orientierende körperliche Untersuchung. Dadurch gewinnt der Arzt einen ersten Eindruck vom Patienten und den gesundheitlichen Problemen, die ihn in die Sprechstunde geführt haben. Was jetzt zunächst folgt, ist die Basisdiagnostik bei Polyneuropathie (PNP) oder Restless-Legs-Syndrom (RLS). Sie soll nur so weit in die Tiefe getrieben werden, wie es in Abwägung aller Umstände sinnvoll erscheint. Gegeneinander abzuwägen sind Aufwand, Patientenbelastung und Risiko der Untersuchung gegen ihren praktischen Nutzen. Dieser bemisst sich an der Beantwortung von vier Fragen (s. Übersicht):

Fragen an den diagnostischen Befund

  • Kann man der Krankheit einen Namen geben?
  • Lässt sich eine passende Therapie finden?
  • Welche Prognose kann man stellen, d. h. mit welchem Verlauf seiner Erkrankung muss der Patient rechnen?
  • Können möglicherweise gefährliche Krankheiten oder Belastungsfaktoren ausgeschlossen werden?

Soll die Diagnostik um jeden Preis die Ursache der PNP aufdecken?

Nicht selten sind der Patient oder sein Arzt der Meinung, es müsse unbedingt eine Ursache gefunden werden, damit die Krankheit behandelt werden kann. Auch hier gilt es, Augenmaß zu bewahren. Ohnehin kann bei vielen Patienten keine Ursache ihrer PNP gefunden werden (Kap. 4). Und selbst wenn man sie findet, sind die Möglichkeiten der Therapie überschaubar. Die Diagnostik sollte deshalb auch bezüglich der Ursachenfrage die Grundsätze der Stufendiagnostik beachten.

Für die rein symptomatische Schmerzbehandlung ist die Ursachenfrage nicht relevant.

5.3 Basisdiagnose bei PNP und RLS – Untersuchungsgang

5.3.1 Anamnese

Die Diagnose beginnt mit der Patientenbefragung, der Anamnese. 90% aller Informationen, die man für eine Diagnosestellung benötigt, stammen aus der Anamnese.

Die meisten Informationen zur Gewinnung einer Diagnose entnimmt der Arzt dem Anamnesegespräch.

Themen des Anamnesegespräches

  • Eine genaue Schilderung der Beschwerden; Klärung der Frage nach dem Wie und Wo und Wann
  • Wodurch die Krankheit möglicherweise ausgelöst oder verschlimmert wird (psychische Belastung, Nahrungsmittel, Wetter, Tageszeiten, Infekte)
  • Was lindert die Beschwerden (Bewegung oder Ruhe; Wärmen oder Kühlen)
  • Wann alles angefangen und wie es sich über Wochen, Monate, Jahre entwickelt hat
  • Wo und wieweit das Alltagsleben behindert ist durch die Erkrankung (Mobilität, Schlaf, Alltagsverrichtungen)
  • Ob bisher schon andere Ärzte oder Heilpraktiker konsultiert wurden
  • Frühere und gegenwärtige Erkrankungen
  • Erkrankungen (insbesondere solche des neurologischen Fachgebietes) der Eltern, Geschwister, Verwandten
  • Früher oder gegenwärtig eingenommene Arzneimittel
  • Chemische Substanzen, denen Sie in Beruf oder Freizeit ausgesetzt waren oder sind
  • Alltagsgewohnheiten, Ernährung, Genussmittel, Schlafen, Schwitzen, Ausscheidung usw. (die sogenannte vegetative Anamnese), bei jungen Frauen auch noch Besonderheiten im Verlauf des weiblichen Zyklus

Die Diagnose des RLS beruht in den allermeisten Fällen allein auf einer präzisen Beschwerdeschilderung des Patienten (Kap. 8).

5.3.2 Körperliche Untersuchung

Nach der allgemein-körperlichen Untersuchung folgt der neurologische Untersuchungsgang, u. a. mit der Stimmgabel, Geräten zur Sensibilitätsprüfung und dem Reflexhämmerchen.

Die körperliche Untersuchung beim Neurologen

  • Inaugenscheinnahme des Körpers (z. B. Muskelschwund, Fehlstellungen, Hautveränderungen)
  • Prüfung der Reflexe mit dem Reflexhämmerchen (z. B. Patellarsehne unter der Kniescheibe, Achillessehne zwischen Ferse und Wadenmuskel, Bizepssehne in der Ellenbeuge)
  • Prüfung der Sensibilität – getestet wird die Fähigkeit, spitze, stumpfe, kalte und warme Reize auf der Haut zu empfinden
  • Prüfung von Beweglichkeit und Kraft der Muskulatur (z. B. Fußheber)
  • Testung der Tiefensensibilität mit der Stimmgabel
  • Untersuchungen zu Bewegungskoordination, Gleichgewicht

5.3.3 Laboruntersuchungen

Das Basisprogramm bei unkomplizierter PNP umfasst Blutbild, Leber- und Nierenwerte, Eisen- und Ferritinspiegel, Entzündungsparameter, Blutzucker und weitere Stoffwechselwerte, Vitamin-B12-Spiegel und einen Test auf Paraproteine. Bei Verdacht auf eine Autoimmunerkrankung kommen verschiedene Autoantikörpertests hinzu, ferner Laborwerte zum Ausschluss einer muskulären Erkrankung, vor allem, wenn Lähmungen im Vordergrund der Erkrankung stehen.

5.3.4 Apparative Untersuchungen: Neurographie, Myographie

Nerven leiten elektrischen Strom in Form von Spannungspulsen. Auch die Erregung eines Muskels ist mit einer messbaren elektrischen Aktivität verbunden. Die Fähigkeit zur Erzeugung und Weiterleitung von Spannungspulsen ist beim geschädigten Nerv beeinträchtigt. Neurographie und Myographie (»neuro … « = Nerv, »myo … « = Muskel, » … graphie« = Schreiben) sind Verfahren, um die nach Beschwerdebild und Untersuchung vermutete Nervenstörung messtechnisch genauer zu charakterisieren. Die Neuromyographie ist eine anspruchsvolle apparative Untersuchungsmethode, die der Neurologe in der Regel einem gut eingearbeiteten Team von Mitarbeitern überlässt.

Die Neuromyographie ist eine anspruchsvolle apparative Untersuchungsmethode.

Untersucht werden verschiedene Nervenbahnen in Armen und Beinen. Dabei werden Nadel- oder Klebeelektroden über dem zu untersuchenden Nerv oder einem Muskel angebracht. Weil die körpereigenen Ströme zu schwach sind für genaue Messungen, wird der Nerv über Reizelektroden durch einen Spannungsstoß elektrisch stimuliert. Messelektroden, die in einem definierten Abstand zu den Reizelektroden über dem gleichen Nerv angebracht sind, registrieren die ankommenden Spannungssignale.

Ausgewertet wird die Zeitverzögerung der von den verschiedenen Reizelektroden ausgehenden Signale über eine Differenzbildung. Registriert wird im Weiteren die Stärke der ankommenden Signale. Damit erhält der Neurologe Aufschluss über Leitgeschwindigkeit und Leitungskapazität der untersuchten Nervenstruktur und kann damit eine Aussage machen, ob eher die isolierende Myelinschicht angegriffen ist (Leitgeschwindigkeit vermindert), oder ob leitende Axone abgebaut sind (Signalstärke abgeschwächt).

Zusammen mit einer Anzahl weiterer Parameter, die neurographisch erfasst werden, lassen sich auf dieser Ebene der Untersuchung u. a. folgende in der Übersicht zusammengefassten Fragen beantworten:

Fragen, die die Neuromyographie beantworten soll

  • Liegt eine Polyneuropathie vor?
  • Welche Nerven sind betroffen und welche Abschnitte dieser Nerven?
  • Wie groß ist das Ausmaß der Schädigung?
  • Betrifft der Abbauprozess eher das Axon oder die Myelinscheide?
  • Gibt es Hinweise für eine Muskelerkrankung?

Muss die Neurographie sein?

Die Neurographie kann durch das Einstechen der Elektroden und die leichten Stromstöße durchaus mit unangenehmen und schmerzhaften Empfindungen verbunden sein. Manche Patienten fragen uns deshalb, ob denn eine solche Untersuchung notwendig sei.

Unsere Antwort Wenn sich für einen erfahrenen Neurologen aus Beschwerdeschilderung und der körperlichen Untersuchung eine klare Diagnose ergibt, wenn zudem ein gefährlicher Verlauf und eine behandlungswürdige Grunderkrankung ausgeschlossen sind, kann die Frage nach den therapeutischen Konsequenzen einer Neurographie das Gespräch zwischen Arzt und Patient durchaus beleben.

Neuromyographie ist sinnvoll zur Sicherung der Diagnose.

Der Patient möge aber zweierlei bedenken: Wir heutigen Menschen, Ärzte und Patienten, haben ein merkwürdiges Bedürfnis, das, was nach Beschwerdeschilderung und körperlicher Untersuchung klar zu Tage liegt, durch einen »objektiven Befund«, einen Messwert, bestätigt zu sehen. Überdies sind die Gebührenordnungen der Ärzte so beschaffen, dass die Zuwendung, das Gespräch mit den Patienten unzureichend honoriert wird. Gerade der engagierte Arzt ist auf die technischen Leistungen angewiesen, um seinen Einsatz honoriert zu bekommen.

In der weitaus größten Zahl der Fälle ist die diagnostische Information, die aus diesem Standarduntersuchungsgang gewonnen wird, ausreichend, um Empfehlungen zur Therapie und Prognosen zum weiteren Verlauf der Krankheit abgeben zu können.

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