Leseprobe »Dialog mit dem Drachen«: Das Ende der Geschichte ist Chinas Anfang

»Was wir erleben, ist möglicherweise nicht nur das Ende des Kalten Krieges oder einer bestimmten Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solcher: das heißt, der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als finale menschliche Regierungsform.«
Francis Fukuyama, 1989
Fukuyama hatte unrecht. History is back. Im Frühjahr 2022 war ich zu einem Workshop bei einem Thinktank in New York eingeladen. Der Teilnehmerkreis: transatlantisch. Das Thema: »30 Jahre ›Ende der Geschichte‹ – Die Rückkehr des Westens?« Als ich im Freundes- und Kolleg:innenkreis von dem Workshop erzählte, waren die Reaktionen höchst gemischt. Die einen fragten, »Ach, ist er etwa wieder zurück?«, die anderen, »War er denn jemals weg?«. Abhängig war die Reaktion davon, inwieweit sich die Leute, vor allem beruflich, mit China oder »dem Rest« der Welt, also dem Nicht-Westen, befassten. Diejenigen, die es taten, zählten überwiegend zum ersteren Lager. Ich auch.
Als Francis Fukuyama 1989 seinen Artikel über »Das Ende der Geschichte « schrieb, machte sich im Westen gerade die Euphorie über das Ende des Kalten Krieges breit. Man glaubte, die Demokratien hätten ein für alle Mal gewonnen. Autokratien waren gefallen, waren dabei zu fallen oder würden fallen. Ganz sicher. Bald. Die ehemaligen Ostblockstaaten wurden demokratisch. Die friedliche Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik endete mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 31. Dezember 1991 zerfiel die Sowjetunion. Auch China, da war man sich ganz sicher, würde demokratisch werden. Selbst die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 tat dieser Hoffnung kaum Abbruch. Zwar belegte der Westen China nach dem »Tiananmen-Massaker« zwischenzeitlich mit Sanktionen, doch dann unternahm Deng Xiaoping Ende Januar 1992 seine Tour nach Südchina – bekannt als Dengs »Südtour « – und machte klar, dass China die »Reform- und Öffnungspolitik «, die nach Tiananmen innerhalb der chinesischen Führung infrage stand, fortsetzen wird. Chinas rasantes Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Chancen für westliche Unternehmen legten einen Schleier über den 4. Juni und weckten die Hoffnung, mehr noch, die Überzeugung, dass China mit mehr Wirtschaftswachstum und Öffnung »uns« schon irgendwann gleich werden würde. Die Kommunistische Partei Chinas würde scheitern und China würde, wenn schon keine Demokratie nach westlichem Vorbild, dann doch zumindest so etwas wie ein großes Singapur werden.
30 Jahre später ist die Geschichte, die Fukuyama 1992 in seinem aus dem Artikel entstandenen Buch »The End of History« and the Last Man für beendet erklärt hatte, wieder zurück. In Europa herrscht Krieg. Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen. Der russische Präsident Wladimir Putin fühlte sich von der NATO umzingelt und bedroht und warf dem frei gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – wohlgemerkt, einem Juden! – vor, ein Nazi zu sein und die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine zu unterdrücken. In Russland selbst herrscht seit Kriegsbeginn Stalinismus 2.0. Für einen kriegskritischen Social-Media-Post drohen fünf Jahre Gefängnis.
Russland steht damit nicht alleine, weltweit weist die Entwicklung in eine ähnliche Richtung, autoritäre Regime erleben eine Renaissance: Die Zahl der liberalen Demokratien ist von einem Hochstand von 44 im Jahr 2009 auf 32 im Jahr 2022 gesunken. 5,6 Milliarden Menschen, also 72 Prozent der Weltbevölkerung, lebten 2022 in Autokratien. Damit ist die Welt auf den Stand von 1986 zurückgefallen.
Und der angeblich »mächtigste Mann der Welt«? Ist ein Autokrat. So bezeichnen zumindest die Journalisten Stefan Aust und Adrian Geiges in ihrem gleichnamigen Buch Xi Jinping, seit 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und seit 2013 auch Chinas Staatschef. Der bedeutende Sinologe Geremie R. Barmé betitelt Xi wegen seiner Machtfülle als »Chairman of Everything«.
Seit Xis Machtübernahme hat China einen radikalen Außenpolitikwandel vollzogen. Xi machte Schluss mit der von Deng Xiaoping begründeten und von dessen Nachfolgern weitergetragenen defensiven Außenpolitik und wandte sich einer proaktiven Großmachtdiplomatie zu. Die sichtbarste Manifestation davon ist die 2013 verkündete Neue- Seidenstraße-Initiative, auch bekannt unter der englischen Bezeichnung Belt and Road Initiative (BRI). Ursprünglich dazu gedacht, Chinas Beziehungen zu den eigenen Nachbarn zu verbessern, wurde die Initiative schnell zum weltweit größten Infrastruktur- und Handelsprojekt. Sie umfasst nahezu alles: Finanzen, Infrastruktur, Innovation, Handel, Transport, Nachhaltigkeit und interkulturelle Beziehungen. Mehr noch, Peking präsentierte die BRI als einen alternativen und besseren Multilateralismus chinesischer Prägung, einen Gegenentwurf zum bestehenden internationalen System, das seiner Ansicht nach nicht fair und gerecht ist, sondern vor allem die Eigeninteressen einer bestimmten Gruppe von Staaten, nämlich des Westens, schützt. Auch wirtschaftlich will China zu den stärksten Mächten der Welt zählen. Das 2015 ins Leben gerufene milliardenstarke Investitionsprogramm »Made in China 2025« soll den Wandel von der verlängerten Werkbank internationaler Konzerne zu einer Technologieführerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen sicherstellen. Es war so erfolgreich, dass die USA am 7. Oktober 2022 verkündeten, keine hochwertigen Chips mehr nach China zu liefern und zudem verhindern zu wollen, dass es andere Länder tun. Bereits im März 2019 hatte die EU-Kommission in ihrem »Strategic Outlook« erklärt, dass sie China nicht länger als ein Entwicklungsland, sondern als einen globalen Akteur und eine führende Technologiemacht betrachtet. China sei nunmehr gleichermaßen ein Kooperationspartner bei gemeinsamen (globalen) Zielen, ein Wettbewerber im Kampf um technologische Führerschaft und mit seinem politischen System ein systemischer Rivale.
Xi Jinping selbst griff Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« bei mehreren Gelegenheiten auf. In einer Rede zum 95. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei 2016 erklärte er, dass »die Geschichte nicht zu Ende ist und gar nicht enden kann«, die Partei und das chinesische Volk hätten vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, chinesische Lösungen für die Herausforderungen der Menschheit und ein besseres gesellschaftliches System zu finden. Im Wettbewerb mit dem Westen positioniert China also sein Modell Entwicklungsländern gegenüber als das effizientere und für sie besser geeignete. In der ersten politischen Rede seiner beispiellosen dritten Amtszeit im Februar 2023 erklärte Xi – vor allem an den Globalen Süden gerichtet –, die »Modernisierung chinesischer Prägung« habe mit dem Mythos gebrochen, dass Modernisierung zwangsweise »Verwestlichung« bedeuten müsse, und zeige Entwicklungsländern einen alternativen Pfad zur Modernisierung. »Alternativ« bedeutet hier: Seht her, Modernisierung ist auch ohne Demokratie möglich!
»The Land That Failed to Fail«
Dabei hätte es China, so wie es heute existiert, eigentlich gar nicht geben dürfen. Das Pekinger Regime hätte scheitern müssen, zumindest, wenn man allen gängigen Annahmen der vergleichenden Politikforschung glaubt. Demnach könnten Markwirtschaft und Autoritarismus nicht dauerhaft nebeneinander bestehen. Wirtschaftliche Öffnung und Strukturreform zögen zwangsläufig auch politische Reformen nach sich – das war die Lehre aus den Systemumbrüchen in den zentral- und osteuropäischen Staaten der 1980er Jahre. Eine wachsende Mittelschicht, so die westlich geprägte Theorie, würde irgendwann demokratischen Wandel einfordern. Einkommensdisparität und zunehmende Ungleichheit würden zur Destabilisierung und letztendlich zum Fall autoritärer Regime führen. Hierarchisch organisierte Zentralstaaten seien nicht in der Lage, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren. Das gelte erst recht für leninistische Staatsparteien, denen unterstellt wird, nicht lern- und anpassungsfähig zu sein. All dies sind Schlüsse, die man ebenfalls aus dem Zusammenbruch der leninistischen Staatsparteien in Osteuropa gezogen hat. Dann wären da noch Kultur und Tradition – allem voran der Konfuzianismus –, deren kollektivistische Ideale für individuelle Kreativität und Innovation nicht förderlich seien.
Nichts davon traf und trifft auf China zu. Trotz Öffnung zum Weltmarkt und Wildwest-Kapitalismus, der den US-amerikanischen gerne mal in den Schatten stellt, kam es nicht zu tiefgreifenden politisch-institutionellen Reformen. Die wachsende urbane Mittelschicht fordert trotz mehr Einkommen, Zugang zu Bildung sowie internationalen Reise- und Studienerfahrungen keine politische Beteiligung. Stattdessen wendet sie sich Konsum und Einkommensmaximierung zu. Einkommensdisparitäten und wachsende Ungleichheit waren lange quasi staatliches Programm. Deng Xiaoping erklärte zu Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978, dass erst einmal die Küstenprovinzen reich werden sollten. Das Hukou-System, eine Wohnsitzregistrierung, die den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und allen anderen öffentlichen Dienstleistungen regelt, zementierte die Ungleichheit noch mehr. Einst eingeführt unter Mao, um die Landbevölkerung davon abzuhalten, in die Städte zu ziehen, steuert es noch immer den Zugang zu sämtlichen öffentlichen und sozialen Leistungen. Den Hukou zu wechseln ist nach wie vor fast unmöglich. Während also die Wanderarbeiter:innen zum Geldverdienen in die Küstenstädte pilgerten, blieben ihnen die Zugänge zur städtischen Infrastruktur verwehrt. Sie ließen ihre Kinder daher gleich bei den Großeltern in den Dörfern zurück. Und doch, obwohl China bereits Ende der 1990er Jahre die in der Forschung als kritisch betrachteten Schwellen bei der Ungleichheit überschritten hatte, kam es nicht zu gesellschaftlicher Destabilisierung und sozialen Unruhen. Die Kommunistische Partei Chinas hat trotz eines hierarchisch und zentralistisch organisierten Partei- und Staatssystems erstaunliche Agilität und Flexibilität bewiesen. Sie zeigte sich höchst anpassungs- und lernfähig, egal ob bei Fragen wirtschaftlicher Globalisierung, Herausforderungen der Urbanisierung oder beim Ausbau von Informationstechnologien. Und schließlich – Konfuzianismus hin oder her –, niemand, der schon einmal in China war, wird den Chines:innen unterstellen, nicht kreativ zu sein. Die Tatsache, dass die EU gerade Strafzölle erhebt, um sich vor der Konkurrenz durch chinesische E-Auto-Hersteller zu schützen, die eben nicht nur wegen des Preises, sondern auch wegen der Ausstattung attraktiv sind, ist ein deutlicher Beweis dafür.
China ist das, was als »schwarzer Schwan« bezeichnet wird, ein höchst unwahrscheinliches Ereignis, das es eigentlich nicht geben sollte. Beziehungsweise, um hier den Chinawissenschaftler Sebastian Heilmann zu zitieren: ein »roter Schwan«, dem es – anders als den für die obigen Annahmen modellbildenden Staaten Osteuropas – gelungen ist, durch Experimentierpolitik (policy experimentation) und Policy-Innovationen auf eine aus der Perspektive der vergleichenden Politikforschung völlig unorthodoxe Weise wirtschaftlich aufzusteigen, ohne eine politische Liberalisierung einzuleiten. »Der Westen war sich sicher, dass der chinesische Ansatz nicht funktionieren werde, man müsse nur lange genug warten. Er wartet immer noch.« Entgegen allen Hoffnungen, die man in den frühen 1990ern im Westen hegte, und zur großen allgemeinen Desillusionierung wurde China ihm nicht gleich. »China is the land that failed to fail«, schrieb die New York Times treffend 2018. Chinas Scheitern ist gescheitert.
Chinas Ende der Geschichte war 1839
In Europa war das vermeintliche Ende der Geschichte 1989, in China 150 Jahre früher. Im Jahr 1839 griffen britische Marineschiffe das chinesische Kaiserreich im ersten Opiumkrieg an – und mit der Niederlage 1842 brach auch die chinesische Welt zusammen.
Bis zur Konfrontation mit dem Westen begriff sich China als das Reich der Mitte, das »alles unter dem Himmel« umfasste. Es definierte sich nicht durch territoriale Grenzen, sondern durch die Strahlkraft der chinesischen Zivilisation. Wer sich ihr anschloss oder unterordnete, gehörte zum Reich beziehungsweise war Teil der Welt – wer nicht, war eben ein »Barbar«. Ein Erbe, das bis heute nachwirkt. Laut dem Sinologen Lucian Pye ist China eigentlich »eine Zivilisation, die vorgibt, ein Nationalstaat zu sein«.
Unter der Qing-Dynastie (1644–1911), der letzten der 25 Dynastien, die über das chinesische Reich herrschten, erreichte China nicht nur die größte territoriale Ausdehnung, es war auch die größte Volkswirtschaft der Welt. 1820 produzierte China etwa ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung. Das war damals übrigens kein neues Phänomen. Laut dem Economist gehörte China seit dem Jahr 1 n. Chr., gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Kaufkraftparität, fast ununterbrochen bis ins frühe 20. Jahrhundert zu den drei größten Volkswirtschaften der Welt. Das heißt, die Zeitspanne, in der China nicht zu den Top drei zählte, betrug nur etwa 50 Jahre des 20. Jahrhunderts. Heute ist es nach nominalem BIP die zweitgrößte Volkswirtschaft hinter den USA und seit 2017, gemessen an der Kaufkraftparität, sogar die größte der Welt. Diese historischen Dimensionen sind entscheidend, um zu verstehen, warum China seine wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre nicht als Aufstieg, sondern als Rückkehr begreift.
Wer 1820 mit dem chinesischen Kaiserreich Handel treiben wollte, sollte als Tributpflichtiger auftreten und sich den Regeln Chinas unterwerfen. Der Hafen von Guangzhou (Kanton) war als einziger für ausländische Händler geöffnet. Diese durften nur mit 13 zugelassenen Handelsagenturen Geschäfte machen. Die örtlichen Beamten verlangten hohe »Schutzgebühren« für ihre Dienste. Handel treiben durften die Ausländer lediglich im Sommer und Herbst. Den Rest des Jahres mussten sie sich nach Macau zurückziehen. Chinesisch lernen war für Ausländer verboten, was die Verhandlungsposition der ausländischen Händler noch weiter verschlechterte.
So brach der erste Opiumkrieg, wenig überraschend, über Handelsstreitigkeiten aus. Großbritannien wollte sich nicht auf die chinesischen Vorstellungen einlassen. Es forderte freien Handel und offene Märkte, vor allem für sein in Indien angebautes Opium, um damit seine Handelsbilanz mit China auszugleichen und nicht länger Gold und Silber für Tee, Seide und Porzellan zahlen zu müssen. China mit seinem autarken Wirtschaftssystem wollte beides nicht. Nachdem im Juni 1839 der kaiserliche Kommissar Lin Zexu das gesamte britische Opium am Strand von Humen in Kanton hatte vernichten lassen und von der britischen Königin Viktoria in einem Brief das Ende des Opiumhandels gefordert hatte, griff die technologisch hoch überlegene britische Marine mehrere chinesische Küstenstädte an. 1842 kapitulierte China, als britische Truppen vor Nanjing standen. Der Vertrag von Nanjing zwang China, Häfen zu öffnen, extraterritoriale Rechte zu gewähren und Hongkong abzutreten. Der zweite Opiumkrieg (1856–1860) folgte und endete mit der Eroberung Pekings, der Zerstörung des kaiserlichen Sommerpalasts Yuanmingyuan und weiteren Gebietsverlusten. Russland, das als Vermittler auftrat, annektierte Teile des Nordostens. Schließlich verlor China auch noch gegen den ehemaligen Tributstaat Japan im ersten Sino-Japanischen Krieg (1894–1895) und musste in dem Vertrag von Shimonoseki Taiwan als Kolonie an Japan abtreten.
Bis heute ist das »Jahrhundert der Demütigung«, das mit dem Überfall Großbritanniens 1839 begann und mit der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 endete, ein integraler Baustein für die Konstruktion von Chinas nationaler Identität. Der Slogan »Vergesst niemals die nationale Demütigung« findet sich in Schulbüchern und auf Schultafeln ebenso wie als Aufkleber auf Autohecks. Es gibt Romane, Museen, Lieder und Parks, die dem Gedenken daran gewidmet sind. Als nationales Trauma ist es für Chinas Selbstverständnis und Weltbild ähnlich identitätsstiftend wie 9/11 für die USA.
Während im Westen dieser Diskurs meist eher beiläufig erwähnt wird als eine Opferhaltung, die China historisch überwinden musste, betonen chinesische Quellen bis heute, dass der Westen Chinas besondere Leiderfahrung und seine Rolle darin verstehen müsse. Diese tief verwurzelte historische Erinnerung bedingt, dass westlicher Druck auf Peking oft kontraproduktiv ist – und auch in der chinesischen Bevölkerung kritisch gesehen wird. Zwar kritisieren viele Chines:innen selbst Korruption und Missstände in der Regierung, westliche Kritik lehnen sie jedoch häufig aus Prinzip als Einmischung in innere Angelegenheiten ab.
Die Lehren aus dem Untergang
Warum war China trotz seiner geografischen und wirtschaftlichen Größe Großbritannien und anderen westlichen Mächten technologisch so deutlich unterlegen? Warum fiel es, trotz seiner »vier großen Erfindungen« – Papier, Kompass, Schießpulver und Druck – und obwohl es bis ins Mittelalter auf zahlreichen Feldern – wie Mathematik, Astronomie, Medizin, Chemie, Metallurgie und Landwirtschaft – lange Zeit technologisch führend war, letztlich hinter den Westen zurück? Das ist eine der zentralen Fragen der westlichen China-Forschung, auch bekannt als das »Needham-Rätsel«, benannt nach dem britischen Historiker und Sinologen Joseph Needham, der sie ab Mitte des 20. Jahrhunderts in dem von ihm initiierten vielbändigen Monumentalwerk Science and Civilisation in China ausformuliert hat.
Mark Elvin, wie Needham britischer Historiker und Sinologe, erklärt diesen Rückstand mit seiner Theorie des »high-level equilibrium trap« – der »Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau«. China hatte im vorindustriellen Zeitalter einen hohen Gleichgewichtspunkt erreicht, bei dem Angebot und Nachfrage im Einklang standen. Die Produktionsmethoden und Handelsnetze des späten Kaiserreichs waren so effizient, die Arbeitskräfte so günstig, dass Investitionen in kapitalintensive Technologien zur Steigerung der Effizienz kaum lohnend erschienen. Zugleich vollzogen Chinas Intellektuelle einen Paradigmenwechsel: Sie wandten sich vom Daoismus dem Konfuzianismus zu. Die Beschäftigung mit Naturwissenschaften und Mathematik, die im Daoismus als Pfade zur Erforschung der Natur des Universums verstanden wurden, trat hinter die Studien der konfuzianischen Sozialphilosophie und Moral zurück. Dies, so Elvin, habe ein intellektuelles Klima geschaffen, das wenig förderlich war für technische Innovationen.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Dialog mit dem Drachen« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.
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