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Leseprobe »Das kleine Handbuch kognitiver Irrtümer«: Trügerische Erinnerung

Menschliche Erinnerung ist immer subjektiv, denn Informationen werden im Gehirn zusammen mit Gefühlen abgelegt, und nie in der Lage, die Vergangenheit korrekt abzubilden. Eine Leseprobe
Verschiedene Emotionen

Nun wollen wir uns dem Thema »Erinnerung« zuwenden und die damit verbundenen kognitiven Schwachstellen betrachten. Vorweg dazu gleich eine ernüchternde Feststellung:

  • Menschliche Erinnerung ist immer subjektiv und nie in der Lage, die Vergangenheit korrekt abzubilden.

Von einigen trügerischen Erinnerungen haben Sie bereits gelesen: etwa dem Pollyanna-Prinzip, wonach Menschen üblicherweise angenehme Dinge und Ereignisse effizienter und richtiger verarbeiten als unangenehme oder neutrale. Die Rosige-Vergangenheit-Verzerrung, die diese unverhältnismäßig positiver beurteilt als die Gegenwart, lässt sich teilweise auf das Phänomen des Declinism zurückführen (in freier Übersetzung »Auf dem absteigenden Ast«): Darunter versteht man den Glauben, dass es mit einer Gesellschaft oder Institution abwärts geht. Die so Denkenden sehen dementsprechend die Vergangenheit positiver und die Zukunft negativer als angebracht. Declinism wird in Zusammenhang mit vielen Zivilisationen in fortgeschrittenem Entwicklungszustand diskutiert, vom Zerfall des Römischen Reichs über Oswald Spenglers Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes bis hin zur Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft (Wikipedia 2021a).

Zunächst soll die Aufmerksamkeit einem in seiner Bedeutung oft verkannten Satzzeichen gelten.

Beispiel: Intention und Ausrufezeichen

Den Intentionality-Bias(Intentionality Bias) genannten Trugschluss könnte man mit »Irrtum über zugrunde liegende Absicht« übersetzen. Darunter wird die Tendenz verstanden, menschliche Aktionen so zu beurteilen, als ob sie bewusst und nicht zufällig erfolgen (Moore und Pope 2014). Die Wirklichkeit sieht in vielen Fällen allerdings anders aus, und wir befinden uns auf der falschen Spur, wenn wir die Motivation unserer Mitmenschen einzuschätzen versuchen. Als Verhandler wird man diesen Effekt bewusst auszunutzen versuchen. Eine wichtige Regel in professionellen Verhandlungen (vgl. Abschn. 8.3) lautet daher: »Lassen Sie Ihr Gegenüber solange wie möglich über Ihre wahren Ziele im Unklaren.«

Doch auch zufällig ausgesandte Signale können in die Irre leiten. Dies lässt mich unwillkürlich an die Verwendung von Ausrufezeichen denken. Ich habe vor langer Zeit gelesen, dass ein guter Roman mit nur wenigen dieser Satzzeichen auskommt. Viele Texte – und dabei sind vor allem individuelle Nachrichten wie E-Mails, Blogs usw. zu nennen – sind leider von einer Häufung geziert. Dabei wird meist der Sinn der Übung verkannt, und die Motivation des Schreibers lässt sich leicht fehldeuten.

Wofür steht das Ausrufezeichen? Es wird korrekterweise verwendet, wenn der Absender zeigen will: Achtung, hier kommt etwas Unerwartetes. Wie das StVO-Warnschild 101 Achtung, Gefahrenstelle (Abb. 3.1, in dieser Leseprobe nicht enzhalten). Falls also der Chef auf einen Vorschlag per E-Mail mit »Gut!« antwortet, bedeutet das genau genommen, dass er eigentlich nichts Gutes erwartet hat – und jetzt überrascht ist, dass sein Mitarbeiter einen brauchbaren Input geliefert hat.

3.1 Was die Erinnerung mit uns anstellt

Menschen sind zwar in der Lage, sich an Begebenheiten bis in ein Alter von drei bis vier Jahren zurückzuerinnern, doch sind Kindheits- und Jugenderinnerungen immer so korrekt, wie wir sie vor Augen zu sehen glauben? Konstruieren wir uns vielleicht aus später gesehenen Fotos oder gehörten Erzählungen ein Narrativ, das mit einer echten Situation gleichgesetzt wird? Waren einzelne Phasen – oder sogar die Gesamtsituation – wirklich so gut (oder so schlecht), wie wir das heute sehen? Inzwischen hat die Wissenschaft nachgewiesen, dass man sich etwa an das Verhältnis zu den Eltern retrospektiv nur recht verzerrt erinnert. Es sind vielmehr die aktuellen Befindlichkeiten und Zustände, die die Interpretation der Vergangenheit maßgeblich prägen. Depressive bzw. euphorische Gegenwartsphasen haben einen sehr prägnanten Einfluss auf die Interpretation der Vergangenheit.

Ein anderes Beispiel ist durch die in Abschn. 1.4 beschriebene Verfügbarkeitsverzerrung bedingt. Wir denken bei »Winter« und »Weihnachten« automatisch an »Schnee« und schreiben die im Flachland oft ausbleibende weiße Pracht der Klimaerwärmung zu. Die ist zwar Fakt, jedoch nicht der einzige Grund für Heiligabend im leichten Pullover: Vielmehr wird unser Gedächtnis Opfer leicht verfügbarer Beispiele, nämlich den auch früher seltenen Christfesten mit geschlossener Schneedecke.

Warum gibt es andererseits keine langen warmen, trockenen Sommer mehr wie damals? Die gab es früher noch seltener. Manch Älterer erinnert sich an Rudi Carrells Schlager »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?«, der 1975 erschien und in den Folgejahren bei jedem verregneten Sommer wieder gespielt wurde. Bei anderen Wetterphänomene wie den Eisheiligen verhält es sich ähnlich: Eine statistische Häufung von Kältewellen vor und um den 15. Mai wurde und wird von Meteorologen nicht beobachtet. Vielmehr nimmt man das Auftreten von Tageskälte oder Frostnächten an Kalter Sophie & Co. meist bewusst wahr, während bei sommerlichen Temperaturen in dieser Woche kaum ein Mensch an die Eisheiligen denkt. Vor der gregorianischen Kalenderreform im Jahre 1582 lagen die Eisheiligen übrigens erst Ende Mai. Man geht heute davon aus, dass der Effekt primär dazu diente, die Bauern daran zu erinnern, dass bis Ende Mai – also zur Blütezeit vor allem vieler Obstgehölze – noch schädliche Nachtfröste möglich sind.

  • Tipp: Klimaerwärmung hin oder her – rechnen Sie auch als Hobbygärtner bis Anfang Juni mit der Möglichkeit von Nachfrösten.

Man unterscheidet in Zusammenhang mit inkorrekter Erinnerung zwei verschiedene Phänomene:

  • Erinnerungsverfälschung bedeutet unabsichtliches Verfälschen bestehender eigener Gedächtnisinhalte. Sie kann als Folge einer Suggestion oder Hypnose wie auch spontan (ohne äußere Beeinflussung) unter Stress oder bei Erschöpfungszuständen auftreten. Ein Beispiel für erinnerungsverfälschende Effekte in Psychotherapien ist das Priming (Wikipedia 2021c).
  • Falsche Erinnerung (Pseudoerinnerung) bezeichnet die fantasierende Einbildung neuer eigener Gedächtnisinhalte, persönliche Erinnerungen, die nicht auf ein real erlebtes Ereignis zurückgeführt werden können. Es handelt sich dabei also um Erinnerungsfälschung und nicht um Erinnerungsverfälschung: meist um erfolgreich eingeredete, aber nicht erlebte Ereignisse (Wikipedia 2021d).

Beide Vorgänge sind Selbsttäuschungen und keine bewussten Lügen bzw. Falschaussagen, da die sich erinnernde Person selbst ihre Aussage für richtig hält. Sie sind Gegenstand psychologischer und neurophysiologischer Forschung und haben große Bedeutung in der Psychiatrie und vor Gericht, wo Aussagen auf Erinnerungsverfälschung oder falsche Erinnerung überprüft werden.

Für Erinnerungsverfälschungen lässt sich eine ganze Reihe kognitiver Effekte als mögliche Begründung anführen, wie in Abschn. 3.2 gezeigt wird. Innerhalb der zweiten Kategorie »falsche Erinnerung« kennt man hingegen im Wesentlichen nur ein Phänomen: das False-Memory-Syndrom (False Memory Syndrome, kurz FMS), das »Syndrom falschen Erinnerns«. Etwas muss nicht zwingend auch wahr sein, selbst wenn man davon zutiefst überzeugt ist. Ein Beispiel dafür ist das Phänomen von Déjà-vu-Erlebnissen, die durch eine vermeintliche Vertrautheit oder Wiedererkennung von Personen oder Situationen gekennzeichnet sind. Im Deutschen wird dieser Effekt inkorrekt als »Erinnerungsverfälschung« bezeichnet. Allerdings wird unter Letzterem in der Fachsprache wiederum Memory Implantation verstanden: eine Technik zur Untersuchung menschlichen Erinnerungsvermögens, bei der suggeriert wird, dass sich die Betreffenden an ein Ereignis erinnern, das nie stattgefunden hat (Loftus und Pickrell 1995).

Beispiel: Unglaubwürdige Zeugen

FMS ist untrennbar mit der US-amerikanischen Kognitionspsychologin Elizabeth Loftus verbunden, die Mitglied der False Memory Syndrome Foundation ist. Sie beschäftigte sich mit dem menschlichen Gedächtnis und stellte in den 1970er-Jahren fest, dass sich Augenzeugen oft falsch erinnern, was deren Glaubwürdigkeit vor Gericht zweifelhaft erscheinen lässt (Wikipedia 2021b und dort aufgeführte Quellen).

In einem trotz der geringen Anzahl an Teilnehmern (45) viel zitierten Versuch (Loftus und Palmer 1974) zeigte sie ihren Probanden einen Film von einem Autounfall. Danach fragte sie, wie schnell die Wagen wohl gewesen seien, als sie einander »touchierten«, »kollidierten« oder »ineinander krachten«. Ihre exakte Wortwahl beeinflusste durch das bewirkte Priming den mittleren Schätzwert für die Geschwindigkeit in statistisch eindeutiger Weise: je martialischer der Ausdruck, desto höher das geschätzte Tempo.

  • Smashed (»zertrümmert«) → 40,8 mph (Meilen pro Stunde)
  • Collided (»aufeinandergeprallt«) → 39,3 mph
  • Bumped (»zusammengestoßen«) → 38,1 mph
  • Hit (»angestoßen«) → 34,0 mph
  • Contacted (»berührt«) → 31,8 mph

Von Elizabeth Loftus sind einige Zitate überliefert, die FMS auf den Punkt bringen:

  • »Die menschliche Erinnerung arbeitet nicht wie ein Videogerät oder eine Filmkamera.«
  • »Im wirklichen Leben genauso wie in Versuchen glauben Menschen manchmal Dinge, die nie passiert sind.«

Während FMS nicht als psychiatrische Krankheit aufgefasst wird, verhält sich dies anders bei der Paramnesie(Paramnesia), einem Sammelbegriff für mehrere darunter aufgeführte Leiden. Paramnesie bezeichnet eine Gedächtnisstörung, bei der die betroffene Person Erinnerungen an Ereignisse hat, die nicht stattgefunden haben. Im Extremfall spricht man von Wahn (Delusion) als Name für einen seelischen Zustand, der von starker Ichbezogenheit und falschen Urteilen über die Realität geprägt ist und so zu unkorrigierbaren Überzeugungen führt, die das Leben der betroffenen Person vollständig bestimmen können.

3.2 Erinnerungsverfälschung

Viel häufiger als mit komplett falscher Erinnerung sehen wir uns mit einer teilweise verzerrten »verfälschten« Erinnerung konfrontiert. Gab es die besonders von Älteren oft erwähnte »gute alte Zeit« wirklich? Dies ist in der Psychologie bekannt als Positivitätseffekt(Positivity Effect): Ältere Personen bevorzugen positive Erinnerungen in ihrem Gedächtnis. (Wikipedia 2021g und dort zitierte Quellen) Doch die Negativitätsverzerrung(Negativity Bias) ist ebenfalls erforscht: Negative Erinnerungen fallen jemandem leichter wieder ein als positive.

Und je älter Menschen werden – ab einem Lebensalter von etwa 40 –, desto mehr erinnern sie sich an Begebenheiten aus Jugend und jungem Erwachsenenleben (Reminiscence Bump, »Erinnerungsbuckel«). Der Begriff Bump (»Erhebung« oder auch »Bodenwelle«) bezieht sich auf ein lokales Maximum bei 15–25 Jahren in einer Auftragung der Anzahl der Erinnerungen als Funktion des Alters, in dem sie erlebt wurden (Abb. 3.2, in dieser Leseprobe nicht enthalten) (Jansari und Parkin 1996). Doch waren unsere Jugendjahre wirklich so schön (oder so schlecht), wie wir sie in Erinnerung haben? Hat mich mein letzter Vorgesetzter bewusst unter Druck gesetzt und anschließend hängen lassen? War ich bei meinen Mitarbeitern und Kollegen oder in der Freizeitmannschaft so beliebt, wie ich es in Erinnerung habe? Die passende Antwort auf all diese Fragen könnte lauten: bedingt.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Das kleine Handbuch kognitiver Irrtümer« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.

Literatur

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