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Leseprobe »Das kleine Handbuch kognitiver Irrtümer«: Beeinflussung durch Emotionen

Das Kapitel behandelt die Auswirkungen von Emotionen auf Entscheidungsprozesse und kognitive Verzerrungen, die durch emotionale Einflüsse entstehen. Eine Leseprobe
Verschiedene Emotionen

Die meisten Entscheidungsprozesse laufen unbewusst ab, und der Mensch lässt sich von seinen Gefühlen leiten. Zeitdruck, Informationsüberlastung, hohe Komplexität, Routine oder Unsicherheit begünstigen unbewusste Informationsselektion und Entscheidungen, die auf Basis von Wahrnehmung und Gefühls- bzw. Beziehungsebene getroffen werden. Im Extremfall sind wir durch emotionale Etikettierung von Personen, Dingen und Sachverhalten durch andere, über Einfussnahme und Manipulation in ihrem Empfnden, Denken und Tun steuerbar. Daher handelt es sich bei »Emotion« um einen Begriff, der für alle Kapitel dieses Buchs eine gewisse Relevanz besitzt. Dennoch soll an dieser Stelle das Augenmerk auf kognitive Verzerrungen gerichtet werden, die Folge einer ausgeprägten emotionalen Vorgehensweise sind.

Emotion (»Gemütsbewegung«) bezeichnet eine psychophysische Bewegtheit, Gefühlsregung oder auch einen Affekt (siehe Abschn. 4.1), der durch die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung eines Ereignisses oder einer Situation ausgelöst wird.

Wie in Abschn. 3.2 beschrieben, sind Emotionen für Erinnerungen relevant, denn Informationen werden im Gehirn zusammen mit ihnen abgelegt. Und nicht nur in der Psychologie und Soziologie, sondern auch in den Wirtschaftswissenschaften, insbesondere der Verhaltensökonomik, fnden Gefühle vor allem bei Entscheidungsprozessen zunehmend Beachtung. Bereits der erwähnte Adam Smith diskutierte Emotionen in Zusammenhang mit kognitiven Irrtümern, und Jeremy Bentham defnierte 1789 im klassischen Utilitarismus Nutzen als Summe positiver über negative Emotionen (vgl. Wikipedia 2021a und dort aufgeführte Quellen).

4.1 Einfuss von Gefühlen auf Entscheidungsprozesse

Emotionen spielen im Kontext von Framing und Priming auch bei Entscheidungen unter Risiko eine Rolle. Verlustaversion und Furchtaversion mit ihren verschiedenen Spielarten und Variationen basieren darauf – die doppelt so starke Wahrnehmung von Verlusten im Vergleich zu Gewinnen ist nicht rational begründet, sondern lediglich gefühlt. Rick und Loewenstein (2010) zeigen durch ein Modell, dass auch die Enttäuschungsaversion (Disappointment Aversion) (nach Gul 1991) zu ökonomisch schlechten Entscheidungen führen kann

Ähnliche Folgen hat das Denkmuster der Regret-Aversion (Regret Aversion, »Abneigung gegen das Bereuen«): Wir haben eine instinktive Scheu davor, eine Entscheidung im Nachhinein bedauern zu müssen – aber genau das führt manchmal zu besagten falschen Entscheidungen (van de Ven und Zeelenberg 2011). Ein gefährlicher Ausgangspunkt für ein verantwortungsvolles Entscheiden und Handeln ist auch die Emotionale Beweisführung (Emotional Reasoning): die Neigung, eine empfundene Emotion als konkreten Beweis für eine Annahme anzusehen.

Beispiel: Attentional Bias

Den Einfuss von Emotionen auf kognitive Entscheidungen kann man sich am Beispiel des Attentional Bias (der in Abschn. 1.6 dem Pendler Nelles ein Bußgeld beschert hat) sehr gut vor Augen führen. Diese Anomalie als Folge fehlgeleiteter bzw. verzerrter Aufmerksamkeit basiert auf einer Wahrnehmungsbeeinfussung durch akute Faktoren, etwa einen beherrschenden Gedankengang, der alternative Gedanken blockiert.

Die meisten Leser haben vermutlich schon einmal von den Studien der Psychologen Daniel Simons und Christopher Chabris gehört, die als „Monkey Business Illusion“ bekannt geworden sind – das Experiment ist ein Klassiker. Mehrere junge Menschen werfen sich Basketbälle zu; eine Hälfte der Spieler trägt weiße T-Shirts, die andere schwarze. Der Betrachter eines Videos von der Szene wird aufgefordert, die Anzahl der Ballwechsel in einem der Teams zu zählen. Was viele Zuschauer in der Konzentration nicht wahrnehmen: Während der Sequenz marschiert ein Mensch im Gorillakostüm langsam durchs Bild, bleibt in der Bildmitte stehen, klopft sich auf die Brust und verschwindet erst nach mehreren Sekunden wieder. Rund die Hälfte der Beobachter übersieht dies (Simons und Chabris 1999a, b).

Nachfolgend einige realistischere Beispiele aus dem täglichen Leben, bei denen Menschen – bedingt durch den Attentional Bias – Gefahr laufen, etwas Wesentliches zu übersehen und schlechte Entscheidungen zu treffen:

  • Beim Arbeiten unter akutem Termindruck
  • Beim Versuch von Multitasking, der zudem Zeit kostet und keineswegs einspart (siehe auch Wenski 2021, S. 40–41)
  • Beim Beschluss wichtiger Maßnahmen im Büro nach einem morgendlichen Ehestreit
  • Beim Treffen weitreichender Entscheidungen für das weitere Leben in einer akuten Krise (Trennung, Jobverlust, Geldsorgen etc.)
  • Unter Alkohol- und/oder Drogeneinfuss
  • Bei der Wahrnehmung von Verantwortung und Entscheidungsgewalt unter dem Einfuss von Wahnvorstellungen und anderen psychischen Problemen
  • Im weiteren Sinn auch beim Telefonieren während des Autofahrens, beim Bedienen von Maschinen unter Lärmeinfuss oder Musikbeschallung etc.

Der Attentional Bias bewirkt oft eine Empathielücke (Empathy Gap): Dies bezeichnet den Effekt, dass Einfüsse wie Stress und starke negative Emotionen ein weniger empathisches Verhalten mit sich bringen. Der damit verbundene Einfuss auf Einstellungen, Vorlieben und Verhalten wird von einem selbst – und von anderen – regelmäßig unterschätzt.

Insbesondere beim Planen und Entscheiden in akuten Krisen, die Ihren mentalen Prozessor nahezu vollständig zu belegen scheinen, kommen zwei weiterer Effekte zum Tragen. Zum einen spielt die Fokussierungsillusion (Focusing Illusion) eine Rolle: Je stärker man sich auf einen bestimmten Aspekt konzentriert, desto größer scheint dessen Einfuss auf das ganze Leben zu sein (Kahneman 2012, S. 496). Die Anzahl der illustren Beispiele, die sich dazu anführen ließen, ist lang.

Der andere Effekt ist der sogenannte Impact-Bias (Impact Bias), auf Deutsch etwa »Erwartungsverzerrung«. Darunter versteht man die kognitive Fehleinschätzung, dass Menschen die psychischen Auswirkungen eines vorgestellten negativen Ereignisses wie Verlust des Arbeitsplatzes oder Trennung vom Partner in Dauer und Tiefe systematisch zu stark erwarten, also als mittel- und langfristig zu einschneidend ansehen. Dies hält gelegentlich davon ab, unbefriedigenden Sachverhalten durch ein »Ende mit Schrecken« abzuhelfen. Vor allem nachts, beim schlafosen Herumwälzen im Bett, scheinen die Probleme Dimensionen anzunehmen, die bei einem nüchternen Blick auf die Umstände einer näheren Prüfung nicht standhalten. Der Spruch »In jeder Krise liegt auch eine Chance« mag an diese Stelle passen – auch wenn es sich um ein Beruhigungsmantra handelt, das nicht in allen Fällen hilfreich ist.

Tipp

Gehen Sie ruhig und konzentriert an jegliche Art von Entscheidungsprozessen heran. Führen Sie sich dabei bewusst vor Augen, dass Sie trotz guten Willens immer Gefahr laufen, Opfer kognitiver Verzerrungen zu werden, und planen Sie potenzielle Fehlentscheidungen gleich mit ein.

Die Basis aller Fehleinschätzungen und Irrtümer, die auf Emotionen beruhen, ist die Affektheuristik (Affect Heuristic). Sie zählt wie die Verfügbarkeitsverzerrung nach klassischer Einteilung der Effekte (siehe Abschn. 6.1) zu den Verfügbarkeitsheuristiken. Man orientiert sich in seinem Denken und Entscheiden an Punkten, mit denen das Gehirn akut beschäftigt ist und die sich somit gerade im gedanklichen Fokus befnden. Zunächst wiederum eine Defnition:

Der Affekt (»Anspannung« oder »Aufgeregtheit«) ist eine vorübergehende Gemütserregung oder Gefühlswallung, die durch äußere Anlässe oder innere psychische Vorgänge ausgelöst wird. Anders als bei einer Stimmung besteht diese Gefühlstönung jedoch meist nur kurzzeitig.

Die Affektheuristik ist eine mentale Abkürzung, die es erlaubt, unter Beeinfussung durch aktuelle Emotionen schnell und effzient Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen, etwa aufgrund von Zuneigung für oder Abneigung gegen die jeweiligen Alternativen (Slovic et al. 2002). Man sucht automatisch nach Informationen und Argumenten, die mit der bestehenden Meinung übereinstimmen. Anders ausgedrückt:

Unter Affektheuristik versteht man ebenfalls eine Urteilsheuristik, die sich allerdings auf Gefühle verlässt. Diese Gefühle entstehen automatisch und schnell und müssen nicht bewusst empfunden werden; sie werden vielfach in gut und schlecht eingeteilt.

Inzwischen wurde eine große Anzahl von Studien zur Affektheuristik durchgeführt und publiziert. Beispielsweise hat man die Einstellung der Versuchsteilnehmer zu Nutzen und Risiken neuer Technologien intensiv untersucht. Dabei zeigt sich verlässlich, dass Menschen durch die Verfügbarmachung von gehäuft positiven oder negativen Aspekten in ihren Einordnungen manipulierbar sind: Gibt man den Teilnehmern kurze Texte mit Vorteilen neuer Technologien zum Lesen, stufen sie die damit verbundenen Risiken deutlich geringer ein als nach der Aufnahme negativer Informationen. Die Obsession für und ständige Suche nach Neuem wird auch als Neomanie bezeichnet.

So jubeln zwar die Chinesen (zumindest einige) über die im Stadtbezirk Pudong in Shanghai installierten 290.000 Kameras, die im Überwachungszentrum direkt gesteuert werden und jede kleinste Verfehlung von über Gesichtserkennung identifzierbarer Bürger aufspüren und ahnden: »Uns Bürgern hilft das System, eine sichere, ordentliche und saubere Umgebung zu schaffen« (Anthony 2021). Allerdings kommt dies einem Bewohner der freiheitlichen westlichen Welt eher wie düstere Science-Fiction vor: George Orwells 1984 in der Gegenwart! Der Philosoph Thomas Metzinger spricht in diesem Zusammenhang von einem massiven Missbrauch künstlicher Intelligenz (KI) (Brühl 2021).

Dies führt zwanglos zu folgender Feststellung:

Die öffentliche Meinung lässt sich gezielt durch einseitige Berichterstattung beeinfussen. Im extremen Fall wird dieses Vorgehen als „Propaganda“ bezeichnet, wenn es sich um zielgerichtete Versuche handelt, politische Meinungen oder Sichtweisen zu formen und das Verhalten in eine erwünschte Richtung zu steuern.

Tipps

  • Achten Sie darauf, was mit Ihren Daten geschieht, und geben sie diese nicht leichtfertig z. B. an Anbieter oder über soziale Netzwerke im Internet preis.
  • Freuen Sie sich darüber, dass wir als EU-Bürger in freiheitlich-pluralistischen Systemen leben dürfen, und helfen Sie, diese zu bewahren.
  • Konsumieren Sie Medien kritisch und vergleichen Sie die Berichterstattung.
  • Lassen Sie populistische Thesen nicht soweit von Ihrem Denken Besitz ergreifen, dass Sie von „Lügenpresse“, „tiefem Staat“ und sonstigem Unfug denken und reden.

4.2 Weitere emotional bedingte kognitive Effekte

Und damit sind wir wieder beim in Abschn. 1.3 erwähnten Assoziationstrugschluss. Durch die Tatsache, dass unser Gehirn eine Verknüpfungs- oder »Assoziationsmaschine« ist (Morewedge und Kahneman 2010), entsteht auch falsches Wissen. Durch induktive, emotional bedingte Verknüpfung von Dingen, Sachverhalten und auch Personen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, setzen wir diese dennoch in Beziehung zueinander. Eine Wertung oder Geltungszuschreibung wird unzulässig und in unsachlicher Weise auf eine Behauptung oder Sache übertragen, etwa in Form einer falschen Generalisierung oder durch Ablenkung von der eigentlichen Sachfrage. Daniel Kahneman hat dazu die beiden Begriffe Banane und Erbrechen benutzt und in Kontext gesetzt. Die durch diese willkürliche Kombination erzeugten Assoziationen bleibt Ihrer Fantasie vorbehalten (vgl. Kahneman 2012, S. 69–80).

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Das kleine Handbuch kognitiver Irrtümer « bietet den Rest des Kapitels »Beeinflussung durch Emotionen« und vieles mehr.

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