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Leseprobe »Krisen erfolgreich bewältigen«: Was die Krise ausmacht

Dieses Buch handelt von Krisen, die erfolgreich bewältigt worden sind, weil sie zu Entwicklungsschritten und tiefgreifenden Veränderungen im Sinne eines persönlichen Reifeprozesses geführt haben. So, dass die Betroffenen sagen können: »Mir geht es besser als davor.« Das Buch will Menschen, die in einer persönlichen Krise stecken oder sich aus anderen Gründen für dieses Thema interessieren, ein hilfreicher Ratgeber sein.
Verzweiflung

2.1 Definition

Wir kennen Wirtschafts- und Finanzkrisen, die Euro- und die Flüchtlingskrise, Hungerkrisen und die nicht enden wollende Nahostkrise. Wir sprechen von Sinnkrisen, Lebenskrisen und Midlife-Crisis. Wir erleben berufliche Krisen, gesundheitliche Krisen und Ehe- und Beziehungskrisen. Was also macht die Krise aus? Was sind die objektiven Gemeinsamkeiten und die Unterschiede verschiedener Krisen? Warum erleben verschiedene Persönlichkeitstypen Krisen höchst unterschiedlich? Für eine eingehende Beschäftigung mit dem Thema ist zunächst eine Klärung des Begriffs notwendig.

Das altgriechische Wort »krisis« bedeutet wörtlich Scheidung. Im Theater des antiken Griechenland bezeichnete der Begriff Entscheidung, Trennung und Wende. Die »krisis« ist die Stelle in der antiken Tragödie, an der sich die Handlung zuspitzt, die Gefahr und die Spannung am größten sind. Die Krise steht also für den zentralen Wendepunkt eines Geschehens. Der Duden umschreibt Krise unter anderem als schwierige Lage, Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung und Zeit der Gefährdung.

Allen Definitionen gemein ist der Übergangscharakter. Die Krise ist also kein Dauerzustand. Zu ihr gehört zwingend, dass sie als Wendepunkt von einem Zustand in einen anderen überleitet. Und diese neue Phase muss nicht schlechter sein als die vorausgegangene, sondern kann auch eine positive Entwicklung darstellen.

Entwicklungspsychologisch betrachtet sind Krisen die zwingenden Übergangsphasen im Leben, etwa vom Adoleszenz- zum Erwachsenenalter. Zum Zeitpunkt der Hormonveränderung und der Ablösung von den Eltern beginnt der junge Mensch über sein Verhalten zu reflektieren. Er stellt fest, dass er auf sich gestellt ist und eine eigene Persönlichkeit mit eigenen Verhaltensmustern entwickeln kann. Im Alter zwischen 14 und 16 Jahren werden die Auffassungen der Eltern nicht mehr als einzige Wahrheit und Realität gesehen. Die elterliche Instanz wird hinterfragt, und andere Autoritäten und Ideale gewinnen grundlegende Anerkennung und haben Einfluss auf die Einstellung und das Verhalten des Jugendlichen. Das Kind beginnt zu ahnen, dass es das Leben unabhängig von den Eltern selbst in die Hand nehmen kann. In dieser Zeit setzt der erste größere Entwicklungsschritt ein. Dieser ist verbunden mit zum Teil schwereren und zum Teil einfacheren pubertären Krisen. Wir erinnern uns wohl alle noch recht genau, dass diese Zeit einherging mit einem Auf und Ab verschiedenster Gemütszustände, denen wir uns hoffnungslos ausgeliefert sahen. Einen äußeren Anstoß braucht es dafür nicht. Die natürliche Hormonumstellung im Körper bewirkt den Umschwung. Verena Kast spricht in diesem Zusammenhang von »Reifungskrisen« (Kast 2013, S. 35 f.) und zählt dazu neben der Adoleszenz auch den Übergang zum mittleren Erwachsenenalter und das Klimakterium.

Krisen mit schweren Auswirkungen auf Seele und Körper können aber auch durch äußere Anlässe ausgelöst werden. Dazu zählen Ereignisse wie der Verlust eines nahestehenden Menschen, die Kündigung der Arbeitsstelle, die Pensionierung, aber auch das Eingehen einer Beziehung, die Heirat, die Geburt eines Kindes. Ob ein solches Ereignis allerdings als Krise wahrgenommen wird oder nicht – und wenn ja, wie stark –, ist individuell unterschiedlich.

In diesem Buch behandeln wir in erster Linie Krisen mit externen Auslösern. Dabei handelt es sich vorwiegend um berufliche Ereignisse. Daneben spielen aber auch gesundheitliche Krisen in Form plötzlich auftretender Krankheiten eine zentrale Rolle. Krankheiten gehen zwar vom eigenen Körper aus, dennoch werden sie als extern ausgelöst empfunden, weil ihr Auftreten sich der Kontrolle entzieht und sie somit als Schicksalsschlag erlebt werden. Weil Krisen, wie wir gesehen haben, individuell ganz unterschiedlich wahrgenommen werden, legen wir besonderes Augenmerk auf die Persönlichkeitsunterschiede bei den Bewältigungsstrategien. Eine besondere Rolle spielt dabei das – ebenfalls individuell unterschiedlich erlebte – Gefühl des Kontrollverlusts beim Eintreten einer Krise.

2.2 Krise als Kontrollverlust

Der Soziologe Niklas Luhmann (1984, 1986, 2009) macht die Krise an der Anzahl von Möglichkeiten fest, die die Welt zur Verfügung stellt, damit ein System sich erhalten kann. Im Normalfall ist die Welt komplex, weil »sie mehr Möglichkeiten zulässt, als Wirklichkeit werden können« (Luhmann 1986, 2009, S. 5). Das heißt, der Mensch muss zwischen Möglichkeiten entscheiden. Er bildet damit seine eigene Verhaltensstruktur, mit der er sich identifiziert, und erlebt auf diese Weise seine subjektive Ichhaftigkeit und Realität, weil er sich von den anderen, die sich für andere Möglichkeiten entscheiden, unterscheidet und abgrenzt. Stellt die Welt nun aber weniger Möglichkeiten zur Verfügung als die, »auf die das System sich erhaltend reagieren kann«, spricht Luhmann von einer Krise (S. 6).

In der psychologischen Literatur finden wir ähnliche Definitionen für einen anderen Begriff: Stress. Eine Krise ist psychologisch gesehen eine akute Stresssituation. Betroffene stehen unter Stress, weil sie sich in ihrer Identität massiv bedroht fühlen und damit auch in ihrer Kompetenz, die anstehenden Probleme lösen und ihr Leben selbst gestalten zu können. Die Handlungskontrolle kommt also subjektiv abhanden. Keine der bisherigen Strategien, um die Kontrolle zu behalten oder wiederzuerlangen, reichen noch aus. Wer in eine Krise gerät, fühlt sich als Spielball des Schicksals. Die Berechenbarkeit von Ereignissen und die Möglichkeit, sie zu steuern, ist nicht mehr gegeben. Die Zusammenhänge zwischen dem, was sich ereignet, werden nicht mehr verstanden, was bei vielen Betroffenen dazu führt, dass die eigene Existenz und damit der Lebenssinn infrage gestellt werden.

Das vorherrschende Gefühl wird oft als Ohnmacht beschrieben, die akute Angst auslöst. Man befindet sich in einer emotionalen Achterbahn: Angst schlägt in Wut um, Wut in Trauer, Trauer in Angst. Es entstehen zudem schwer auszuhaltende Mischgefühle, die dazu führen können, dass sich der Hals wie zugeschnürt anfühlt. Das kann bis zur körperlichen Erstarrung gehen. Das emotionale Gleichgewicht gerät aus den Fugen, und ein Ende scheint nicht absehbar zu sein – auch wenn man eigentlich weiß, dass es zum Wesen der Krise gehört, dass sie zeitlich begrenzt ist. Auch die Angst, mit dem noch ungewissen Ausgang der Krise nicht weiterleben zu können, ist in diesen Momenten oft groß.

Wie wir in den Interviews mit unseren krisenerfahrenen Gesprächspartnern festgestellt haben, ist Angst gerade in der Akutphase einer Krise das vorherrschende Gefühl. Sie ist mit starker Unlust verbunden und nicht selten mit heftigen körperlichen Reaktionen: Kurzatmigkeit, Herzrasen, starkes Schwitzen, Zittern, Mundtrockenheit und Muskelverspannungen. Betroffene tendieren dazu, diesen Zustand loswerden zu wollen, und zwar möglichst rasch.

Dabei ist uns die Angst angeboren, und zwar mit gutem Grund: Sie schützt uns vor realer akuter Bedrohung gegen Leib und Leben. Ein Säugling signalisiert zu Recht große Angst, wenn die Mutter ihn verlässt. Ohne sie ist sein Überleben – seine Existenz – gefährdet. In späteren Jahren, auf dem Weg vom Kind zum Jugendlichen bis zum Erwachsenen, nimmt die Unabhängigkeit zu. Dennoch kann es sein, dass bei drohendem Verlust eines anderen Menschen oder bei Liebesentzug nochmals dieselbe Angst auftritt, die der Säugling erlebt hat. Es ist also möglich, dass eine solche Situation auch den Erwachsenen noch in eine ähnlich tief empfundene Krise stürzt.

Außer in einer realen existenziellen Bedrohungssituation dient die Angst im Erwachsenenleben jedoch selten dem Überleben. Sie ist oft im Grunde nicht mehr zweckmäßig. Es ist nicht mehr so leicht zu sagen wie bei einem Säugling, welchen Zweck die Angst erfüllen soll. Sie ist diffus, also nicht mehr spezifisch festzumachen, und hat sich damit von der Realität entfernt. Denn die Trennung von einer Bezugsperson und der Ausschluss aus einer Gemeinschaft sind nicht mehr objektiv lebensbedrohlich.

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, erklärt die diffuse Angst – angesichts zum Beispiel eines Liebesentzugs – auf folgende Weise: »Es ist der Zorn, die Strafe des Über-Ichs, der Liebesverlust von dessen Seite, den das Ich als Gefahr wertet und mit dem Angstsignal beantwortet« (Freud 1997, S. 280). Das heißt, die Angst wird von der Instanz des »Über-Ich« ausgelöst, der verinnerlichten Elterninstanz.

Es ist allerdings eine Illusion zu glauben, wir könnten ein Leben ohne Angst leben. Angst gehört selbstverständlich zu unserem Dasein. Sie spiegelt unser Wissen um unsere Sterblichkeit, und sie dient dem Schutz zu überleben. Durch sie schätzen wir Risiken – zum Beispiel im Alpinismus oder in anderen gefährlichen Situationen – realistisch ein und verhalten uns entsprechend.

Die Angst, einmal sterben zu müssen, begleitet uns im Unbewussten ständig, auch ohne akute Gefahrensituation. Sie besteht unspezifisch. Weil Angst einen Unlustzustand darstellt und abgeführt oder abgewehrt werden will, entwickeln Menschen im Laufe ihres Lebens Verhaltensweisen, um dieser diffusen Existenz- oder Todesangst auszuweichen oder sie zu unterdrücken.

Wir entwickeln also Strategien, um das Über-Ich zu befriedigen und dessen angstauslösende innere Stimme zu beschwichtigen. Zum Beispiel ist es möglich, dass die Stimme des Über-Ich sagt: Sei immer zu allen lieb, sonst bist du es nicht wert, geliebt zu werden, und wirst aus der Gemeinschaft ausgestoßen! Um nun diese Stimme zu besänftigen, legen sich einige von uns ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis zu und leiten daraus eine überaus hohe Anpassungsfähigkeit ab. Auf diese Weise versuchen sie mit allen Mitteln, Konflikte zu umgehen, um eine Trennung von einer Bezugsperson zu verhindern. Durch das Vermeiden von Konflikten kann aber das Durchleben einer vielleicht notwendig gewordenen Trennung – und somit ein wichtiger Entwicklungsschritt – verpasst werden. Die Betroffenen bauen keine neuen Ressourcen für das Bewältigen schwieriger Konfliktsituationen auf. Vielmehr führt das ständige Vermeiden von Konflikten dazu, dass ihre Angst vor Trennung zunimmt. Daher müssen die Betroffenen für die bisherige Bewältigungsstrategie »Anpassung« immer mehr Energie aufwenden, bis zu dem Punkt, da sie anerkennen müssen, dass die bisherige Bewältigungsstrategie nicht mehr funktioniert. Wenn dann eine Trennung unvermeidlich wird oder der Verlust einer nahestehenden Person eintritt, erleben diese Menschen eine solche Krisensituation mangels anderer Handlungsoptionen als fundamental existenzbedrohend.

Diese Dynamik entwickelt sich nicht allein in zwischenmenschlichen Belangen. Sie kann auch andere Sachverhalte oder Vorstellungen, wie die diffuse Angst vor dem Verlust einer gesellschaftlichen Position oder Angst vor Langeweile, Routine und einem Entwicklungsstillstand, betreffen. Je nachdem, wie das Angstthema beschaffen ist, lauten die inneren Sätze des Über-Ich anders, und es resultieren andere Strategien und Verhaltensmuster daraus, um diese Stimme zu besänftigen und die diffuse Angst abzuführen. Somit können wir nicht genug betonen, wie individuell unterschiedlich eine Krise wahrgenommen wird. Es kommt darauf an, welche konkreten persönlichen Werte verletzt werden, also darauf, welche Angstthemen betroffen sind, und auch darauf, welche bisherigen Bewältigungsstrategien bereits angepasst und in schwierigen Situationen erfolgreich angewendet werden konnten.

2.3 Krise als subjektives Erleben

Krisen werden von verschiedenen Menschen unterschiedlich erlebt. Was für den einen bereits eine schwere Krise ist, ist für einen anderen nur ein unangenehmer Zwischenfall. Denn was als Krise erlebt wird, ist nur subjektiv und nicht mit objektiven Kriterien messbar. Eine Krise kann also nicht nach ihrer Schwere beurteilt werden, da dafür objektive Kriterien fehlen, die für alle Betroffenen gelten würden. Ein Jobverlust ist für manche eine katastrophale Krise, weil sie sich als materiell nicht abgesichert betrachten oder weil sie den Verlust des sozialen Umfelds und ihres Status fürchten. Andere finden eine Entlassung zwar verletzend und problematisch, orientieren sich aber schnell neu. Löst eine Ehescheidung bei den einen unüberwindbare Angst und Trauer aus, weil sie mit dem Einsamkeitsgefühlt nicht fertigwerden, bedeutet sie für andere zwar Schmerz und Trauer, doch integrieren sie sich rasch wieder in anderen sozialen Umfeldern.

Wir sehen: Eine Krise ist allein dann eine Krise, wenn sie von den Betroffenen selbst als solche erlebt wird. Das Urteil anderer über diese Situation spielt keine Rolle. Ob ein Geschehen als Krise wahrgenommen wird oder nicht, hängt unter anderem von den individuellen Wertvorstellungen und vom Persönlichkeitstyp der Betroffenen ab. Selbstverständlich aber steht jeder Mensch immer wieder vor neuen Lebensproblemen, die er mit den ihm zur Verfügung stehenden Problemlösungsstrategien zu bewältigen versucht.

Wir behalten unsere Strategie bei, solange sie funktioniert. Wenn sich dann das Problem auf diese Weise nicht mehr lösen lässt, fühlen wir uns überfordert, weil wir keine Kontrolle mehr über die Situation haben. Wir sind nicht mehr handlungsfähig und haben keine Mittel mehr zur Verfügung, um die Situation zu entschärfen. Dadurch wird unser emotionales Gleichgewicht schwer gestört. Gleichzeitig sind wir im Hinblick auf unsere Identität verunsichert. Angst tritt auf. Wir sehen keinen Ausweg und entwickeln einen Tunnelblick. Es entsteht die Vorstellung, dass die Krise »ewig« dauern und es »nie mehr« adäquate Lösungsmöglichkeiten geben werde.

2.4 Kann man Krisen bewältigen lernen?

Wir haben die Krise bisher als entwicklungspsychologisch bedingte, ja notwendige Lebenswende beschrieben oder – zentral für unser Buch – als individuell erlebten Schock, der von äußeren Ereignissen oder körperlichen Leiden verursacht wird. Aufgrund der Beschäftigung mit dem Thema und den Gesprächen mit unseren Interviewpartnern stellte sich für uns aber auch die Frage, inwiefern eine Krise als Schicksalsschlag zu betrachten ist. Kann die Krise jeden jederzeit treffen? Oder gibt es Menschen, die Krisen quasi anziehen? Kann man durch die Wahl eines Lebensstils Krisen weitgehend von sich fernhalten?

Angewandt auf meine Situation: Hätte ich mich – angesichts einer Medienkampagne – im Vorfeld anders verhalten können, um diese Krise zu vermeiden? Hatte ich eine echte Wahl? Die meisten von uns gehen davon aus, dass berufliche Krisen eher selbst verursacht werden, und ein solch großes Engagement im Rahmen eines unbezahlten Ehrenamtes ist von außen schwer nachvollziehbar. Gesundheitliche Krisen oder Todesfälle nahestehender Personen werden hingegen im Allgemeinen als Schicksalsschläge und als unumgänglich angesehen, keiner ist schuld daran. Ist dem so? Gibt es den Unterschied zwischen selbst verschuldeten Krisen und Schicksalsschlägen? Sehen wir genauer hin.

Zu Beginn jedes Interviews stellten wir die Frage: »Wann, bei welcher Tätigkeit, vergessen Sie die Zeit, sind Sie voller Energie und können sich ganz auf den Moment konzentrieren?« Diese Frage zielt auf die Talente und Stärken eines Menschen ab, sie ist eine Einladung, über den Lebenssinn und die eigentliche Lebensaufgabe nachzudenken. Aus der psychologischen Forschung wissen wir: Wenn eine Person ihre ureigene Begabung nicht leben kann, dann gerät sie früher oder später in eine Sinnkrise, was eine Krankheit nach sich ziehen kann, zum Beispiel eine Depression, ein Burnout oder auch körperliche Leiden. Unsere Interviewpartner haben die Frage sinngemäß so beantwortet: »Ich bin dann voller Energie und kann mich ganz auf den Moment konzentrieren, wenn ich Resonanz erzielen und etwas gestalten und bewegen kann.« Es soll etwas unter Menschen geschehen, und es besteht das Bedürfnis, etwas Neues in die Welt zu bringen. Wer den Anspruch hat, Menschen in Resonanz zu versetzen, sie zu führen und etwas zu gestalten, ist Akteur.

Akteure haben eine hohe Motivation, von anderen wahrgenommen zu werden, an die Öffentlichkeit zu treten, Menschen zu führen und zu bewegen, und können so medial auch eher in eine Krise rutschen. Natürlich wird auch ein Akteur sich keine Krise herbeiwünschen, vielmehr wird er damit rechnen, dass er verschont bleibt, aber er nimmt eine solche eher in Kauf als andere, die Zurückhaltung üben und keinen Führungsanspruch geltend machen.

Wie sehr hat nun jemand die Wahlfreiheit, eine Krise, die sich aus seinem Agieren entwickeln kann, zu umgehen? Er müsste die Wahl treffen, seine Bestimmung nicht zu leben und einen wesentlichen Teil seines Selbst zu negieren. Das wäre aus unserer Sicht psychologisch nicht gesund und wahrscheinlich würde so jemand früher oder später in eine gesundheitliche Krise geraten.

Eindrücklich aufgezeigt wird dieser Vorgang im autobiografischen Essay »Mars« von Fritz Zorn (1977, 2015). Zorn schildert seine tödliche Krebserkrankung als Folge eines »ungelebten Lebens«. Fritz Zorn, ein Pseudonym für Fritz Angst, wuchs in den 1950er-Jahren in einem gut situierten Haushalt an der privilegierten »Goldküste« des Zürichsees auf. Selten oder nie wich er vom »comme il faut« seines Elternhauses ab und verfolgte eine gradlinige Hochschul- und Berufskarriere, aber ohne innere Zufriedenheit zu finden: »Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein.« Dann traf ihn die Diagnose Lymphdrüsenkrebs. »Mein Unglück besteht daraus«, schreibt er, »dass ich nicht sein kann, was ich will; es besteht daraus, dass der größte Teil meines Ich gar nicht ich selbst ist, sondern etwas Fremdes, das meinem ›ich selbst‹ feindlich gegenübersteht und dieses ›ich Selbst‹ sogar aufzufressen und vernichten droht« (S. 211). Zorn stellt einen Zusammenhang her zwischen seiner psychischen Verfassung und seinem physischen Leiden: »Auch die Wendung, dass ich von Frustration zerfressen sei, ist mehr als bloße Redensart, sondern findet auf körperlicher Ebene konkret statt. Ich werde ja wirklich zerfressen, nämlich von Krebs. Das ist in Wirklichkeit der Krebs, sein Grund, sein Ursprung, seine Verzweiflung, weit über alles bloß Medizinische hinaus« (S. 195).

Fritz Zorn formulierte seine Analyse als Schriftsteller und wacher Beobachter seiner selbst. Er war weder Arzt noch Psychologe. Seine Reflexionen sind daher nicht wissenschaftlich zu nennen. Ein Zusammenhang zwischen Krebs und »ungelebtem Leben« lässt sich wissenschaftlich kaum erhärten. Dennoch belegen zahlreiche psychologische Studien einen Zusammenhang zwischen chronischem Stress – einer möglichen Folge »ungelebten Lebens« – und psychischen sowie sogar körperlichen Erkrankungen. So können Angststörungen, Depressionen und Burnout ausgelöst werden. Ebenso können Herzkreislauf-, Muskelbeschwerden, Kopfschmerzen und viele weitere körperliche Symptome durch chronischen Stress verursacht werden. »Krankmachend ist die Blockierung der Entwicklung der wahren Natur eines Menschen« (Kuhl 2005, S. 300) [Hervorhebung durch den Autor].

Das Selbst zu negieren, den individuellen Lebenssinn zu unterdrücken und das eigene Wesen, die für einen selbst wichtigen Grundwerte nicht leben zu können bedeutet, sich selbst fremd zu bleiben. Das führt fast zwingend, wie wir in diesem Buch immer wieder aufzeigen werden, zu Angstzuständen und deshalb zu Stresssymptomen.

Die Vermutung liegt deshalb nahe, und Fritz Zorn beschreibt dies eindrücklich, dass das Eintreten der Krise – in seinem Fall die Krebserkrankung – eine Folge innerpsychischer Vorgänge sein kann, auf die wir subjektiv keinen Einfluss haben. Da gibt es aus unserer Sicht keinen Unterschied zu einem äußeren Schock, wie einer Entlassung, einer unvermuteten juristischen Untersuchung oder einer Notenbankentscheidung.

Es gibt also kaum eine Wahlfreiheit, ob und welche Art Krisen sich einstellen oder nicht. Monika Stocker äußert sich zur damaligen Medienkampagne, die sie als »öffentliches Mobbing« bezeichnet, so: »Es gibt so etwas wie ein Schicksal, gegen das ich nichts ausrichten kann.« Was wir aber eher beeinflussen können, ist der Umgang mit einer Krise. Es gibt zahlreiche Beispiele von Menschen, die mit schweren Krankheiten leben und durchaus Glück, Zufriedenheit und Sinn erfahren, während andere Menschen sich aufgrund einer Jobkrise das Leben nehmen, weil sie ihr Leben ohne ihren Beruf als nicht mehr sinnvoll und lebenswert empfinden.

Wir können den Umgang mit Krisen erlernen und ähnlich wie eine Sportart trainieren. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass manche Menschen mit mehr Resilienz – psychischer Widerstandsfähigkeit – ausgestattet sind als andere. Diese Menschen verfügen in besonderem Maße über Fähigkeiten, die zentral sind, um Krisen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen. Resilienz zählt zu den angeborenen Ressourcen. So gibt es schon rein biologisch Unterschiede bei Stressresistenz, emotionaler Stabilität, kognitiven Fähigkeiten, Motivation und Sozialkompetenz.

Unabhängig von unserer naturgegebenen Grundausstattung mit diesen Fähigkeiten können wir alle aber Techniken erlernen, unsere Problemlösefähigkeit zu erhöhen, um mit der Angst in Krisen fertigzuwerden und sie besser zu bewältigen (Fröhlich-Gildenhoff und Rönnau-Böse 2015). Wir können lernen, dass durch Krisen Entwicklungsschritte gemacht werden können, die uns stärken und persönlich festigen und für weitere Krisen wappnen. Wir können lernen, Krisen als Zäsur zu nutzen, um unser Leben zu verändern und mit neuer Einstellung und klarerem Blick für das eigene Selbst in eine andere Richtung zu gehen. Wir können lernen, wo unsere Grenzen sind und wie wir mit ihnen umgehen können. Wir können neue Einsichten erwerben und Strategien entwickeln, diese trainieren und ins Leben integrieren.

Franziska Tschudi Sauber spricht genau von diesem Vorgang, wenn sie sagt: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich Selbstvertrauen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, trainieren kann, zum Beispiel, indem ich mir bewusst immer wieder sage: Das kannst du!« Die Erfahrung, sich so quasi am eigenen Schopf in die Höhe ziehen zu können, hat sie in einer gesundheitlichen Krise erworben, die sie durch systematisches Üben überwunden hat: »Ich litt als Jugendliche unter Asthma. Als Therapie dagegen habe ich begonnen zu laufen. Das hat mir keinen Spaß gemacht. Ich fand es langweilig. Ich bin dann aber immer ein bisschen mehr und ein bisschen länger gelaufen.« Heute läuft Franziska Tschudi Sauber regelmäßig über die Marathondistanz. Sie hat nach der Asthmadiagnose ein systematisches körperliches Training aufgenommen, das – wie wir später im Buch sehen werden – für sie zu einer Ressource geworden ist, um eine noch einschneidendere gesundheitliche Krise erfolgreich zu überwinden.

Am Anfang der Krise steht ein Schock, ein plötzlich auftauchendes oder virulent werdendes Problem. Dieses können die Betroffenen mit den ihnen bis dahin zur Verfügung stehenden Mitteln auf Anhieb nicht lösen. Ohne eine Lösung aber drohen schwerwiegende Konsequenzen für sie selbst, allenfalls auch für andere. Negieren, Verdrängen, Umschiffen und hartnäckiges Anwenden alter Strategien funktionieren nicht mehr. Die Krise ist ein Wendepunkt und verlangt nach einer Entscheidung. Unserer Ansicht nach ist jede Krise – ob beruflich oder privat, seelisch oder körperlich – ein Schicksalsschlag. Die Betroffenen müssen ihn hinnehmen, es gibt keine Wahl.

Uns Menschen sind also von Natur aus höchst unterschiedliche Fähigkeiten zur Krisenbewältigung mitgegeben. Wir alle machen unseren eigenen Weg. Die krisenauslösenden Themen sind individuell, genau wie das subjektive Erleben der Krise. Aber wir alle können Strategien einüben, um mit Krisen besser umzugehen. So wie wir körperliche Fitness trainieren können, können wir uns fitter machen für die im Leben unweigerlich auftretenden kleineren und größeren Krisen. Dazu gehört als nächster Schritt in diesem Buch, dass wir uns damit befassen, wie Krisen typischerweise ablaufen, welche Phasen wir im Verlauf einer Krise durchmachen.

Literatur

Freud, S. (1997). Hysterie und Angst. Studienausgabe, Bd. VI. Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Kast, V. (2013). Der schöpferische Sprung. Vom therapeutischen Umgang mit Krisen. Ostfildern: Patmos.

Kuhl, J. (2005). Spirituelle Intelligenz. Glaube zwischen Ich und Selbst. Freiburg: Herder.

Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Luhmann, N. (1986, 2009). Vertrauen. Stuttgart: Lucius & Lucius.

Zorn, F. (1977, 2015). Mars. Frankfurt am Main: Fischer.

Rönnau-Böse, M., & Fröhlich-Gildhoff, K. (2015). Resilienz und Resilienzförderung über die Lebensspanne. Stuttgart: Kohlhammer.

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