Leseprobe »Lautstark sein«: Die Kreativität deiner Psyche

Wenn du nicht sprichst, sprechen deine Symptome
Ich schreibe dieses Buch aus der Überzeugung, dass es unser Leben bereichert, lautstark zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass wir aktuell still sind. Wir können uns nicht nicht ausdrücken. Denn wenn wir unsere Bedürfnisse nicht wahrnehmen und zeigen wollen, dann sprechen unsere Symptome für uns. Von Antriebslosigkeit über Ängste zu sozialem Rückzug – sie alle setzen sich für uns ein. Sie haben eine Funktion, die unser Leben verbessern soll. Das tun sie auf eine kreative Art und Weise, aber auch zu einem hohen Preis für unser Wohlbefinden und unsere Beziehungen. Dieses Kapitel fragt, was wir verschweigen und von uns weghalten – und welche guten Gründe wir dafür haben. Es beschreibt den Weg, wie du deine Symptome besser verstehst und lernst, einen eigenen Ausdruck für deine Bedürfnisse, Sehnsüchte und Haltungen zu finden. Wie du deine eigene Kreativität nutzt, um lautstark zu sein.
Wozu deine Symptome gut sind
Eine Mimose, der Inbegriff eines übersensiblen Wesens, ist eine Pflanze mit beeindruckender Anpassungsfähigkeit. Wenn sie berührt oder von einem starken Wind geschüttelt wird, kann sie die eigenen Blätter eng zusammenrollen. Sie kann Stürme und Angriffe von Insekten überleben, die andere Pflanzen verenden lassen. Damit verfügt sie über einen wichtigen Schutz, eine erhöhte Flexibilität gegenüber ihrer Umwelt. Ob eine Mimose zimperlich oder wehrhaft ist, hängt also von ihrem Kontext und von unserer Interpretation ab.
In diesem Unterkapitel möchte ich dir einen Blick auf Krankheit und psychische Symptome anbieten, der mich persönlich und therapeutisch sehr bereichert hat. Durch ihn habe ich erkannt, wieso mir Schreiben, Gespräche und Malen so sehr halfen, als ich selbst noch depressiv war. Und ich konnte meine Depression als etwas sehen, das mir auch geholfen und nicht nur geschadet hat.
Die folgenden Seiten sind geprägt von Ansichten aus der systemischen Therapie, einem der vier Richtlinienverfahren neben analytischer Therapie, tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Verhaltenstherapie. Den folgenden Gedanken liegen eine ganze Denkschule, große Theoretiker:innen und persönliche therapeutische Modelle zugrunde. Der Weg zu ihnen war nicht immer leicht.
Mit 19 Jahren zog ich nach Berlin, um Philosophie zu studieren. Ich stellte mir die große Freiheit vor und fand sie auch – in Form einer großen Haltlosigkeit. Ich erinnere mich an die ewigen S-Bahn-Fahrten, die losen, gerade erst beginnenden Freundschaften, die spannenden und zugleich verwirrenden Seminare, meinen älteren und schweigenden Mitbewohner. Ich prüfte ständig, ob ich für diese neuen Kontexte wertvoll genug war. Im Kontakt mit anderen war ich gehemmt, fand mich zu naiv, zu viel, zu wenig. Ich versuchte, mir meinen Wert durch Leistung zu beweisen: Erst stürzte ich mich in die Seminarlektüre, dann in die Klausurvorbereitung, dann folgten die Leere, die Schlaflosigkeit, die Schwierigkeiten, aufzustehen.
Ich weiß aus eigener Erfahrung und aus der Arbeit mit Patient:innen, wie schmerzhaft psychische Symptome sind, wie unendlich anstrengend sie das Leben machen können und wie sie ihre Kerben in unsere Bildungs- und Beziehungsbiografien schlagen. Ohne das Kriterium des Leidensdrucks wäre es diagnostisch auch gar nicht möglich, von einer Depression zu sprechen.
Ich ging zur Hausärztin, um mein Herz zu überprüfen, sie lauschte auf das regelmäßige Pochen und schickte mich zum Psychiater. Er stellte eine Diagnose, die mich erleichterte, denn plötzlich war ich nicht mehr schwach, sondern krank. Ich schämte mich weniger, konnte meinem Umfeld erklären, was mit mir los war. Ich zog zurück in meine Heimatstadt, fing an, Psychologie zu studieren, und Stück für Stück rollte ich meine Blätter wieder auf.
Es wäre möglich zu sagen: Weil ich gesund wurde, konnte ich mir ein Leben aufbauen, das besser zu mir passte. Dann wäre meine psychische Verfassung so etwas gewesen wie eine Infektion, die uns zufällig befällt und für eine Weile außer Kraft setzt. Ohne unser Leben zu ändern, können wir einen Virus mit Medikamenten und Bettruhe behandeln und dann weitermachen wie zuvor. Eine solche Sicht klingt implizit in Therapiewünschen wie »Ich möchte mich einfach besser fühlen« oder »Ich möchte wieder leistungsfähig sein« an. Diese Wünsche sagen: Alles darf so bleiben, wie es war, nur ich muss behandelt werden, muss anders werden.
Ebenso möglich wäre die Sichtweise, dass ich gesund wurde, weil ich mir ein passenderes Leben aufbaute. In diesem Fall hätten meine Symptome eine Funktion gehabt, eine Botschaft. Im Nachhinein weiß ich: Meine Depression war eine wichtige Helferin. Ohne sie wäre ich in Berlin geblieben, hätte weitergekämpft, hätte versucht, gute Noten zu schreiben und die Leere in mir anders zu füllen. Stattdessen brachte sie mich dazu, um Hilfe zu bitten und zu verstehen, dass es nicht weitergehen konnte, wie es war.
Symptome psychischer Erkrankungen lassen sich als »Kommunikationsbeiträge« verstehen, die dem System, in dem wir leben, und auch uns selbst zurückmelden, dass etwas nicht stimmt. Sie sind damit ein Ausdruck wichtiger Lebensthemen. Psychische Erkrankungen sind dabei gleichzeitig klug und nicht klug. Klug ist, dass sie etwas sichtbar machen. Z. B., wenn die gute Seele der WG zum ersten Mal nicht wortlos den Geschirrspüler einräumt, sondern sich ins Schlafzimmer zurückzieht. Plötzlich wird sichtbar, wie viel Arbeit jeden Tag stillschweigend verrichtet wurde, wie viel Chaos jeden Tag kompensiert wurde. Den Mitbewohner:innen wird angezeigt, dass es so nicht weitergehen kann. Nicht klug sind die Kosten davon. Denn die Bedürfnisse werden zwar kommuniziert, aber nicht auf eine selbstermächtigende, selbstwirksame und lautstarke Art. Vermutlich ist die Mitbewohnerin erst mal nicht glücklicher oder befreiter als vorher.
Ich stelle mir die Psyche gerne wie ein Kind vor, das durch »Trial and Error« versucht, Lösungen zu finden. Problem: Überlastung. Lösungsversuch: psychische Erkrankung. Dieser Lösungsversuch ist allerdings belastend, sodass er ebenfalls zum Problem wird.
Wenn wir verstehen, wofür unsere Symptome ein Lösungsversuch sein könnten, können wir diese Lösung auf eine andere Art und Weise herstellen. Meistens ist das kurzfristig aufwendiger. Die ordnungsliebende Mitbewohnerin tut sich vermutlich schwer damit, mit aufrechtem Rücken zu sagen: »Ich räume diese Spülmaschine nicht ein. Ich werde jetzt ein Buch lesen, weil ich Zeit für mich brauche.« Noch schwerer wäre es wohl für sie, den Blick auf das eigene Leben zu richten und zu fühlen, dass die Waage zwischen Geben und Nehmen grundsätzlich im Ungleichgewicht ist. Wenn wir Symptome als Ausdruck, Expression oder Kommunikationsbeitrag betrachten, dann liegt darin allerdings ein großes Potenzial. Wir können versuchen, eine andere Sprache, eine andere Expression für unsere Bedürfnisse zu finden. Das Lautstark-Sein kann die Funktion von Symptomen ersetzen und dadurch zu unserer Gesundheit beitragen.
Um diese Perspektive für dein Leben zu nutzen, musst du dich weder als krank empfinden noch eine Diagnose haben. Kurze Phasen der Traurigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, aufflammende Ängste oder Grübelspiralen kennen wir wohl alle. Dich in diesen Momenten aber nicht zu verurteilen, »einfach zusammenzureißen« oder abzulenken, kann sehr bereichernd sein. Wenn du annimmst, dass alles in dir aus einem guten Grund da ist, kannst du liebevoller auf dich selbst reagieren. Anstatt dich für Antriebslosigkeit zu verurteilen, kannst du lernen, sie als eine Bedürfnisbotschafterin für mehr Pause, Zuneigung, Abenteuer, Essen oder Schlaf zu erkennen – und auf sie reagieren. Anstatt deine Wut zu unterdrücken, kannst du sie als Energie für Veränderung sehen, als Liebe zu dir selbst und deinem Gerechtigkeitssinn oder als Bewältigung von Hilflosigkeit. Du und deine Psyche können eine Freundschaft eingehen, die lebensverändernd sein kann.
Obwohl ich mithilfe meiner Therapeutin verstand, dass meine Depression eine ziemlich kluge Sache war, befreite mich das nicht von der anstrengenden und langwierigen Arbeit, mir ein anderes Leben aufzubauen. Doch die Bewusstheit über die kommunikative Funktion von Symptomen erschafft Handlungsmöglichkeiten, bringt einen mit Zielen und Wünschen für das eigene Leben in Kontakt. Fragen wie »Wenn Ihre Depression neben all dem Schmerz auch irgendetwas Gutes hätte, was wäre das?« oder »Wenn Ihre Traurigkeit etwas sagen könnte, was wäre das wohl?« haben einen freundlichen Grundton. Sie zeigen, dass wir nicht faul / schwach / krank / fehlerhaft sind, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben schon ein Stück des Weges hinter uns haben.
Ein Symptom sagt also nicht nur etwas über die psychische Verfassung einer einzelnen Person aus, sondern auch über ihre Lebensbedingungen und ihren Kontext. So erlebte ich es einmal bei einem Mann Anfang zwanzig. Er hatte sich für ein Studium in einer anderen Stadt eingeschrieben, dann jedoch eine Angsterkrankung entwickelt. Es fiel ihm schwer, das Haus zu verlassen, er entwickelte intensive Ängste beim Bahnfahren und Einkaufen. Die Eltern kümmerten sich engagiert um ihn, halfen ihm bei Alltagstätigkeiten. Im T herapieverlauf stellte sich heraus, dass die Eltern große Angst vor dem Auszug ihres Sohnes hatten. Die älteren Geschwister hatten bereits das Haus verlassen. Sie stellten sich die Frage, was von ihrer Ehe noch übrig wäre, wenn nun auch der letzte Sohn gehen würde. Und auch der Sohn fürchtete sich davor, dass sich das Zuhause, das er sein Leben lang gekannt hatte, auflösen würde. Ist es da nicht unheimlich kreativ von der Psyche, Angst vor dem Rausgehen, dem Bahnfahren und dem Alleinsein zu entwickeln und vorübergehend die existenziellen Familienfragen zu verschieben? Eine psychische Störung einer Einzelperson kann die Antwort auf eine ungeklärte Frage des Umfelds sein.
Aber auch gesellschaftliche Einflüsse wirken sich auf die Ausprägung von psychischen Erkrankungen aus: Wie unterschiedlich wir durch Symptome kommunizieren können, zeigt sich z. B. an dem Geschlechtsunterschied in der Ausprägung von Depressionen. Während die Diagnosemanuale für Männer und Frauen dieselben Kriterien auflisten, gibt es mittlerweile Versuche, auch geschlechtsspezifische Symptome gezielt zu erfassen. Dazu gehören für Männer z. B. Aggressionen, erhöhtes Suchtverhalten, Reizbarkeit, Stressempfinden und Selbstmitleid. Männer sprechen also in Teilen eine andere »Sprache« der Depression. Denn wenn Symptome Kommunikationsbeiträge sind, dann entscheidet der Kontext darüber, in welcher Sprache sie verstanden werden können. Während es in der einen Familie sinnvoller sein mag, Ängste zu entwickeln, komme ich in der anderen Familie besser mit einer Depression zurecht.
Symptome haben also eine Menge über die Person und ihre Umgebung zu sagen. Sie sehen nicht bei jedem Menschen gleich aus. Bei meinen Patient:innen eine Depression zu diagnostizieren, fühlt sich für mich manchmal an, als würde ich eine bunte Fliese zerbrechen und die dunklen Teile zu einem neuen Mosaik zusammensetzen. Ich mache aus einem einstündigen Erstgespräch mit Tränen, Lächeln und individueller Erfahrung eine Diagnose mit neun Kriterien. Jemand erzählt mir sein Leben und ich notiere: »F32.2 schwere depressive Episode (ICD-10)«. Es klingt, als wäre diese Depression etwas Festes, etwas, das zu dem Menschen vor mir gehört oder ihn gar ausmacht. Dabei glaube ich daran gar nicht.
Der Ansatz der narrativen Therapie begreift psychische Störungen als Reaktion auf Geschichten oder Erzählungen. Meistens entstehen diese Geschichten in dem familiären, beruflichen und sozialen System, in dem wir leben. Vielleicht wächst ein Kleinkind in einer liebevollen Familie auf, die bemerkt, dass es etwas später zu sprechen beginnt als sein älterer Bruder. »Das Kind ist nicht so der verbale Typ«, sagen die Eltern zärtlich und ermutigen es zum Ballspielen. Das Kind nimmt die Erzählung an, lässt lieber den Bruder sprechen, wird unsicherer mit dem eigenen Erzählen. »Ich kann mich nicht gut ausdrücken«, sagt es irgendwann über sich selbst. Dem Kind fällt nicht nur jedes Zögern, Stolpern und Sprachlossein auf, es fängt auch an, sein Leben anders zu gestalten. Es wählt ein mathematisches Gymnasium, nimmt ein Angebot, in der Schülerzeitung mitzuwirken, nicht an und lässt alle Bewerbungen von Freund:innen Korrektur lesen. Wahrscheinlich entstehen tatsächlich leichte Defizite. Als die Abgabe der Bachelorarbeit naht, verbringt diese Person schlaflose Nächte, checkt immer wieder die eigene Sprache und strengt sich unglaublich an. Sie erhält eine gute Note und denkt: »Gerade noch mal gut gegangen.« Den Master bricht sie ab: »Noch mal kann ich das einfach nicht.«
Beide Varianten (Aufgeben oder Überkompensation) führen zur Stabilisierung ihrer Geschichte. Gibt sie auf, bestätigt sie sich selbst, dass sie sich nicht gut ausdrücken kann. Leistet sie viel mehr, als sie muss, wird sie sich sagen: »Nur durch starke Anstrengung kann ich verbergen, dass ich es eigentlich nicht kann.« Auch ihre Umgebung beginnt, an dieses Narrativ unbewusst zu glauben – sie geben ihr vielleicht weniger Aufgaben, warten mit ihr gemeinsam auf das nächste Unglück oder achten mehr auf das, was schiefgeht. Je länger wir uns in diesen selbstverstärkenden Mustern befinden, desto schwieriger wird es, sie loszulassen.
Niemand in dieser Geschichte, oder Konstruktion, hat dabei Schuld oder Unrecht. Erwartungen und Erfahrungen bestätigen einander. Die Person in dieser Geschichte muss gar keine psychische Erkrankung entwickeln. Aber es ist nun gut vorstellbar, wie Erzählungen von »Sensibilität« und »geringer Belastbarkeit« (aber auch im Gegenteil: »Die hält alles aus!«) ein Leben prägen können.
Ein Teil des Wachsens und Lautstark-Seins ist für mich deshalb, die Geschichte unseres Lebens selbstbestimmt zu erzählen – den Schmerz, das Leid, den Sinn, die Empörung und die Bindung in einen Kontext zu stellen. Nach und nach ergeben das, was uns geschehen ist, und die Umgangsweise, die wir dafür gefunden haben, Sinn. Wir stellen fest, dass wir uns an die Bedingungen, in denen wir gelebt haben, hervorragend angepasst haben – und dass uns heute alternative Wege offenstehen. Wir ergründen, welche Ziele, Visionen und Werte wir in uns tragen, und entdecken neue Wege, diesen nachzugehen. Fühlen wir uns auf diesem Weg überfordert oder allein, kann eine Therapie sehr unterstützend sein.
Aus der dünnen Geschichte eines Defizits wird die reichhaltige Geschichte eines Lebens – mit all ihren Einzigartigkeiten und Ambivalenzen. Kreativität hilft uns dabei, neue Bilder, Worte oder Bewegungen für die Geschichte unseres Lebens zu finden.
Vielleicht fühlt es sich erst mal frech oder beängstigend an, Symptome als Lösungsversuche oder Reaktionen auf Geschichten zu bezeichnen. Denn das bedeutet auch, dass sie veränderbar sind. Es hört sich gefährlich nach »Lächle doch einfach mal« oder »Sieh nicht alles so negativ« an. Schließlich erzeugen Betroffene ihre Symp tome nicht als Manipulationsversuche. Und natürlich gibt es Risikofaktoren für psychische Erkrankungen, wie Armut, Diskriminierung oder kritische Lebensereignisse, die wir uns nicht selbst erzählen, die unabhängig von uns da sind.
Hilfreich zur Differenzierung ist hier die Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung nach Watzlawick. Er schreibt, dass es eine Wirklichkeit erster Ordnung gibt, also eine Ebene der Fakten. Ich bin eine weiße, mitteleuropäische cis-Frau von 1,68 m Größe. Ich wiege eine bestimmte Anzahl an Kilo und habe eine bestimmte Augenfarbe. Und dann gibt es noch die zweite Ordnung, die Ebene der Bedeutung – ich kann mich z. B. unterschiedlich dazu verhalten, dass ich weiß bin. Ich könnte leugnen, dass es Rassismus gibt, und behaupten, dass meine Position von relativem Wohlstand ausschließlich aus eigener Arbeit stammt. Ich könnte mitleidig darüber verzweifeln, in eine solch ungerecht vorteilhafte Position in der Gesellschaft geboren zu sein. Ich könnte anerkennen, dass ich gewisse Privilegien habe, und mich über die diskriminierungssensible therapeutische Arbeit informieren.
Die meisten Gefühle und Handlungen entstehen also aus der Wirklichkeit zweiter Ordnung. Als ich selbst eine Psychotherapie machte, musste ich einen Anamnesebogen ausfüllen. Darin stand die Frage, wie ich als Kind gewesen sei. Ich rief meine Mutter an, die mir, neben vielen liebevollen Zuschreibungen, erzählte, ich hätte die Tendenz gehabt, Dinge ein bisschen »größer zu erzählen, als sie eigentlich waren«. Das traf einen zutiefst schamhaften Punkt in mir. Ich erinnerte mich an Flunkergeschichten aus der Kindheit und musste mir eingestehen, dass ich auch heute noch gerne mal Erlebnisse übersteigert oder angereichert erzähle.
»Vielleicht bin ich eine Lügnerin«, sagte ich zu meiner Psychotherapeutin. Sie erwiderte: »Sie können das natürlich so sehen, wenn Sie das möchten. Ich denke, dass Sie eine gute Geschichtenerzählerin sind. Das, was sie früher Ihrer Mutter erzählt haben, erzählen Sie heute in Gedichten, Slamtexten und Kolumnen.« Diese Sichtweise erleichterte mich unendlich. Und sie machte mich auch stolz. Tatsächlich konnte ich reflektieren, dass ich durch die Möglichkeit, als Künstlerin auf der Bühne zu stehen, in meinem privaten Umfeld weniger übertrieb. Eines meiner Grundbedürfnisse, nämlich das, zu unterhalten, war durch die Kunst anders und weniger schädlich für meine Beziehungen gedeckt worden. Wenn wir lernen, unsere Bedürfnisse nicht schamhaft zu verschweigen, sondern lautstark auszudrücken, können wir kreative und spielerische Wege finden, sie zu erfüllen.
Heute denke ich außerdem, dass ich als Kind nicht wirklich gelogen habe. Ich habe nicht der Wirklichkeit erster Ordnung Rechnung getragen – der Größe, Geschwindigkeit oder Gefahr anderer Menschen –, sondern meiner emotionalen Wahrheit – meiner Angst, Spannung, Freude oder Aufregung. Ich habe die Geschichte so erzählt, dass auch andere diese Gefühle wahrnehmen konnten. Um es mit dem Psychologen Friedemann Schulz von Thun zu sagen: Ich habe nicht gelogen, ich war »doppelt ehrlich«, da ich zwei Realitäten Rechnung getragen habe. Die gleiche Eigenschaft, aus anderer Perspektive, wurde von einer Schwäche zu einer Stärke.
Es lohnt sich, einen Blick auf das eigene Leben zu werfen und zu prüfen, wann wir Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung gleichsetzen oder vertauschen. Wenn ich bei jemandem eine generalisierte Angststörung diagnostiziere, da ich Symptome wie anhaltende Sorgen über verschiedene Lebensbereiche, Konzentrationsstörungen und ständige Anspannung feststelle, ist das die Wirklichkeit erster Ordnung.
Aber was bedeutet es für die Einzelperson, dass diese Symptome vorliegen? Für manche Menschen ist besonders die ständige Nervosität schmerzhaft, für andere das Einschlafproblem. Manche Menschen würden erst sagen, dass sie sich wieder gut fühlen, wenn alle Symptome verschwunden sind, manche vielleicht bereits, wenn drei von ihnen fehlen. Manche Menschen finden die Diagnose erleichternd, manche Menschen fühlen sich stigmatisiert. Was eine Diagnose ist und was eine Diagnose bedeutet, sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Wir können psychische Erkrankungen, aber auch Charakter, Identität und Bewertungen also als Konstruktionen verstehen, ähnlich wie Baugerüste. Sie sind geprägt von der Gesellschaft, der Familie und den sozialen Bedingungen, in denen wir leben. Sie richten sich nach der Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen, und den Annahmen, die wir über die Welt und uns selbst haben. Das macht sie nicht weniger real, nicht weniger schmerzhaft. Das macht nur deutlich, dass wir als Menschen, genau wie Mimosen, eine unfassbare Klugheit darin besitzen, uns an unsere Umgebung anzupassen. Und dass Symptome veränderbar sind.
Es kann heilsam sein, hinter den eigenen Symptomen noch etwas anderes zu erkennen. Eine Sinnkrise vielleicht, eine Trennungsabsicht, ein Bedürfnis nach mehr Nähe, ein Bedürfnis nach mehr Ruhe, eine Frage nach Autonomie oder dem guten Leben. Frage dich also: Was ist deine Frage an das Leben? Was wollen dir deine Symptome sagen?
Was du verschweigst
Deine Symptome haben dir also oft etwas sehr Wichtiges zu sagen. Sie geben Aufschluss über deine Lebenssituation, deine Beziehungen und deine Bedürfnisse. Sie drücken Dinge aus, die du manchmal noch nicht einmal selbst verstanden hast. Und noch mehr: Sie drücken auch Dinge aus, die du selbst unterdrückst.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Lautstark sein« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.
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