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Leseprobe »Sicher in unsicheren Zeiten«: Ebene der Bewusstheit

Um eine Abwärtsspirale zu unterbrechen und die Stressreaktion zu stoppen, müssen wir uns der Angst erst einmal bewusst werden. In diesem Kapitel erfahren wir, was wir brauchen, um uns psychisch zu stabilisieren. Eine Leseprobe
Kopf mit Lichtern

Um die Abwärtsspirale zu unterbrechen und die Stressreaktion zu stoppen, müssen wir uns der Angst erst einmal bewusst werden. Wir sollten aus der Ebene des Unbewussten, der unbewussten Ängste und damit verbundenen Verstrickungen heraustreten und etwas Ordnung in unsere Welt bringen. In diesem Kapitel erfahren wir, was wir brauchen, um uns psychisch zu stabilisieren. Wir lernen, dass andere Menschen andere Ängste haben können und unter Umständen anderen Werten oder Weltbildern folgen als wir. Zunächst beschreibe ich die drei Formen der Grundangst und die damit zusammenhängenden Werte. Weiter stelle ich die drei Typenmuster einander in drei Fallbeispielen gegenüber und zeige auf, wie diese drei unterschiedlichen Weltbilder und Ansichten konfligieren und interagieren können. Am Ende des Kapitels gehe ich auf die typenspezifischen Entwicklungsfelder ein und führe an, welche typenspezifischen Herausforderungen der jeweilige Persönlichkeitstyp hat und wie er damit umgehen kann.

2.1 Typologie der Angst

Ich gehe davon aus, dass alle psychologischen Ängste im Kern auf drei Grundformen zurückgeführt werden können. Die Angst vor sozialem Ausschluss, die Angst vor Stillstand und die Angst vor Positionsverlust. Zunächst stellen wir uns die Frage, nach welchen Grundthemen der Mensch sich im Leben hauptsächlich ausrichtet und durch welche Handlungen und welches Streben er seine Persönlichkeit formt. Welches Selbstbild jemand hat und woraus er seine Grundmotivation im Leben bezieht. Wir können uns Fragen stellen wie:

  • Was gibt mir im Leben Sinn?
  • Nach welchen Wertvorstellungen lebe ich?
  • Was treibt mich zu Leistung an?
  • Wodurch werde ich besonders motiviert?

Die Antwort darauf wird jeder etwas anders beantworten, doch können wir alle Antworten hauptsächlich auf diese drei Grundformen der Angst zurückführen. Diese Angst dient uns. Sie treibt uns an und sie ist gleichzeitig der Motor, um eine spezifische Leistung zu erbringen. Sind wir uns dieser Grundthematik bewusst, wissen wir, welche Voraussetzungen wir brauchen, um unsere Ängste abzubauen und den damit verbundenen Stress zu reduzieren. Kennen wir unsere Ängste, kennen wir unser Selbstbild und wir wissen, was wir brauchen, um unseren Selbstwert zu stabilisieren. Wir werden uns unserer Identität besser bewusst und gelangen damit von der unbewussten, diffusen Ebene auf die Ebene der Bewusstheit. Auf dieser Ebene lernen wir, wie wir ticken. Wonach wir unsere Entscheidungen, Gedanken und Handlungen ausrichten. Welches Weltbild uns eigen ist, und wir sehen ein, dass es unterschiedliche Weltbilder gibt. Wir wissen auf dieser Ebene, was mit uns geschieht, wenn unsere Grundwerte unter Druck geraten oder gänzlich abhandenkommen. Wir finden zu unserer Persönlichkeit passende Strategien, um den damit verbundenen Stress zu bewältigen. Die nachfolgenden Abschnitte beschreiben die drei Grundformen der Angst anhand dieses Wertemodells und die zu jedem Angsttypus passenden Stressbewältigungsstrategien.

Insa Sparrer beschreibt in ihren Büchern (Wunder, Lösung und System, 2006b, S. 149, und Systemische Strukturaufstellungen, 2006a, S. 143) ein vergleichbares Modell und nennt es Glaubenspolarität. Sie beschreibt zahlreiche Aufstellungsbeispiele zu diesem Thema. Die drei Glaubenspolaritäten »Erkenntnis«, »Liebe« und »Ordnung« gehen auf die Yogalehre zurück. Sie stellen den Zugang zur eigenen Kraftquelle über »Jana-, Bhakti- und Karma-Yoga« dar, welche gleichzeitig auch drei Religionsformen beschreiben. »Bhakti-Aspekt als Liebe, Mitgefühl, Vertrauen (z. B. im Christentum); Jana-Aspekt als Erkenntnis, Wissen und Einsicht (z. B. im ursprünglichen Islam) und der Karma-Aspekt als Ordnung, Struktur und Handlung (z. B. im Judentum)« (S. 143). »In jeder intakten Religion müssen alle drei Pole, Liebe, Ordnung und Erkenntnis berücksichtigt werden. Wird ein Pol verleugnet, so entstehen verarmte und verzerrte Systeme« (Sparrer, Systemische Strukturaufstellungen, 2006b, S. 143). Diese drei Pole bei der Glaubenspolarität von Insa Sparrer entsprechen meinen Forschungsergebnissen und dem daraus abgeleiteten Typen- oder Wertedreieck (Enzler Denzler, Karriere statt Burnout, 2009).

Eine Grafik zur Übersicht über das Typendreieck findet der Leser im Anhang dieses Buches. Sowie auch einen Fragebogen dazu.

2.1.1 Sozialer Typ

Es gibt Menschen, die erleben ihr Dasein dann als sinnvoll, wenn sie Tätigkeiten verrichten können, die der Gemeinschaft von Nutzen sind. Sie sind motiviert, wenn sie sich als Teil einer Gruppe erleben, wenn sie Vertrauen in ihr Umfeld haben können und ein großer Teil ihrer Tätigkeit aus der Interaktion mit anderen besteht. Sie empfinden es als hohe Lebensqualität, wenn sie im regen Austausch mit Dritten stehen und Beziehungen harmonisch sind. Sie vermögen es, sich gut an andere anzupassen, um dazuzugehören. Ihre Begabung ist es, rasch an Informationen zu gelangen und diese an geeignete Stellen weiterzugeben. Es handelt sich hier um den sozialen Typ, der das »Wir« zum Lebensthema hat. Er hält Ethik und Moral besonders hoch, kümmert sich um Nahestehende, kann eine Bitte weniger gut abschlagen und bürdet sich manchmal zu viel Last von Dritten auf. Daraus folgt auch, dass er mit Kritik und Konflikten weniger gut umgehen kann und solche Situationen als Stress empfindet. Jegliche Art von Kritik bedeutet Konflikt und Anderssein als das Gegenüber. Das schürt die Angst vor Ausschluss und Ausgrenzung. Diese Angst kann dazu führen, dass diese Menschen die Neigung entwickeln, sich perfekt anzupassen, um ganz und gar das Gefühl zu haben, zu einer Gruppe zu gehören und sich von den Exponenten nicht zu unterscheiden. Für sie ist es schwierig, eine eigene Meinung zu bilden und diese öffentlich kundzutun. Die Überanpassung und das damit verbundene Gefühl von Zugehörigkeit mindert ihre Grundangst. Solange Zugehörigkeit zum gewünschten sozialen System gegeben ist, ist die psychische Stabilität vorhanden.

Kurze Zusammenfassung der Persönlichkeitsmerkmale des sozialen Typs

Der soziale Typ hat Angst vor Ausschluss aus einer sozialen Gemeinschaft. Er meidet die Angst, indem er sich den anderen Menschen seiner Gruppe anpasst und Konflikte umgeht. In Konfliktsituationen übernimmt er die Rolle des Vermittlers oder tritt den Rückzug an.

2.1.2 Erkenntnistyp

Es gibt Menschen, die das Leben dann als sinnstiftend ansehen, wenn sie möglichst viel Neues erleben. Ihr Leben soll vielfältig und interessant sein. Oft wechseln Menschen von diesem Typus ihren Job bzw. ihr Tätigkeitsgebiet regelmäßig nach drei bis sieben Jahren, weil dann die bisherige Arbeit sie nicht mehr fordert und sie nichts Neues mehr lernen können. Nicht mehr vorwärtskommen bedeutet Rückschritt. Routine ist für diese Menschen kaum auszuhalten und bedeutet Stress. Sie werden von einer unsichtbaren, jedoch spürbaren Kraft im Innern stets vorangetrieben. Damit solche Menschen sich stets wandeln können, müssen sie weitgehend unabhängig bleiben. Das heißt, dieser Typ Mensch bindet sich kaum an materielle Güter, oft nicht einmal an eine Familie, insbesondere Kinder. Er will so leben, dass ihm möglichst viele Optionen offenbleiben. Wenn ihm die Arbeit nicht mehr passt, dann muss er handeln und sich verändern können, ohne auf bestehende feste Strukturen Rücksicht nehmen zu müssen. Hat er sich zu stark – zum Beispiel an ein teures Haus und Familie mit Kindern – gebunden, sodass er sich aus materiellen Gründen nicht verändern kann, steigt seine Angst und damit das Stressniveau. Er empfindet Angst, wenn ihm Wandel als unmöglich erscheint. Seine Welt droht stillzustehen, das ist für ihn ein sehr unangenehmer Zustand. Solche Menschen sind stets in Aktivität, gehen vorwärts, treffen rasche Entscheidungen, können gut Altes und Bisheriges loslassen und sind in der Lage, Probleme rational zu analysieren und in Handlungen umzusetzen. Allerdings können sie Gefahr laufen, sich zu verzetteln, zu viel zu schnell zu wollen. Damit könnten sie sich überfordern. Von diesen Menschen höre ich häufig, dass sie keinen roten Faden im Leben finden. Sie planen ihre Karriere nicht, sondern ergreifen scheinbar wahllos Optionen, die sie gerade interessant finden und die sie im Leben an Erfahrungen reicher werden lassen. Sie sind deshalb auf vielen unterschiedlichen Gebieten erfahren und ausgebildet. Steht also ihre Welt still und können sie nicht handeln oder tun, also in Bewegung sein, dann erleben sie Angst und Stress. Psychische Stabilität ist umgekehrt dann am ehesten gegeben, wenn diese Menschen tätig sein können, wenn sie lernen, sich frei fühlen, etwas Neues sehen und anpacken dürfen.

Kurze Zusammenfassung der Persönlichkeitsmerkmale des Erkenntnistyps

Der Erkenntnistyp hat Angst vor Stillstand, Einengung und Leistungsabbau. Um diese Angst zu vermeiden, scheut er Routine, sucht Abwechslung und eröffnet sich immer wieder neue Lernfelder. Leistungsdefizite und Hindernisse beim Vorankommen kompensiert er mit höherem Arbeits-/Energie- und Lerneinsatz und zeigt sich in Lösungsfindungen rational und flexibel.

2.1.3 Ordnungsstrukturtyp

Die dritte Gruppe hat als Lebensthema Einfluss, Regelwerke und Position. Diese Menschen empfinden es als tiefe Befriedigung, wenn sie in einem Unternehmen oder anderen sozialen Systemen eine klar definierte Position innehaben. Sie sind sehr motiviert, wenn sie Einfluss auf Dritte ausüben können, Regeln setzen und Verantwortlichkeiten zuteilen können. Sie mögen hierarchische Strukturen, da auf den ersten Blick klar ist, wer welchen Platz, welche Position mit welcher Verantwortlichkeit hat. Sie organisieren und strukturieren gerne Gruppen von Menschen. Ernstzunehmende Konkurrenz und Widerspruch lösen Angst aus. Angst, dass sie der Position nicht gewachsen sind, dass sie sie verlieren könnten. Diese Menschen zeichnen sich deshalb durch einen herausragenden Kampfgeist, eiserne Disziplin und Ehrgeiz aus, was dem Ziel dient, die Position zu rechtfertigen und zu behalten. Psychische Stabilität ist dann am ehesten gegeben, wenn diese Menschen sich ihres Rangs und ihrer Position in einer Gesellschaft oder in einem sozialen System sicher sind.

Kurze Zusammenfassung der Persönlichkeitsmerkmale des Ordnungsstrukturtyps

Der Ordnungsstrukturtyp hat Angst, seine Position in einem sozialen Gefüge zu verlieren. Um diese Angst zu vermeiden, kämpft er um seine Position, sichert sie ab, weiß über Rechte, Kompetenzen und Regelwerke gut Bescheid und ist stets bemüht das soziale Gefüge zu ordnen und Verantwortlichkeiten zu regeln. Sieht er seine Position bedroht und sich im Unrecht, lenkt er von der brisanten Thematik ab und richtet den Fokus auf Erfolg versprechende Themen. Er sorgt dafür, dass die hierarchische Ordnung unter allen Umständen erhalten bleibt.

2.1.4 Beispiele von Wertekonflikten unter den Persönlichkeitstypen

Weshalb kann es bedeutsam sein zu wissen, wer welchem Typenmuster angehört? Es erleichtert das Zusammenleben von uns Menschen. Wie oft höre ich:
»Mein Chef will mich mobben. Er will mich einfach nicht in seinem Team. Er mag mich nicht!«
Oder:
»Dieser Mensch ist so grob zu mir, so unfreundlich, er entwertet mich ständig, wieso tut er das? Ich habe ihm doch nichts zuleide getan. Was hat er gegen mich, dass er mich so abschätzig und zurückweisend behandelt?«

Wir können uns viel Leid ersparen, wenn wir uns bewusst machen, dass der andere gar nichts Persönliches gegen uns hat. Er oder sie und auch wir handeln oft aus dem Mangel von unbefriedigten Bedürfnissen heraus. Also aus der Angst, weil er oder wir nicht die Situation im Leben vorfinden, die wir brauchen, um zufrieden zu sein. Wir sind stets bestrebt, ein Umfeld, eine Situation zu erschaffen, die uns nicht an unsere Ängste erinnert. Wohl bemerkt, unsere Ängste sind und waren schon vor der Situation vorhanden, wir konnten sie jedoch kompensieren, sodass wir sie nicht bemerken mussten. Die Stress mindernde und Ordnung bringende Einsicht ist im Grunde die, dass der andere uns nicht schaden und verletzen kann, wenn wir selbst nicht genau diese Angst hätten, die er in uns wachruft. Und dasselbe gilt natürlich umgekehrt auch.

Ich führe untenstehend ein paar Beispiele an, die diese Theorie verdeutlichen soll. Weiterführende Beispiele in Geschichtsform sind in meinem Buch »Die Kunst des klugen Umgangs mit Konflikten« enthalten (Enzler Denzler, 2020).

Beispiel 1: Wenn Werte und Ängste eines sozialen und eines Erkenntnistyps interagieren und konfligieren

Der soziale Typ sitzt nach drei Wochen Ferien den ersten Tag wieder in seinem Büro. Der Erkenntnistyp tritt an ihn heran, reicht ihm einen Papierstapel und meint: »Ich habe in diesem Projekt Vereinfachungsmöglichkeiten gefunden, die ich mit dir besprechen will. Tauschen wir X gegen Y aus, dann könnten wir uns viel Zeit sparen und auch die Fehlerquote senken. Kannst du das mal nachprüfen?« Der soziale Typ schaut irritiert. Ihm geht das nach seinen Ferien viel zu rasch, zu ruppig, zu rational. Er fühlt sich als Mensch nicht ernst genommen und ist befremdet aufgrund des Tempos des Erkenntnistyps. Er wehrt den Erkenntnistyp ab, indem er meint: »Ich habe jetzt dann gleich Kaffeepause, wir könnten ja erst einmal einen Kaffee trinken gehen und nachher schaue ich dann gelegentlich mal in dieses Papier.« Der Erkenntnistyp, der Leser ahnt es, hat hierfür keine Zeit und meint: »Nein, ich habe noch ein paar andere Dinge, die ich mir ansehen will, ich nutze die Zeit besser dazu. Kaffeetrinken ist nicht so mein Ding« und geht davon. Der soziale Typ, den schon die Aufforderung zum Kaffee, anstatt umgehend auf das Bedürfnis des Erkenntnistyps einzugehen, viel Mühe und Überwindung seiner Ängste gekostet hat, sagt daraufhin nichts mehr. Er ist frustriert, nimmt aber achselzuckend und mit säuerlichem Lächeln das Papier entgegen und meint: »Ja klar, mach ich so rasch als möglich!« Der soziale Typ, konfliktscheu, beklagt sich bei seinem Freund: »Der Typ fragt nie, wie es mir geht, ob ich schöne Ferien gehabt habe, oder gibt zu erkennen, dass er sich freut, dass ich wieder am Arbeitsplatz bin. Der mag mich nicht, meint, ich hätte dauernd Zeit zum Kaffeetrinken und Pause machen. Vielleicht hatte er auch keine Kinderstube oder ist einfach autistisch.« Und der Erkenntnistyp? Er wird zu seinem Kollegen sagen: »Der Mensch macht mich wahnsinnig, da habe ich gute Ideen und der ignoriert sie einfach, er lenkt ab mit »Kaffeetrinken«. Er wertschätzt meine Leistung nicht! Er sieht mich nicht, nimmt mich nicht ernst, hat kein Verständnis für meine harte Arbeit!« Beide haben auf ihre Art recht. Gegenseitig haben sie nicht erkannt, dass jeder von ihnen einen ganz anderen Blick auf die Welt hat. Dass jeder von ihnen mit anderen Ängsten und Bedürfnissen zu kämpfen und daraus unterschiedliche Verhaltensmuster und Wertehaltungen abgeleitet hat. Wüsste der soziale Typ, dass es sich bei seinem Sparringspartner um einen Erkenntnistyp handelt, dann sähe er ihn in seinem Leistungswillen und dem Willen vorwärtszukommen, sich zu entwickeln und könnte darauf eingehen. Umgekehrt, wenn der Erkenntnistyp wüsste, dass er vor sich einen sozialen Typ hat, dann könnte er seinen Leistungswillen etwas zurücknehmen und ein paar Minuten auf diesen persönlich eingehen. Beide wären sie in der Lage, ihre Bedürfnisse zurückzunehmen, um dem anderen ein bisschen mehr Raum zu geben. Käme also der Erkenntnistyp zum sozialen Typ mit der Frage: »Ich sehe, du bist erst gerade aus den Ferien zurück und vielleicht noch nicht bereit, meiner Idee, die ich entwickelt habe, zu folgen. Mir ist es wichtig, dass du dir meine Vorschläge genau ansiehst, wann, meinst du ist, hierfür eine gute Zeit? Oder brauchst du zuerst einen Kaffee?« Mit einem Satz wären die Bedürfnisse des sozialen Typs nach Zugehörigkeit erfüllt, ohne dass der Erkenntnistyp auf seine Bedürfnisse nach Weiterentwicklung verzichten müsste.

Beispiel 2: Wenn Werte und Ängste eines Ordnungsstruktur- und eines Erkenntnistyps interagieren und konfligieren

»Du, Dieter, ich habe da eine neue Idee zu deinem Projekt. Damit könnten wir unsere bisherigen Prozesse schlanker gestalten, wären viel effizienter, auch die Fehleranfälligkeit würde sich wahrscheinlich stark reduzieren«, sagt Marianne zu ihrem Chef, einem Ordnungsstrukturtyp. »Mh«, antwortet dieser, »du hast es natürlich nötig, effizienter zu werden und deine Fehler zu reduzieren. Das sagt mir eine, die komplizierter nicht arbeiten könnte. Wäre ich nicht dein Chef, du würdest wohl nicht mehr lange hier sein, bei deiner Fehlerquote!« Und nach diesen Worten verschwindet Dieter in seinem Büro. Sofort beginnt es in Mariannes Kopf zu drehen: »Was? Bin ich nicht genügend effizient? Ich bringe hier den höchsten Umsatz der Abteilung! Fehler? Nun, Dieter ist auch ein Kontrollfreak, korrigiert mir jedes Komma, alles unwesentliche Dinge, die materiell nichts bringen. Wenn das effizient ist! Viel zu kompliziert ist der! Mit dem kommt man nirgends hin. Und jetzt soll ich diejenige sein, die ohne ihn keine Anstellung mehr findet? Krass! Da fehlen mir die Worte! Was muss ich noch tun, damit er meine Leistung anerkennt? So redet er mit mir vor all meinen Leuten! Der will mich draußen haben, ich habe hier wohl nichts mehr verloren! Ob er mir wohl Ende des Monats kündigt?« Kurze Zeit darauf wird Marianne zu Dieter in sein Büro gerufen, es ist der 30. Januar. Was geht wohl Marianne jetzt durch den Kopf? Sie werden es erraten, liebe Leser. »Aha, es ist der 30. Januar, jetzt wird er mir kündigen. Das werde ich anfechten, das ist missbräuchlich, ich war immer fleißig, kam nie zu spät, habe keine groben Fehler gemacht, nie krank, ich brachte meine Abteilung zu guten Leistungen, sehr guten sogar. Nein, das werde ich nicht akzeptieren …« Im Büro von Dieter spielt sich Folgendes ab: »Marianne, ich habe gesehen, dass du täglich mit dem Auto kommst und einen unserer Parkplätze belegst. Da diesen Vorzug nicht alle Mitarbeitenden genießen, werde ich zukünftig CHF 150,-/Monat für den Parkplatz verlangen müssen. Bitte überlege dir, ob du den Parkplatz noch weiterhin benutzen willst, und gib mir doch morgen Bescheid. Außerdem finde ich, dass deine Stellvertreterin nicht genügt und du sie zu stark schützt. Ich möchte, dass du mit ihr sprichst und sie zu besseren Leistungen anhältst. Ihr seid so ein verschworenes Team, dass man meinen könnte, ihr zwei habt etwas zu verbergen.« Das war alles, was Dieter in dieser Sitzung zu sagen hatte. Sie können sich vorstellen, wie durcheinander Marianne danach war. »Er hat überhaupt kein Wort über das neue Projekt verloren, er hat getan, als wäre nichts vorgefallen. Er hat mir keine Fehler mehr vorgeworfen, mich nicht gekündigt, sondern über Parkplatzregelungen gesprochen, was die Personalabteilung bereits getan hat. Er hat mir eigentlich nichts gesagt, außer, dass ich meine Stellvertreterin schütze und wir gut zusammenarbeiten würden, sodass es ihm nicht mehr wohl ist. Was bitte, soll ich jetzt damit anfangen? Ich kann doch meine Stellvertreterin nicht rügen, die arbeitet sehr gut. Was wollte er von mir? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, er will mich sicher kündigen, warum tut er es dann nicht?«

Wüsste Marianne, dass ihr Wertebild sich mit dem Wertebild von Dieter nicht deckt, könnte sie besser verstehen, worum es hier geht. Dieters Wert ist der Erhalt einer Position in einem sozialen System, hier in der Unternehmung. Es handelt sich um eine Chefposition in einer Firma. Marianne ist ihm zu forsch. Sie tritt an ihn heran, wie wenn sie hierarchisch Gleichgestellte wären. Sie respektiert und gesteht – nach Dieters Ansicht – ihm seine Funktion nicht zu, indem sie ihn kritisiert und für sein Projekt Verbesserungsvorschläge macht. Aufgrund seiner Angst, der Position nicht zu genügen und sie nicht wert zu sein, fährt er Marianne an und wirft ihr – gemäß seiner Werthaltung – vor, dass sie selbst es sei, die auf ihrer Position nicht genüge. Er stellt sich als denjenigen dar, der Mariannes Position schützt und erhält. Er wirft ihr Fehler vor, weil sie ihm – seiner Meinung nach – vorgeworfen hat, das Projekt nicht vollständig und perfekt zu führen. Sie stellte ihm ein ungenügendes Zeugnis aus, also tut er es ihr gleich. Und er setzt noch eins drauf, damit sein Positionsanspruch wiederhergestellt ist. Das Vorgehen von Marianne ist in den Augen von Dieter entwertend. Dies veranlasst ihn, seinerseits ihren Wert infrage zu stellen. Marianne hingegen funktioniert nicht nach dem Wert »Position«, ihr Kriterium ist »Leistungserbringung«. Sie meint, sie hätte »wertfrei« Dieter dazu angeregt, sein Projekt zu verbessern, um damit seine Leistung und die des gesamten Teams zu steigern. Deshalb erlebte sie es als erniedrigend, dass Dieter hierfür keinerlei Verständnis zeigt. Dieter hat vermutlich sehr wohl gemerkt, dass Marianne mit ihren Ideen objektiv gesehen gar nicht so danebenliegt, darum hat er das Projekt auf der Sitzung vom 30. Januar gar nicht mehr erwähnt. Er wollte ihr bei dieser Sitzung lediglich klarmachen, dass er sich von seiner Position nicht verdrängen lässt und dass sie sich gefälligst auf ihre Position, in hierarchischer Abgrenzung zu ihm, nämlich eine Stufe darunter, besinnen soll. Sie soll sich um ihre Stellvertretung kümmern und zusehen, dass sie bei ihren eigenen Leisten und Aufgaben bleibt.

Hier stehen sich also die Werte »Position« und »Leistung« gegenüber. Dieter hat vermutlich nie daran gedacht, Marianne zu kündigen. Er verlangt nur, dass sie seine Position respektiert. Wäre sich Dieter bewusst, dass Marianne ihn nicht in seiner Position verletzen wollte, hätte er ihr als Antwort geben können: »Marianne, ich weiß, dass du fleißig bist und dir viele Gedanken machst. Das schätze ich. Ich möchte dich aber bitten, dass du nicht über deine Kompetenzen hinaus tätig wirst und dich mit Dingen beschäftigst, die in meine Kompetenz fallen. Wenn ich deine Hilfe benötige, komme ich auf dich zu. Deine Ideen möchte ich mir dennoch ansehen und bei Gelegenheit darauf zurückkommen.« Dieter hätte damit seine Position klar zum Ausdruck gebracht, ohne dass er die Leistung von Marianne geschmälert hätte. Für Marianne wäre diese Kritik zwar auch nicht leicht zu ertragen gewesen, doch wäre diese für sie vermutlich nachvollziehbarer gewesen. Wahrscheinlich hätte eine solche Reaktion kein ständiges Gedankenkreisen über eine mögliche Kündigung in ihr ausgelöst. Hätte sie umgekehrt Kenntnisse über ihre beiden unterschiedlichen Wertevorstellungen gehabt, wäre sie nicht so forsch auf Dieter zugegangen. Sie hätte geahnt, dass sie Dieter in seinem Wert Position verletzen könnte und die Folgen davon wären absehbar gewesen.

Beispiel 3: Wenn Werte und Ängste eines Ordnungsstrukturtyps und eines sozialen Typs interagieren und konfligieren

Der soziale Typ neigt dazu, Konflikte zu negieren. Das heißt, er wird sich dem Ordnungsstrukturtyp gut anpassen und wird ihm in seiner Position nicht gefährlich. Dem Ordnungsstrukturtyp ist es mit dem sozialen Typ meist sehr wohl. Daher möchte ich an dieser Stelle eine Dynamik aufzeigen, die aufgrund einer solchen Konstellation ein dramatisches Ausmaß angenommen hat. Ähnliche, vielleicht weniger zugespitzte Konstellationen finden wir im Alltag immer wieder.

Soziale Typen beanspruchen für sich keine Position, weil sie sich vom Gegenüber nicht abgrenzen wollen. Verschmelzung liegt in ihrem Wesen. Sie passen sich an. Nun kann dieses Streben in extremis so weit gehen, dass der soziale Typ kaum mehr einen Bezug hat, wer er selbst ist, welche Bedürfnisse und Meinungen er selbst hat. Ist der Ordnungsstrukturtyp sehr stark in seinem Positionierungswillen ausgeprägt, kann es beim sozialen Typ bis zur Unterwerfung kommen. Letzterer wird kaum mehr eigene Entscheidungen treffen und er erkennt nicht, was für ihn selbst gut und richtig ist. Ich habe Fälle in meiner Praxis erlebt, da war der soziale Typ überzeugt, dass er ohne den Ordnungsstrukturtyp nicht überlebensfähig wäre. Diese Dynamik kommt bei im frühen Jugendalter geschlossenen und über Jahrzehnte andauernden Ehen und auch in patriarchisch strukturierten Unternehmungen vor. In diesem Beispiel zeige ich eine ungesunde Dynamik einer Ehe auf. Das Familienoberhaupt bestimmt und entscheidet, wie eine Wohnung eingerichtet wird, was es zu essen gibt, wie es gekocht wird und wie die Freizeit zu gestalten ist. Wird dies vom sozialen Typ nie hinterfragt, verliert er nach und nach ein Gefühl dafür, welches Leben er ohne diese Vorgaben führen würde. Er weiß nicht mehr, welche Interessen er selbst eigentlich hat, welche Vorlieben für Freizeitgestaltung, Auswahl von Freunden und was für eine Lebensgestaltung er im Allgemeinen bevorzugen würde. Solche Paare werden als Einheit erlebt, sie sind verschmolzen. Sie werden auch von außen nicht als zwei eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen. Der eine ist vom anderen abhängig. Beide leben in einer gegenseitigen Abhängigkeit. Der Ordnungsstrukturtyp findet seine Bestätigung der Position in der vollständigen Anpassung des anderen, der andere kann seine Verschmelzungssehnsucht nur in dieser Form der Überangepasstheit erleben.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Sicher in unsicheren Zeiten« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.

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