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Leseprobe »Smart Management«: Was Sie (wahrscheinlich) nicht an der Business School gelernt haben

Die im Buch vorgestellten einfachen Heuristiken helfen dabei, trotz begrenztem Wissen und wenig Zeit die richtigen Entschlüsse zu fassen. Anhand von Best Practices erfolgreicher Managerinnen und Manager erläutern die Autoren verschiedene heuristische Herangehensweisen und erklären, in welchen Situationen sie am besten anzuwenden sind. Eine Leseprobe
Eine Sanduhr auf dem Schreibtisch, im Hintergrund sitzt eine Frau vorm Rechner.

Erinnern Sie sich an die Coronapandemie, die damit einhergehenden Einschnitte bei den globalen Vertriebsketten und die resultierende Warenverknappung? Vor der Pandemie hatten viele Institutionen die Illusion der Sicherheit – die Überzeugung, dass die Welt sicherer sei, als sie tatsächlich ist. Nach jahrzehntelangem Festhalten an der Annahme, dass alle Risiken vorausgesehen, quantitativ gemessen und kontrolliert werden können, wird die Realität der Ungewissheit in Unternehmen und Verwaltungen wieder stärker anerkannt. Das Unterscheiden zwischen Risiko und Ungewissheit ist maßgeblich für erfolgreiche Entscheidungen mithilfe von smarten Heuristiken.

An Business Schools werden viele Fähigkeiten vermittelt, aber was das Entscheiden angeht, so werden die nützlichsten leider oft ausgelassen. Dieses Versäumnis ist kein Zufall. Management-, Führungs- und Finanzseminare lehren, dass eine rationale Entscheidungsfindung darin bestehe, die Alternative mit dem höchsten zu erwartenden Nutzen zu wählen, was impliziert, dass alle denkbaren Folgen jeder möglichen Option vorhergesehen werden müssen. Gute Manager, so heißt es, suchen nach allen relevanten Optionen und analysieren sorgfältig die möglichen Konsequenzen, wägen Nutzen gegen Wahrscheinlichkeiten ab und berechnen, welche Option den erwarteten Nutzen maximiert. Auf der ganzen Welt bringen Business Schools diesen Ablauf unzähligen Studierenden bei. »Mehr ist besser« ist zu einem Glaubenssatz geworden: mehr Zahlen, mehr Datenverarbeitung und mehr Analyse gelten als Voraussetzungen besserer Entscheidungen.

Vor langer Zeit erteilte Benjamin Franklin seinem Neffen einen Rat: Wenn du im Zweifel bist, schreibe das Für und Wider all deiner Optionen auf, wäge sie gegeneinander ab und berechne die beste Option; anderenfalls wirst du niemals heiraten.1 Doch nur wenige Menschen wählen ihren Partner tatsächlich aufgrund von Berechnungen – und das zu Recht. Einen passenden Partner zu finden, enthält ein hohes Maß an Ungewissheit, wie die Scheidungsquoten zeigen. Wenn es ums Heiraten geht, kann man nicht alle möglichen Konsequenzen vorhersagen, ganz zu schweigen von ihrer exakten Wahrscheinlichkeit. Dasselbe gilt auch für das Geschäftsleben: Es ist unmöglich, alle möglichen Folgen vorauszusehen, wenn man einen ausländischen Markt erschließt, ein Unternehmen aufkauft oder einen neuen CEO einstellt.

Für gewöhnlich ist die Maximierung des erwarteten Nutzens, die an Wirtschaftshochschulen unterrichtet wird und von Benjamin Franklin empfohlen wurde, hilfreich in stabilen, klar definierten Situationen, in denen niemals etwas Unerwartetes geschieht. Allerdings agieren Führungskräfte in einer zunehmend volatilen, ungewissen, komplexen und mehrdeutigen Welt (engl. volatile, uncertain, complex, ambiguous = VUCA). Da ist der Rat, alle Informationen einzuholen, alle Optionen zu bedenken und alle möglichen Konsequenzen und die damit verbundenen Wahrscheinlichkeiten vorauszusagen, wenig hilfreich. Er schafft eine Illusion der Gewissheit.

Nichtsdestotrotz entscheiden Führungskräfte regelmäßig, wen sie einstellen, wann sie ein Projekt terminieren und ob sie ein weiteres Unternehmen aufkaufen. Um diese Entscheidungen zu treffen, stützen sie sich auf eine Reihe von Tools, die als Heuristiken bezeichnet werden. Leider leiten Business Schools ihre Studierenden nur selten darin an, diese machtvollen Instrumente zum Treffen intelligenter Entscheidungen einzusetzen. Vielmehr werden Heuristiken, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, eher als etwas dargestellt, das es zugunsten komplexerer Entscheidungsstrategien zu vermeiden gilt. Populärwissenschaftliche Bücher geben diese negative Sichtweise wieder und weisen (rückblickend) gern alle möglichen Katastrophen, von Übergewicht bis Finanzkrise, den »Heuristiken und Bias (Verzerrungen)« zu.2 In diesem Buch wollen wir Ihnen eine positivere, realistischere und praktischere Sichtweise vermitteln und Ihnen eine systematische Einführung in die Wissenschaft und Kunst der heuristischen Entscheidungsfindung geben.

Eine Heuristik ist eine einfache Regel, die es ermöglicht, Entscheidungen schnell, sparsam und genau zu treffen. Heuristiken sind notwendig in ungewissen Situationen, wenn die für eine Maximierung des Nutzens erforderlichen Bedingungen nicht existieren. Die Unterscheidung zwischen Situationen des Risikos, in denen eine Maximierung möglich ist, und ungewissen Situationen, in denen das nicht der Fall ist, geht zurück auf den Wirtschaftswissenschaftler Frank Knight.3 Sie wurde seither in praktisch jedem Lehrbuch der Ökonomie erwähnt, nur um im Folgenden ignoriert zu werden. Hier geben wir der Ungewissheit die Aufmerksamkeit, die sie verdient, und nehmen Heuristiken ernst.

Als nächstes stellen wir drei Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften vor. Was haben sie über Entscheidungsfindung gedacht? Und wie haben sie ihre eigenen Entscheidungen getroffen?

Herbert Simon und Satisficing

Herbert A. Simon erhielt 1978 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften »für seine bahnbrechende Forschung zum Entscheidungsfindungsprozess in Unternehmen«.4 Der Prozess der Entscheidungsfindung kann über den Erfolg oder Misserfolg einer Organisation entscheiden. Verblüffenderweise wird jedoch eben dieser Prozess in Organisations- und Wirtschaftstheorien nur selten für relevant erachtet. Vielmehr postuliert die ökonomische Theorie, dass Manager sich so verhalten, als würden sie ihren erwarteten Nutzen maximieren, egal wie sie zu Entscheidungen gelangen. Simon widersprach der in der klassischen Theorie aufgestellten Annahme, dass Führungskräfte allwissende Profit- oder Nutzenmaximierende sind, und hob das völlige Fehlen von Beweisen hervor, dass die Theorie beschreibt, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Als Reaktion auf diese Form der Kritik erwiderte Milton Friedman 1953 bekanntlich, es sei unwesentlich, ob die Maximierung des erwarteten Nutzens den Prozess der Entscheidungsfindung beschreibe oder nicht; es handele sich lediglich um ein Instrument zur Verhaltensprognose, und nur seine Vorhersagegenauigkeit zähle.

Allerdings kam eine kritische Betrachtung von fünfzig Jahren Forschung zu Nutzenfunktionen – darunter zum Nutzen von Ertragsfunktionen, zum Nutzen von Vermögensfunktionen und zur Wertfunktion in der Prospekttheorie – zu dem Schluss, dass die Fähigkeit der Nutzenfunktionen, »Out-of-Sample- Voraussagen zu treffen, sich im Bereich von mager bis nicht existent bewegt«.5 Diese Ergebnisse stützen Simons Kritik, dass die Theorie des erwarteten Nutzens nicht nur kaum fähig ist, zu beschreiben, wie Entscheidungen getroffen werden, sondern auch zu unbestimmt und zu flexibel ist, um gute Voraussagen zu treffen.

Out-of-Sample bedeutet, dass Daten vorhergesagt werden, die nicht bereits zur Erstellung des Vorhersage-Modells verwendet wurden. Im Gegensatz dazu werden Nutzensfunktionen und andere komplexe Modelle häufig »überprüft«, indem ihre Parameter einfach an bereits bekannte Daten angepasst werden. Es ist daher irreführend, zu behaupten, dass diese Modelle Entscheidungen »vorhersagen«, wenn sie tatsächlich lediglich die Anpassung an schon bekannte Daten optimieren. Optimierung ist ein mathematisches Konzept, das bedeutet, das Maximum oder Minimum einer Kurve zu bestimmen, zum Beispiel einer Nutzensfunktion. Der Unterschied zwischen Anpassung (»data fitting«) und Vorhersage ist entscheidend. Ein komplexeres Modell mit mehr freien Parametern kann natürlich besser an bereits bekannte Daten angepasst werden. Doch ist das resultierende Modell häufig überangepasst und weniger in der Lage, eine Vorhersage zu treffen – zum Beispiel wenn die Zukunft nicht so ist wie die Vergangenheit.6 Selbst wenn man also Friedmans fragwürdiges Argument akzeptiert, dass Theorien lediglich Ergebnisse voraussagen und nicht den Prozess der Entscheidung beschreiben sollen, schneidet die Theorie der Maximierung des erwarteten Nutzens dennoch schlecht ab: Sie beschreibt nicht gut und prognostiziert auch nicht gut, zumindest nicht in der ungewissen Geschäftswelt.

Simon postulierte stattdessen, dass Menschen in Situationen, in denen Optimierung unmöglich ist, nach Lösungen suchen, die gut genug sind (»satisfice «). Der Begriff Satisficing, der aus Northumberland kommt (einer Region Englands nahe der schottischen Grenze), bedeutet »genügen«. Was Satisficing ist, lernte Simon aus unmittelbarer Erfahrung: Mitte der Dreißigerjahre, nachdem er eine Lehrveranstaltung über Wirtschaftstheorie an der University of Chicago besucht hat, versuchte er, die Nutzenmaximierung auf Haushaltsentscheidungen des Erholungsamtes seiner Heimatstadt Milwaukee anzuwenden. Zu seiner Überraschung verglichen die Manager den Grenznutzen einer geplanten Investition nicht mit ihren Grenzkosten. Vielmehr fügten sie dem Vorjahresetat einfach kleine Änderungen hinzu, verließen sich auf Gewohnheiten und Absprachen oder stimmten aufgrund ihrer Identifikation mit Organisationen ab. Simon schloss daraus, das Konzept der Nutzenmaximierung in der tatsächlichen Geschäftswelt sei »ein hoffnungsloser Fall«.7 Diese Erfahrung stellte ihn vor eine neue Frage: Wie entscheiden Menschen, wenn die Bedingungen für die vom Modell der neoklassischen Ökonomie geforderten Rationalität (zum Beispiel über vollständige Informationen zu verfügen oder eher unter Risiko als unter Ungewissheit zu agieren) nicht erfüllt sind? Die Antwort fand er in heuristischen Prozessen, darunter Wiedererkennung (»recognition «), Satisficing, heuristische Suche und Anspruchsniveau (»aspiration level«). Das Studium der Heuristiken ermöglicht es uns, sowohl den Prozess zu beschreiben als auch die Ergebnisse von Entscheidungen vorauszusagen.

Simon lebte das, was er über das Prinzip des Satisficing lehrte. Er traf Entscheidungen leicht und rasch, indem er nur wenige Optionen und ihre wichtigsten Konsequenzen in Betracht zog. Laut seiner Tochter Kathleen Simon Frank war er immer bereit, mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen zu leben, statt ständig über Dinge zu grübeln.8 Er war sehr bodenständig, führte ein bescheidenes Leben und trug Tag für Tag dieselbe Art Kleidung. Er hatte nur drei Hemden: eines trug er, eines war in der Wäsche und eines hing im Schrank. Simons Leben war »satisficing«, und die auf diese Weise eingesparte Zeit nutzte er, um seiner Leseleidenschaft nachzukommen, um seinen Studierenden zuzuhören und um über Ideen zu diskutieren.

Harry Markowitz und die 1/N-Regel

Im Jahr 1990, zwölf Jahre nach Simon, erhielt Harry Markowitz den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Theorie der Portfolioauswahl. Anders als Simons Satisficing, das beschrieb, wie Menschen tatsächlich Entscheidungen treffen, war Markowitz’ Theorie normativ; sie schrieb also vor, wie Investoren ihr Vermögen auf Assets mit unterschiedlichen Erträgen (Mittelwert, »mean«) und Risiken (Varianz) verteilen sollten. Markowitz wurde für die Entwicklung einer mathematischen Formel geehrt, das Mittelwert-Varianz- Portfolio, das auf die Gewinnmaximierung ausgerichtet ist. Weltweit werden seine Formel und ihre vielen Spielarten noch heute an Wirtschaftshochschulen unterrichtet. Die Methode erfordert eine umfassende Analyse von Finanzdaten, um künftige Erträge, Varianzen und Kovarianzen vorauszusagen. Bei einer großen Anzahl von Assets kann das die Schätzung von Tausenden oder sogar Millionen Zahlen bedeuten.

Als Markowitz für die Zeit nach seiner Emeritierung eigene Investments vornahm, hätte man annehmen können, dass er dabei seine nobelpreisgekrönte Formel beherzigte. Tatsächlich hielt er sich jedoch an eine Heuristik, die als 1/N-Regel bekannt ist: das Geld gleichmäßig in N Optionen zu investieren. Wenn N = 2, bedeutet das eine Verteilung von 50:50 und so weiter. In der verhaltensorientierten Finanztheorie wird 1/N als naive Diversifizierung bezeichnet und den kognitiven Beschränkungen und der Irrationalität von Menschen zugeschrieben. Diese Mängel gelten jedoch eindeutig nicht für einen Ökonomen von Markowitz’ Format. Er erklärte später, seine Entscheidung, gleichermaßen in Aktien und Bonds zu investieren, habe das Ziel gehabt, künftige Reue zu vermeiden: »Wissen Sie, wenn der Aktienmarkt steigt und ich nicht investiert bin, fühle ich mich dumm. Und wenn er sinkt und ich investiert bin, fühle ich mich auch dumm. Also habe ich 50:50 gemacht.«9

Wer 1/N für naiv hält, übersieht eine wichtige Tatsache. Markowitz’ Portfoliotheorie ist nur in einer Welt optimal, in der sich die künftigen Erträge, Varianzen und Kovarianzen sämtlicher Assets voraussagen lassen. In einer ungewissen Welt jedoch führt die Einschätzung Tausender oder Millionen von Parametern aus zurückliegenden Daten zu einer Überanpassung (»overfitting«). Die 1/N-Regel dagegen hat keine freien Parameter, also kann sie nicht überangepasst sein. Was wie eine Einschränkung wirkt – keine freien Parameter –, kann sich bei der Voraussage als Vorteil erweisen. Dementsprechend belegten spätere Studien, dass 1/N bei Aktieninvestitionen oft besser abschneidet als das Mittelwert-Varianz-Portfolio, weil es robuster ist und keine Überanpassung aufweist.10 Weniger kann mehr sein.

Reinhard Selten: Spieltheorie und die Probleme der wirklichen Welt

Vier Jahre nach Markowitz (1994) gewann Reinhard Selten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeit zur Spieltheorie. Er hatte jedoch zwei wissenschaftliche Leidenschaften: neben der Spieltheorie war das die psychologische Untersuchung von Heuristiken und begrenzter Rationalität. Als ausgebildeter Mathematiker zog er zwischen den beiden eine klare Trennlinie. Er betrachtete seine Arbeit zur Spieltheorie als mathematisches Problemlösen in einer wohldefinierten Welt, nicht als Studie dessen, wie Menschen sich in der echten und ungewissen Welt verhalten oder verhalten sollten.

Nehmen wir Seltens berühmtes Chainstore-Paradoxon.11 Eine Kaufhauskette namens Paradise hat Filialen in zwanzig Städten. Ein Mitbewerber, Nirvana, plant die Eröffnung einer ähnlichen Ladenkette und will nach und nach entscheiden, ob er in jeder dieser Städte in den Markt eintreten soll. Immer wenn ein lokaler Herausforderer den Markt betritt, kann Paradise entweder mit einer aggressiven, rücksichtslosen Preisstrategie reagieren, die beiden Seiten Verluste verursacht, oder mit einer kooperativen Preisstrategie, die zu einer Fifty-fifty-Gewinnverteilung mit dem Eindringling führt. Wie sollte Paradise reagieren, wenn die erste Nirvana-Filiale eröffnet wurde – mit Aggression oder mit Kooperation?

Selten wies nach, dass Kooperation die beste Antwort ist. Sein Beweis beruht auf dem Prinzip der Rückwärtsinduktion, in der man logisch vom Ende bis zum Anfang rückwärts argumentiert. Wenn der letzte der zwanzig Konkurrenten in den Markt eintritt, gibt es keinen Grund zur Aggression, denn es gibt keinen künftigen Mitbewerber abzuschrecken. Daher sollte man kooperieren und kein Geld opfern. Überlegen Sie nun, was Sie mit dem vorletzten Herausforderer tun. Angenommen, dass Paradise sich dem zwanzigsten Herausforderer gegenüber kooperativ verhält, gibt es auch keinen Grund, dem neunzehnten gegenüber aggressiv zu sein, denn jeder weiß, dass die Kaufhauskette mit dem letzten Herausforderer kooperieren wird. Also sollte Paradise auch mit diesem Herausforderer kooperieren. Dasselbe Argument gilt für den achtzehnten Herausforderer und so weiter bis zurück zum allerersten. Seltens Beweis durch Rückwärtsinduktion impliziert, dass die Kaufhauskette in jeder Stadt vom ersten bis zum letzten Herausforderer kooperativ reagieren sollte.

Nach der Herleitung des Ergebnisses fand Selten seinen Beweis intuitiv als nicht überzeugend und gab an, dass er in der echten Welt eher seinem Bauchgefühl folgend aggressiv auftreten würde, um andere vom Markteintritt abzuschrecken:

Ich wäre sehr überrascht, wenn [Aggression] nicht funktionierte. Aus meinen Diskussionen mit Freunden und Kollegen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die meisten Menschen diese Tendenz teilen. Genau genommen habe ich bis jetzt niemanden sagen hören, dass er sich gemäß der [Rückwärts-]Induktionstheorie verhalten würde. Meine Erfahrung legt nahe, dass mathematisch ausgebildete Personen die logische Stichhaltigkeit der Induktionsargumentation erkennen, sich aber weigern, sie als Leitlinie für praktisches Verhalten zu akzeptieren

Seltens Aussage könnte den Verdacht erwecken, dass er ein Mensch war, dessen Impulse seine Vernunft ausstachen. Doch die tatsächliche Erklärung für seine Ablehnung der logischen Schlussfolgerung findet sich in seiner Unterscheidung zwischen wohldefinierten Situationen mit vollständigen Informationen, so wie bei dem Chainstore-Paradoxon, und der schlecht definierten Realität des unternehmerischen Wettbewerbs, bei dem die Rückwärtsinduktion keine sichere Leitlinie mehr ist. Die Diskrepanz zwischen Seltens Logik und seiner Intuition ist die Folge dieser wichtigen konzeptuellen Unterscheidung.

Dennoch lehren die meisten Business Schools bis heute, dass logische Argumente die Benchmark für erfolgreiche geschäftliche Entscheidungen seien, wogegen Heuristiken und professionelle Intuition zum Scheitern führen. Nehmen wir als Beispiel eine Podiumsdiskussion beim angesehenen zweijährlich stattfindenden OWL »Wissenschaft trifft Wirtschaft«-Tag an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Bielefeld, bei der Selten und einer von uns (Gerd Gigerenzer) mit zwei erfolgreichen lokalen Unternehmern sprachen. Das im Saal versammelte Publikum erwartete eine hitzige Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlern und Unternehmern, doch als Selten und Gigerenzer über die Vorteile von intelligenten Heuristiken und die Wichtigkeit der Intuition für die Innovation sprachen, stimmten die beiden Geschäftsgründer ihnen in allen Punkten zu. Mit einfachen Regeln und Bauchgefühl hatten sie ihre Firmen aufgebaut und ihren Wohlstand erzielt, obwohl sie darüber kaum etwas im Studium gelernt hatten. Am Ende appellierten Selten und Gigerenzer an die Professorinnen und Professoren im Publikum, Ungewissheit und Heuristiken ernst zu nehmen und ihre Studierenden zu lehren, wie man in der echten Welt profitable Entscheidungen trifft. Zunächst waren die Zuhörer sprachlos vor Schock, dann gingen einige beinahe durch die Decke. Doch die beiden Unternehmensgründer beharrten darauf, dass nur wenig von dem, was sie im Wirtschaftsstudium gelernt hatten, bei ihrer geschäftlichen Laufbahn von praktischem Nutzen gewesen sei. Sichtlich erheitert von der Debatte war der Präsident der Universität, ein ausgebildeter Computerwissenschaftler, der wusste, dass gute Heuristiken das A und O des Programmierens sind.

Ungewissheit ist nicht Risiko

Diese drei Nobelpreisträger repräsentieren drei Ansätze der Entscheidungsfindung. Simon entwickelte eine Theorie der heuristischen Entscheidungsfindung und nutzte sie für seine eigenen Entscheidungen. Markowitz vertrat die Theorie des optimalen Portfolios, bediente sich aber für seine eigenen Investitionen der 1/N-Heuristik. Selten entwickelte sowohl eine Theorie des optimalen Verhaltens in wohldefinierten Spielen und eine Theorie der Heuristiken in einer ungewissen Welt und stützte sich bei seinen eigenen Entscheidungen auf Heuristiken und Intuition. Während alle drei Nobelpreisträger sich für ihre persönlichen Entscheidungen auf Heuristiken verließen, ist der entscheidende Unterschied zwischen ihren Theorien, ob diese sich auch mit heuristischen Entscheidungen befassten oder nur mit Optimierung. Optimierung ist jedoch nur möglich in einer klar definierten, stabilen Welt mit bekannten Wahrscheinlichkeiten – was Knight als »Risiko« bezeichnete. In Situationen der Ungewissheit ist sie eine Illusion.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Smart Management« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.

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