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Leseprobe »The Thinking Machine«: Die Brücke

Das Sachbuch erlaubt einen seltenen und tiefen Einblick in das Denken des Mannes, der mit seinen Chips überhaupt erst ChatGPT und damit den jetzigen Hype um künstliche Intelligenz ermöglicht hat. Und es verdeutlicht, warum Huangs Rationalität in der oft dystopisch geführten Diskussion um die Folgen von KI häufiger durchscheinen sollte. Eine Leseprobe
Nahaufnahme einer grünen Leiterplatte mit einem zentralen schwarzen Mikrochip. Die Platine zeigt goldene Kontakte am Rand und mehrere kleine elektronische Bauteile, wie Widerstände und Kondensatoren. Feine Leiterbahnen verbinden die Komponenten. Text auf der Platine zeigt Bezeichnungen wie "R205" und "C807".

An einem Morgen im Winter 1973 machte sich der zehnjährige Jensen Huang wie jeden Tag auf den gefährlichen Weg zur Schule. In Taiwan geboren und in Thailand aufgewachsen, war der Junge erst kurz zuvor im ländlichen Kentucky eingetroffen. Sein Schulweg führte von einer Anhöhe hinab in eine Flussniederung, die sich zwischen bewaldeten Hügeln hindurchzog. Den Fluss überquerte Jensen auf einer an zwei Tauen aufgehängten, morschen Hängebrücke, in der viele Planken fehlten. Durch die Lücken sah man das eiskalte Wasser des in der Tiefe rauschenden Flusses.

Jensen Huang war ein aufgeweckter und strebsamer Junge. Er hatte ein Schuljahr übersprungen und war in der sechsten Klasse. Er war sehr klein für sein Alter und blieb jahrelang der Kleinste in seiner Klasse. Sein Englisch war fehlerhaft, und er war der einzige asiatische Schüler in der Schule. Die Eltern seiner Klassenkameraden in der Oneida Elementary School waren Tabakbauern und Bergleute in den Kohlegruben. Die Kinder waren fast alle weiß, und viele stammten aus armen Familien. Einige hatten zu Hause nicht einmal fließendes Wasser.

Huang war gemeinsam mit seinem älteren Bruder Jeff mitten im Schuljahr in Kentucky eingetroffen. Die Eltern der beiden Jungen waren in Thailand zurückgeblieben. Die Brüder wohnten in einem Internat, dem Oneida Baptist Institute, aber da Jensen noch zu jung für das Internat war, wurde er in die Grundschule von Oneida geschickt. Am ersten Tag begleitete ihn der Schuldirektor in seine Klasse, legte den Arm um die Schultern des Jungen und sagte Jensens Mitschülern, sie sollten ihren neuen Kameraden, der aus einem anderen Teil der Welt komme, aber außergewöhnlich intelligent sei, gut aufnehmen.

Sie begannen sofort, Huang zu schikanieren. »Er war das perfekte Ziel«, erinnert sich sein Klassenkamerad Ben Bays.

Vor Huangs Ankunft war Bays selbst das bevorzugte Opfer gewesen. Wie der Neuankömmling war auch er klein, und wie Huang war er ein guter Schüler. Die Mobber zeigten ihre Wertschätzung für diese Eigenschaften, indem sie ihn regelmäßig in seinen Spind einschlossen, wo er manchmal stundenlang ausharren musste. Nachdem Huang den Platz von Bays eingenommen hatte, wurde die Schikane um eine rassistische Komponente erweitert. Viele von Huangs Klassenkameraden hatten Verwandte, die in Vietnam gekämpft hatten. »Chinesen wurden damals ›Chinks‹ genannt«, erzählte mir Huang fünfzig Jahre später in unserem ersten Gespräch, das in einem sterilen Konferenzzimmer stattfand. Ich sah keine Regung in seinem Gesicht, als er davon sprach. »Wir wurden immer so genannt.«

Die Mobber quälten Huang in der Schule, auf dem Schulweg, bei jeder Gelegenheit. Sie stießen ihn auf den Fluren und jagten ihn über den Spielplatz. Am liebsten lauerten sie ihm bei der Hängebrücke auf. Huang musste die Brücke allein überqueren, was auch unter günstigen Umständen gefährlich war. Manchmal sprangen die Angreifer aus Verstecken an beiden Ufern, wenn er gerade die Mitte erreicht hatte. Sie packten die Taue und brachten die Brücke zum Schaukeln, damit Huang in den Fluss stürzte. »Er wirkte völlig gleichmütig«, erinnert sich Bays. »Es sah sogar so aus, als hätte er Spaß daran.«

Bays und Huang schlossen rasch Freundschaft. Trotz der Sprachbarriere war Huang ein vorzüglicher Schüler und löste Bays als Klassenbesten ab. Er zeigte künstlerisches Talent und hatte eine makellose Handschrift, obwohl er nur in Großbuchstaben schrieb. Und er brachte Bays das Kämpfen bei. Alles, was die einheimischen Kinder über die chinesische Kultur wussten, hatten sie aus Bruce-Lee-Filmen. Huang konnte seinen Klassenkameraden anfangs weismachen, dass er Kampfkünste beherrschte. Es dauerte nicht lange, bis diese Behauptung auf dem Schulhof überprüft und widerlegt wurde, doch Huang machte seine mangelnde Kampftechnik durch Entschlossenheit wett. Wurde er herausgefordert, so setzte er sich stets zur Wehr, und manchmal rang er sogar größere Jungen zu Boden. Bays kann sich nicht entsinnen, dass Huang jemals am Boden blieb. (»Ich habe es anders in Erinnerung«, sagt Huang lachend.) Jedenfalls bewegte Huangs Vorbild Bays dazu, sich ebenfalls zu wehren, und nach einer Weile hörten die Schikanen auf.

Bays Familie lebte in tiefer Armut. Er hatte fünf Geschwister, sein Vater war Wanderprediger. Die Familie lebte am Ausgang eines abgeschiedenen, engen Tals, das in der Gegend »das Bergtal« genannt wurde, in einem baufälligen Haus mit Plumpsklo im Hinterhof. Nichts in seinem Leben hatte Bays darauf vorbereitet, einem Menschen wie Huang zu begegnen, und er konnte nur darüber rätseln, wie es dazu gekommen war, dass dieses ungewöhnlich begabte Kind ohne seine Eltern im Clay County in den Appalachen gelandet war, einer der ärmsten Regionen der Vereinigten Staaten.

Jensen Huang war als mittlerer von drei Brüdern im Februar 1963 in Taipeh zur Welt gekommen. Sein Vater war Chemieingenieur, seine Mutter Grundschullehrerin. Die Eltern stammten aus Tainan an der Südwestküste Taiwans. Sie waren mit dem südchinesischen Hokkien-Dialekt aufgewachsen, hatten aber den Großteil ihres Lebens unter Fremdherrschaft verbracht, denn bis 1945 war Taiwan eine japanische Kolonie. Im Jahr 1949 floh der chinesische General Chiang Kai-shek nach der Niederlage gegen die von Mao geführten Kommunisten mit seiner Armee nach Taiwan, wo bald darauf das Kriegsrecht verhängt wurde.

Als Huang fünf Jahre alt war, fand sein Vater Shing Tai Arbeit in einer Erdölraffinerie in Thailand und zog mit seiner Familie nach Bangkok um. Huang kann sich nur dunkel an seine Zeit in Südostasien erinnern. Er weiß noch, dass er einmal Brennflüssigkeit für Feuerzeuge in den Pool des elterlichen Hauses schüttete und in Brand setzte. Er erinnert sich an einen Affen, den ein Freund als Haustier hielt. Ende der sechziger Jahre reiste Huangs Vater Shing Tai im Rahmen einer Schulung beim Klimaanlagenhersteller Carrier nach New York. (Carrier veränderte das Büroleben durch die exakte Temperatursteuerung von Grund auf.) Shing Tai war fasziniert von der Stadt und kehrte mit dem Entschluss heim, mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten auszuwandern.

Um die Übersiedlung vorzubereiten, begann Jensens Mutter Chai Shiu, ihm und seinen Brüdern Englisch beizubringen. Sie selbst beherrschte die Sprache nicht, aber dadurch ließ sie sich nicht abhalten: Ausgehend von ihrer Erfahrung als Lehrerin ließ sie ihre Söhne jeden Abend zehn neue Worte auswendig lernen, die sie willkürlich aus dem Wörterbuch fischte. Am folgenden Tag übte sie diese Worte mit den Jungen. Nach etwa einem Jahr meldete sie ihre drei Söhne in einer internationalen Akademie an, und von da an erfolgte Jensens formale Schulbildung in Englisch, während er daheim weiter Taiwanesisch sprach.

Im Jahr 1973 eskalierten die innenpolitischen Konflikte in Thailand, was die Familie dazu bewegte, ihre Auswanderungspläne schneller voranzutreiben. Im Oktober jenes Jahres gingen in Bangkok eine halbe Million Menschen auf die Straße, um das Ende der Militärdiktatur zu fordern. Das Regime unterdrückte die Proteste gewaltsam, und Huang erinnert sich daran, dass er Panzer durch die Straßen rollen sah. Aus Furcht vor einer Ausweitung der Unruhen schickte sein Vater ihn und seinen älteren Bruder Jeff in die Vereinigten Staaten, wo sie in Tacoma im Bundesstaat Washington bei einem Onkel unterkamen. Die Eltern und der jüngste Bruder blieben zurück. Der Onkel gelangte zu der Überzeugung, die beiden Jungen gehörten in ein Internat, und machte sich auf die Suche nach einer Einrichtung, die bereit war, zwei taiwanesische Kinder im Alter von zehn und zwölf Jahren aufzunehmen, die alleine tausende Kilometer von ihren Eltern entfernt lebten. Er entschied sich für das Oneida Baptist Institute in Kentucky – möglicherweise verwechselte er es mit einer renommierten privaten Prep School.

Wie sich herausstellte, war das Oneida Baptist eine Besserungsanstalt für Minderjährige. Die Einrichtung war im Jahr 1899 von James Anderson Burns gegründet worden, einem Baptistenprediger, der in einem Dreihundertseelendorf eine langjährige blutige Fehde zwischen zwei Familien beenden wollte. (Burns war auf die Idee für die Schule gekommen, nachdem er einen Mordanschlag überlebt hatte: Die Angreifer hatten ihm den Schädel eingeschlagen und in ihn einen Graben geworfen.) Obwohl in der Schule auch einige ausländische Kinder untergebracht waren, war sie Ende der siebziger Jahre im Wesentlichen eine Institution, in der problematische Kinder eine letzte Chance bekamen.

Die beiden Brüder trafen auf einem Schulgelände ein, das mit Zigarettenkippen übersät war. »Alle Schüler rauchten«, erinnert sich Huang. »Und ich glaube, ich war der einzige Junge in der Schule, der kein Taschenmesser besaß. Man wies ihm ein Zimmer zu, das er sich mit einem Siebzehnjährigen teilte. Am ersten Abend zog der ältere Junge sein Hemd hoch, um dem Neuankömmling die zahlreichen Stichwunden zu zeigen, die er vor kurzem in einem Messerkampf davongetragen hatte. Huangs Zimmergenosse war Analphabet. Als Gegenleistung dafür, dass Huang ihm das Lesen beibrachte, zeigte er Huang, wie das Bankdrücken funktionierte. »Nach einer Weile machte ich jeden Abend vor dem Schlafengehen hundert Liegestütze. « An den täglichen Liegestützen hat Huang sein Leben lang festgehalten.

Die Huang-Brüder änderten ihre taiwanesischen Namen, um sich an das neue Umfeld anzupassen. Der Ältere, der eigentlich Jen-Chieh hieß, nannte sich von nun an »Jeff«, und aus Jen-Hsun wurde »Jensen «. (Ihr jüngerer Bruder Jen-Che verwandelte sich später in »Jim«.) Jeff und Jensen hielten den Kontakt zu ihren Eltern, indem sie diesen per Post Audiokassetten nach Thailand schickten: Um eine Botschaft aufzunehmen, überspielten sie immer die letzte Nachricht ihrer Eltern und schickten dieselbe Kassette wieder zurück. Jensen kann sich nur an wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen er Heimweh hatte. Für ihn war das alles nur ein großes Abenteuer.

Im Sommer mussten die Schüler des OBI arbeiten, um ihre Unterhaltskosten zu verdienen. Jeff wurde auf eine Tabakplantage geschickt, während Jensen in der Schule zurückblieb, wo er die Toiletten im Wohnheim putzte. »Es war keine Strafe«, sagt er. »Es war einfach meine Arbeit.« Eine weitere Aufgabe bestand darin, mit einer Sense das Gestrüpp auf dem Schulgelände zu mähen. Bays erinnert sich, dass er einmal auf der Fahrt zur Kirche an einem Feld vorbeikam und seinen Freund Jensen sah: »Er lief in einem Baseballtrikot Runden über das Feld und mähte es ab.«

Am Ende des Jahres in der Oneida Elementary hatte Huang die Schule praktisch erobert. Er war der Klassenbeste, wofür er in einer Schulversammlung mit einem Silberdollar ausgezeichnet wurde. Er bot Kindern die Stirn, die ihn mit rassistischen Schimpfworten überhäuften – mindestens einmal wurde er auch von einem Lehrer beschimpft. Nach Schulschluss lief Huang an der Spitze seiner Klassenkameraden in die Hickory- und Eichenwälder. Den weichen, feuchten Boden der Appalachen unter den Füßen, folgte ihm die Meute der »Halbstarken« des Clay County.

Huang verbrachte den Sommer 1974 im Wohnheim. Er freute sich die ganze Woche auf den Sonntagsfilm von ABC, den er sich mit den anderen Kindern ansah, die am Wochenende nicht von ihrer Familie abgeholt wurden. Als der Herbst näher rückte, pflückte er Äpfel von einem Baum vor seinem Fenster. Für das siebte Schuljahr wechselte er in die Internatsschule, das Oneida Baptist Institute, während Bays weiter die öffentliche Schule besuchte. Von seinem kampferprobten Zimmergenossen im Internat beschützt, passte sich Huang problemlos an die neue Schule an. Im Jahr darauf fand sein Vater Arbeit in den Vereinigten Staaten, und die Brüder verließen Kentucky, um sich in Oregon mit ihrer Familie zu vereinen. Bays und Huang sollten sich erst 44 Jahre später wiedersehen.

Bays wurde Leiter eines Pflegeheims, Huang wurde einer der reichsten Männer der Welt. Der Werdegang seines Freundes überraschte Bays nicht. Er erzählte mir, er sei schon als Kind überzeugt gewesen, dass Huang zu Großem bestimmt war. Die beiden sahen sich im Jahr 2019 wieder, als Huang das Oneida Baptist Institute besuchte, dem er ein neues Gebäude gespendet hatte. »Er hatte mich nicht vergessen«, sagte Bays.

Für viele Kinder wären diese zwei Jahre in Kentucky eine traumatische Erfahrung gewesen. Im Alter von zehn Jahren war Huang von seinen Eltern in ein 13 000 Kilometer entferntes Land geschickt worden, dessen Sprache er kaum beherrschte. Er wurde schikaniert, ausgegrenzt, mit einem Messerstecher in ein Zimmer gesteckt und mit der Reinigung der Latrinen beauftragt. Was sagt es über ihn, dass er in dieser Umgebung aufblühte? »Damals gab es keine Schulpsychologen «, sagt Huang. »Damals musstest du dir einfach ein dickeres Fell zulegen und die Ärmel hochkrempeln.«

Möglicherweise hat die Zeit Huangs Erinnerungen an das Oneida Baptist Institute weichgezeichnet. Als er im Jahr 2019 das von ihm gespendete Schulgebäude einweihte, beschrieb er den Weg über die mittlerweile verschwundene Hängebrücke, die er jeden Tag auf dem Weg zur Schule überquert hatte, als schöne Erinnerung. Er ließ unerwähnt, dass seine Mitschüler die Brücke zum Schaukeln gebracht hatten, damit er in den Fluss hinabfiel. Als ich ihn nach der körperlichen Arbeit in der Schule fragte, erklärte er mir, diese Pflichten hätten ihn gelehrt, harte Arbeit zu akzeptieren: »Aber hätte man mich damals gefragt, hätte ich wohl eine andere Antwort gegeben.« Im Jahr 2020 wurde Huang vom OBI gebeten, per Telekonferenz eine Rede auf der Abschlussfeier jenes Jahrgangs zu halten. In seinem Vortrag sagte er, die Zeit in dieser Schule gehöre zu den besten Erfahrungen seines Lebens.

Ab 1976 besuchte Huang die Aloha High School in einem Vorort von Portland im Bundesstaat Oregon. Er trug jetzt Jeans und eine Velourslederjacke und hatte das Haar in der Form eines Motorradhelms frisiert. Seine schulischen Leistungen waren weiter herausragend, und sein Englisch wurde rasch besser. Aloha war ein angenehmer Ort, und er schloss sich dort rasch mit ein paar anderen Strebern zu einer verschworenen Clique zusammen: »Wir waren drei oder vier und alle in denselben AGs: Mathematikclub, Naturwissenschaftlicher Club, Computerclub. Die beliebten Jungs eben! Eine Freundin hatte ich nicht.«

Am meisten interessierte ihn der Computerclub. Im Jahr 1977 kaufte die Schule einen Apple II; dies war einer der ersten Personal Computer, die in Massenproduktion hergestellt wurden. Huang war begeistert von der Maschine, spielte darauf das primitive Spiel »Super Star Trek« und erschoss Klingonen in einem Textgitter. Außerdem nutzte er sie, um in Basic seine eigene Version von Snake zu programmieren.

Sein anderes außerschulisches Interesse galt dem Tischtennis. Im Oneida Baptist Institute war Huang der unangefochtene Herrscher an der Tischtennisplatte im Freizeitraum gewesen, aber er hatte den Sport nicht ernst genommen. In der High School begann er, an Turnieren teilzunehmen. Trainiert wurde er von Lou Bochenski, dem Inhaber des Paddle Palace, eines Tischtennisvereins, der in einem ehemaligen Tanzsaal untergebracht war. Bochenskis Tochter Judy hatte im Jahr 1971 dem amerikanischen Team angehört, das im Rahmen der »Ping-Pong-Diplomatie« Peking besuchte. Aber Huang war nicht mit der asiatischen Spielweise vertraut und hielt den Schläger mit dem westlichen Griff.

Einen ganzen Sommer lang tat er praktisch nichts anderes als zu trainieren. Bochenski war so beeindruckt, dass er einen Brief an »Sports Illustrated« schrieb, in dem er Huang als den »vielversprechendsten Nachwuchsspieler« bezeichnete, »den der Nordwesten je hervorgebracht hat«. Das war umso bemerkenswerter, als der Junge erst seit drei Monaten an Wettkämpfen teilnahm. Huangs beste Schlagtechnik war ein stark überschnittener Vorhandball, mit dem er viele höher eingeschätzte Spieler besiegte. Manchmal tauchte er unter die Tischplatte ab, um scheinbar unerreichbare Schmetterbälle mit diesem Bogenschlag zurückzubringen. Innerhalb eines Jahres schaffte er es in die nationale Rangliste und erreichte bei den Unter- 16-Meisterschaften in Las Vegas das Finale im Doppel. »Ich habe nie jemanden gesehen, der so schnell Tischtennisspielen lernte wie er«, sagt Joe Romanosky, ein Freund aus dem Paddle Palace.

Huang war athletisch und hatte gute Reflexe, aber die Eigenschaft, die ihn aus der Masse heraushob, war seine außergewöhnliche Konzentrationsfähigkeit. Wenn er sich darauf fixierte, über sich hinauszuwachsen, rückte die Welt in den Hintergrund. Er arbeitete mehr als jeder andere, besaß eine extrem hohe Frustrationstoleranz, resignierte nie und stieß nie an eine Leistungsgrenze. Stattdessen sah er mit bescheidener Zufriedenheit, wie aus seiner geduldigen, hingebungsvollen Konzentration auf die Grundlagen sein Können entstand.

Huang verbrachte fast seine gesamte Freizeit im Paddle Palace. Wenn er nicht trainierte, arbeitete er dort und schrubbte bis in die Nacht hinein die Böden, um sich die Anmeldegebühren für die Turniere zu verdienen. Bochenski gab ihm einen Schlüssel, und manchmal schlief Huang nach der Arbeit im ehemaligen Tanzsaal, anstatt nach Hause zu gehen. Die Tischtennisplatten standen auf Dielenböden in einer opulenten Umgebung: An der Decke hingen Kronleuchter, an den Wänden standen gepolsterte Bänke. Es gibt ein Foto von Huang im Alter von etwa 15 Jahren an der Tischtennisplatte: Er trägt eine für die siebziger Jahre typische Turnhose und gestreifte, knielange Socken: ein kleiner Jugendlicher mit Topffrisur, der mit einem intensiven Ausdruck des Wetteifers den Ball fixiert. »Er war ein sehr aggressiver Spieler, immer im Angriff«, erinnert sich Romanosky.

Als der Schulabschluss näher rückte, fand Huang einen Job bei Denny’s. Die Restaurantkette war zu jener Zeit bekannt für bitteren Kaffee, mit Eipulver zubereitete Speisen, aufgewärmte Wurstpasteten und rund um die Uhr geöffnete Lokale. Huang liebte die Arbeit im Restaurant. Er fing als Tellerwäscher an und arbeitete sich zum Kellner hoch. »Ich habe festgestellt, dass mein Verstand unter widrigen Bedingungen am besten funktioniert. Wenn die Welt auseinanderfällt, habe ich das Gefühl, dass sich mein Puls tatsächlich verlangsamt «, sagt er. »Vielleicht ist Denny’s der Grund dafür. Als Kellner musst du die Stoßzeit verkraften. Jeder, der einmal den Hochbetrieb in einem Restaurant bewältigen musste, weiß, wovon ich spreche.«

Bei Denny’s absolvierte Huang einen Intensivkurs in amerikanischer Küche. Dort aß er zum ersten Mal einen Cheeseburger mit Speck, sein erstes Würstchen im Schlafrock, sein erstes paniertes Beefsteak. Er aß sich methodisch durch die Speisekarte. Seine Lieblingsspeise war der »Super Bird«, ein mit Truthahnbrust, Schinkenspeck, Tomaten und Käse gefülltes und gegrilltes Sauerteigsandwich. Für einen Einwanderer, der die Kultur seiner neuen Heimat verinnerlichen wollte, war die Begegnung mit der deftigen Küche eines Diners die amerikanischste aller Erfahrungen.

Huangs Schulnoten waren ausgezeichnet, so gut, dass er in die National Honor Society aufgenommen wurde. Sein Leistungswille war angeboren; Huang erklärt, seine Eltern seien keine typischen »Tigereltern« gewesen und hätten ihn nicht zu schulischen Höchstleistungen angetrieben. »Tatsächlich waren meine Brüder beide miserable Schüler«, sagt er, wobei er sich bemüht, sofort klarzustellen, dass sie beide sehr intelligent seien. Auf die Frage, warum er als mittlerer Sohn der einzige war, der die Motivation besaß, gute Noten nach Hause zu bringen, antwortet er schulterzuckend: »Darauf habe ich keine Antwort. Ich vermeide es, mich auf diese Art selbst zu analysieren.«

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »The Thinking Machine« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.

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