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Leseprobe »Tiere essen – dürfen wir das?«: Tierleid und moralischer Konsens

Vieles spricht für eine Verringerung des Fleischkonsums: Tierschutz, Umwelt und Klima sowie die eigene Gesundheit. Aber werden wir unserer ethischen Verantwortung gerecht, indem wir etwas weniger oder »besseres« Fleisch essen? Eine Leseprobe
Eine Kuh auf einer Alm
»Seien wir ehrlich : Im Grunde braucht es keine komplexen Theorien, keine verschachtelten Argumente, kein Expertenwissen um festzustellen: Die Tiere, die uns heute Fleisch, Eier, Milch, Wolle und Leder ›liefern‹, führen ein erbärmliches Leben. Wenn Privatpersonen ihre Hunde oder Katzen so hielten, würden wir von Tierquälerei sprechen. Und wer Tierquälerei nicht unterstützen und nicht von ihr profitieren will, sollte die entsprechenden Produkte nicht konsumieren. So einfach ist es eigentlich.«
(Hilal Sezgin 2014, 160)

1.1 Fragestellung und Überblick

In diesem Kapitel geht es um praktische Fragen : Ist die heute übliche Erzeugung von Tierprodukten ethisch vertretbar ? Sollten wir Fleisch essen oder nicht ? Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen lege ich eine Überzeugung zugrunde, der die allermeisten Menschen bereits zustimmen und die ich daher zum moralischen Konsens in der gegenwärtigen Gesellschaft rechne : Es ist falsch, fühlenden Tieren ohne gewichtigen Grund große Leiden und Schäden zuzufügen. Mit »Leiden« meine ich dabei starke unangenehme Empfindungen, die körperlicher, aber auch psychischer Art sein können. Unter »Schäden« verstehe ich insbesondere die Einschränkung von artgemäßen Verhaltensweisen.

Aufgrund dieser Überzeugung verurteilen wir z. B. schmerzvolle Tierversuche für einen neuen Badeschaum. Wir kritisieren auch eine Hundebesitzerin, die ihren Hund dauerhaft in einem kleinen Käfig einsperrt. Die Überzeugung kommt ebenfalls in der Art zum Ausdruck, wie die meisten Menschen auf Undercover-Videos von engen, verdreckten Ställen mit verletzten Tieren reagieren : Tiere so zu behandeln, kann nicht richtig sein.

Wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, ist diese oder eine sehr ähnliche Überzeugung Teil Ihres Weltbilds – unabhängig davon, ob Sie derzeit Fleisch essen oder nicht. In diesem Kapitel geht es daher auch nicht darum, unter welchen Umständen es vertretbar ist, Tiere zu töten. Ich konzentriere mich allein auf Leiden und Schäden, die Tieren zu Lebzeiten zugefügt werden.

Als ersten Schritt meiner Argumentation stelle ich im Abschnitt 1.2 dar, was die heute übliche Nutztierhaltung und die Fischerei für die betroffenen Tiere bedeutet. Zwar ist vielen Menschen klar, dass die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern häufig mit Tierleid verbunden ist. Das ist allerdings in der Gesellschaft insgesamt durchaus kontrovers : Lobbyverbände wie der Bauernverband versuchen mit großem Einsatz den Eindruck zu vermitteln, dass es den Rindern, Schweinen, Hühnern, Puten und anderen Tieren in der Landwirtschaft im Großen und Ganzen gut geht, also überhaupt keine nennenswerten Leiden und Schäden entstehen. Aber auch wer an dieser Darstellung zweifelt, kennt selten die Details der Tierhaltung. Außerdem glauben viele Menschen, dass die Probleme nur die niedrigsten Preissegmente, das viel zitierte Billigfleisch, oder aber nur »schwarze Schafe« unter den Betrieben betreffen. Dabei erfahren Tiere auch in der Biohaltung großes Leid. Ich werde daher im Folgenden ein ungeschöntes Bild davon geben, wie es Tieren in der Fleisch-, Milch- und Eierwirtschaft sowie in der Fischerei und Aquakultur ergeht. Mein Fazit daraus ist, dass fast alle der heute in Deutschland verfügbaren Tierprodukte auf Weisen erzeugt werden, die Tieren große Leiden und Schäden zufügen.

Wenn wir den moralischen Konsens voraussetzen, dass wir Tieren nicht unnötig Leid und Schaden zufügen sollten, dann können diese Praktiken nur ethisch legitim sein, falls es gewichtige Gründe für sie gibt. Im Abschnitt 1.3 werde ich daher mehrere Kandidaten für solche Gründe untersuchen und jeweils zurückweisen. Das Ergebnis lautet, dass Tierhaltung und Fischerei mindestens weitestgehend abgeschafft werden müssen. Dieses Urteil werde ich im daran anschließenden Abschnitt 1.4 weiter stützen, indem ich darstelle, dass die Nutztierhaltung neben dem verursachten Leid große negative Folgen insbesondere auf Umwelt und Klima hat.

Im Abschnitt 1.5 möchte ich zeigen, wie sich der vorausgesetzte moralische Konsens und die Kritik an der Tierhaltung im Rahmen verschiedener Moraltheorien ausbuchstabieren und philosophisch vertiefen lassen. Zu diesem Zweck beschreibe ich drei verschiedene moraltheoretische Perspektiven und wende sie auf das Thema Tierhaltung an. Aus einer vierten, politischen Perspektive skizziere ich außerdem die gesellschaftliche und politische Dimension der Problematik. Der Abschnitt dient darüber hinaus dem Zweck, diese vier Perspektiven einzuführen und verständlich zu machen, um im weiteren Verlauf und insbesondere im zweiten Kapitel wieder auf sie zurückgreifen zu können.

Der letzte Abschnitt 1.6 behandelt die Konsequenzen für unser Handeln als Einzelpersonen, die sich aus der Argumentation ergeben.

1.2 Die Situation der Tiere

Um zu verstehen, was die übliche Tierhaltung für die am meisten genutzten Tiere bedeutet, brauchen wir zunächst ein Verständnis der Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnisse von Schweinen, Rindern, Hühnern, Puten und Fischen. Ich stelle diese anhand von verhaltenswissenschaftlicher Forschung und Beobachtungen von Praktiker*innen dar. Danach schildere ich, wie diese Tiere in der üblichen Tierhaltung leben, und zwar anhand von gesetzlichen Vorschriften, Ergebnissen von Studien, Zusammenfassungen aus wissenschaftlichen Gutachten, offiziellen Einschätzungen, Expert*innenmeinungen und Berichten von Undercover-Recherchen.

Eigenschaften der Tiere und konventionelle Haltung

Schweine. Heutige Schweine stammen von Wildschweinen ab. Die in ihnen angelegten Verhaltensweisen unterscheiden sich kaum von denen ihrer Vorfahren (Hoy 2009, 105). Wie Beobachtungen »unter naturnahen Bedingungen im Freigehege« zeigen, verbringen sie ihren Tag ähnlich wie Wildschweine : Sie bewegen sich viel. Einen Großteil der Zeit verwenden sie zur Futtersuche. Mit ihrem empfindlichen Rüssel wühlen sie im Boden nach Wurzeln, Würmern und Pilzen. Dabei hilft ihnen auch ihr feiner Geruchssinn. Schweine sind soziale Tiere. In den Gruppen bilden sie eine Rangordnung und enge soziale Beziehungen (ebd.).

Schweine mögen es bequem : Sie bauen sich Schlafnester aus Zweigen und Blättern. Um ihr Geschäft zu verrichten, entfernen sie sich von Liege- und Fressplätzen. Da sie nicht schwitzen können, baden sie bei Hitze in Teichen oder suhlen im Matsch. Sauen, die Ferkel erwarten, entfernen sich von der Gruppe und bauen ein Nest, das sie sauber halten und in dem sie für zehn Tage die Ferkel versorgen, bevor sich alle gemeinsam wieder der Gruppe anschließen. Jungtiere spielen gern, sowohl allein als auch mit Gegenständen und mit Artgenossen (ebd.).

Besonders ausgeprägt ist bei Schweinen das Erkundungsverhalten. Sie sind sehr neugierige Tiere, die ihre Umgebung mit allen Sinnen erforschen. Und Schweine sind ziemlich clever : Sie verständigen sich untereinander mit verschiedenen Lauten. In Trainingsversuchen lernten sie zahlreiche Kommandos. Sie können Artgenossen und Menschen täuschen, indem sie z. B. desinteressiert tun, um nicht zu verraten, dass sie eine Futterstelle kennen (Mendl et al. 2010).

In der in Deutschland üblichen Haltung verbringen Schweine ihr gesamtes Leben auf wenigen Quadratmetern im Stall. Man unterscheidet zwischen Schweinezucht- und Schweinemastanlagen. In den Zuchtanlagen werden Sauen gehalten, die zweimal im Jahr künstlich besamt werden. Zur Besamung darf man Sauen bis zu vier Wochen in körpergroße Käfige, die sogenannten Kastenstände, einsperren, wo sie sich praktisch gar nicht bewegen können. Nach der Zeit im Kastenstand kommen die Sauen in Gruppenbuchten, bevor man sie kurz vor der Geburt erneut in körpergroßen Käfigen, den sogenannten Ferkelschutzkörben fixiert, wo sie ihre Ferkel bekommen (TSNV, §§ 24, 30).

Die »Ferkelschutzkörbe« sollen verhindern, dass die Sauen ihre eigenen Ferkel beim Abliegen zerquetschen. Sie sind außerdem nützlich, da sie verhindern, dass die Sau ihre Ferkel verteidigt, wenn an ihnen in den ersten Wochen schmerzhafte Eingriffe vorgenommen werden. Den männlichen Ferkeln schneidet man ohne Betäubung die Hoden heraus, um eine spätere Entwicklung des »Ebergeruchs« zu vermeiden. Den allermeisten Schweinen werden die Ringelschwänze gekürzt, um späteren Verletzungen durch das »Schwanzbeißen« in den Mastanlagen vorzubeugen (WBA1, 104).

Die Mastschweine verbringen ihr ganzes Leben auf engem Raum auf Spaltenboden. Eine Bucht für zehn Schweine muss nur 7,5 Quadratmeter groß sein. Dort können die Tiere nicht wühlen, nicht suhlen, nicht rennen, sich nicht zurückziehen, ihre Neugier so gut wie nicht ausleben und eigentlich gar nichts tun außer zu fressen. Eine Trennung von Kot- und Liegeplatz ist unmöglich, so dass die Tiere über und in ihren eigenen Exkrementen stehen und ruhen (KTBL). Viele Schweine leiden in den wenigen Lebensmonaten an Infektionskrankheiten und Verletzungen, die auf die Mastbedingungen zurückgehen (WBA1, 96). Tiere, die während der Mast in den Anlagen sterben, werden an Verarbeitungsbetriebe geliefert. Eine Studie ergab, dass deutschlandweit täglich bis zu 1200 Schweine dort ankommen, die vor ihrem Tod lange und erheblich gelitten haben (Große Beilage 2017).

Im Alter von etwa sechs Monaten werden die Schweine zum Schlachthof transportiert, wo sie erst betäubt und dann per Kehlschnitt getötet werden. Die Betäubung durch Gas fühlt sich für die Tiere an wie Ersticken. Bei der Betäubung per Elektrozange kommt es nach offiziellen Schätzungen in 3,3 bis 12,5 Prozent der Fälle zu Fehlbetäubungen. Außerdem werden mehrere hunderttausend Schweine jährlich nicht richtig »abgestochen«, so dass sie im heißen Brühbad wieder erwachen, wo sie dann qualvoll ertrinken (BT). Insgesamt tötet die Fleischwirtschaft in Deutschland knapp 60 Millionen Schweine jährlich.

Rinder. Die domestizierten Rinder, die wir heute für die Erzeugung von Fleisch und Milchprodukten nutzen, stammen von Auerochsen ab. Unter naturnahen Bedingungen leben sie in Gruppen aus erwachsenen Kühen und Jungtieren (Winckler 2009). Bullen verlassen im Alter von etwa zwei Jahren die Herde. Während der Decksaison stoßen sie zu den Herden dazu, so dass für begrenzte Zeiträume gemischte Herden entstehen.

Für die Geburt sondern sich die Kühe oft von der Herde ab und suchen einen geschützten Ort auf. Nach einer mehrstündigen Geburt leckt die Kuh das Kalb trocken und unterstützt es bei den ersten Gehversuchen und der Milchaufnahme aus dem Euter. Kühe säugen ihre Kälber, wenn sie die Gelegenheit dazu haben, in der Regel bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Eine Bindung bleibt häufig über viele Jahre bestehen. Die Herden sind gekennzeichnet von engen, oft lebenslangen Beziehungen von Kühen sowohl zu ihren Kälbern bzw. Müttern als auch zu nicht-verwandten Tieren. Bei Weidehaltung verbringen Rinder 8 bis 12 Stunden pro Tag mit dem Grasen. Befreundete Tiere grasen und liegen gern nebeneinander und lecken sich auch gegenseitig, zur Körperpflege und als Ausdruck und Stärkung der Beziehungen (ebd.).

Die Rinderhalterin Rosamund Young beschreibt in einem Buch ihre Beobachtungen der Tiere. Sie betont, dass alle Rinder individuelle Persönlichkeiten haben : »Kühe sind so unterschiedlich wie Menschen. Sie können höchst intelligent sein oder auch schwer von Begriff. Freundlich, umsichtig, aggressiv, gelehrig, erfindungsreich, langweilig, stolz oder schüchtern.« (Young 2018, 17) Young schildert, wie Kühe kommunizieren, Konflikte austragen und sich gegenseitig helfen – zum Beispiel indem eine Kuh ihre Tochter beim Kalben unterstützt oder die Enkelkinder babysittet.

In Deutschland werden Rinder entweder primär für...

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch bietet den Rest des Kapitels und mehr über Fleischkonsum.

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