Leseprobe »Tourismus – Über das Reisen und Urlauben in unserer Zeit«: Nähe und Ferne, dazwischen Sehnsucht

Die Spannung zwischen Nähe und Ferne, dem Eigenen und dem vermeintlich Fremden, dem Bekannten und dem Vorgestellten, diese Dialektik gehört zum Tourismus wie die Bugwelle zum Schiff. Wenn wir reisen, sind immer alle Antennen ausgefahren, wir sind stets auf der Suche nach Unterschieden zum Vertrauten. Die Annäherung an das Fremde beginnt mit dem ständigen Vergleich. »Diese Bucht schaut so ähnlich aus wie die damals in Portugal!«, »Die machen die Nudeln ganz anders als wir!«, »So einen Dreck gäbe es zu Hause nicht!«, »Die Lederjacken sind ja viel billiger als bei uns, und so chic, nimm gleich zwei!« Das eigene Bezugssystem, die eigene kulturelle Ordnung dient als Bezugsrahmen, das Gewohnte als Maß der Dinge. Zu Beginn muss das so sein, denn einen Standpunkt braucht der reisende Mensch schließlich, wenn er sich so schnell durch den Raum bewegt, dass er nichts mehr sieht oder nur noch Abziehbilder einer undurchdringlichen Realität wahrnimmt.
Exotismus und Xenophobie – Der Reiz der Fremde und ihre Ablehnung
Die Gegensätzlichkeit und damit die unvermeidliche Anziehungskraft von Eigenem und Fremdem liegt in der menschlichen Natur. Die Ethnopsychoanalyse führt sie auf die menschlichen Entwicklungsstufen zurück. Angst vor dem Fremden aber auch Hingabe ans Fremde, beides ist in uns und wird uns anerzogen. Eine xenophobe Grundstimmung – so Mario Erdheim – begegnet nicht nur anderen Kulturen feindlich und ablehnend, sondern auch jenen Bereichen der eigenen Kultur, die »anders« sind und Sigmund Freud als das »innere Ausland« bezeichnete, weil sie identitätsbedrohend wirken können.1 Julia Kristeva meint, die Fremdheit wohnt uns inne und wir tragen die Basis unseres Verhaltens zum Fremden in uns, denn »Fremde sind wir uns selbst«.2 Angstfantasien, die auf Fremde projiziert werden, durch Sozialisation und eigene Erfahrung erworben oder durch Medien vermittelt, gehören zu den Ursachen für die Produktion von Feindbildern. Sie stecken somit auch in jedem Reisenden, werden aktiviert und artikuliert, v. a. dort, wo das eigene Symbol- und Bedeutungssystem versagt und vor lauter Fremdheit kein Sinn mehr entschlüsselt werden kann.
Wurzelt die »Xenophobie« in der kindlichen Entwicklung und Sozialisation, so ist der »Exotismus« eine Erscheinung der Adoleszenz. Die Jugend, die Zeit der forcierten Identitätsbildung, der Erkundungen und Experimente mit dem zeitlich begrenzten Ausbruch aus dem schützenden Kreis der Familie, wird zur Lebensphase der Weltentdeckung und Ich-Erfahrung. Der Reiz des Fremden wirkt faszinierend, anziehend und begehrenswert, der geografische und sinnliche Horizont öffnen sich, die Welt wird größer und die Selbsterfahrung lässt das Ich aufleben. Im Exotismus – im Sinne auch »jugendlicher Neugier« – steckt eine maßgebliche Triebfeder des Tourismus generell.
Die frühen Entdeckungsfahrten in den Süden oder Weltumseglungen waren von risikosuchenden Seefahrern, von Söldnern und Kaufleuten unter der Flagge ihrer Könige unternommen worden. Sie segelten wegen der hohen Gewinnerwartungen aus dem Handel mit Gewürzen und Seide und aus Gier nach Gold und Edelsteinen. Begleitende Wissenschaftler versuchten dem Bauplan der Welt und ihrer Biodiversität auf die Spur zu kommen. Die überlieferten Reiseschilderungen enthalten zahlreiche Verweise auf Zustände, die wir heute als elysische Gefilde und exotische Idylle interpretieren würden. Nach Monaten auf See waren die Europäer verzaubert von den freizügigen Lebensformen der Insulaner, von der Symphonie betörender Gerüche und von dem botanischen Überfluss der Tropen. Es schien ihnen, als hätten sie Paradiesluft geschnuppert. Dem Heißhunger nach Sex waren kaum Grenzen gesetzt und auch diese Information machte die Runde, animierte andere Wagemute zu überseeischen Abenteuern und zu einem kühnen Leben.3
Wenn sich mitteleuropäische Touristen heute über die obere Adria hinauswagen und derlei Grenzüberschreitungen riskieren, so wollen etliche wohl auch in diesen ethnisch bunten Maskenball eintauchen und in ihren Augen Exotik flimmern sehen. Für empfindsame Naturen führen solche Reisen ins Ich und in die Nachdenklichkeit. Sie verändern Charakter und Denkweisen, denn – wie Lehrmeister Goethe in den Wahlverwandtschaften formulierte – »keiner wandelt ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind«.
Interrail, Jugendreisen oder Sprachurlaube im Ausland für die Heranwachsenden sind Angebote der Tourismusindustrie aber gleichzeitig Einübungen in eine Gesellschaft, die das Überschreiten der eigenen Grenzen und Fremdheitserfahrung – wenngleich industriell organisiert – zu einem konstitutiven und mit Wertschätzung verbundenen Bestandteil der kulturellen Ordnung gemacht hat. Ausbruch aus dem Alltag und familiärer Enge, »Weg von« dem Gewohnten und »Hin zu« dem Außergewöhnlichen, der erlebnishaften Steigerung und Überhöhung des Moments, sind die zwei beherrschende Grundmotive jeglichen touristischen Unterfangens.
Professionelles Exotikmanagement – Wärme in der Ferne
Christoph Hennig schreibt in dem zitierten Buch über Reiselust und Urlaubskultur, dass es im touristischen Reisen selten darum geht, etwas vollständig Neues zu sehen. Vielmehr erhoffen wir uns, die Wahrheit der kollektiven Fantasien zu erleben. Der Tourismus entfaltet sich im Spannungsfeld von kulturell vermittelten Fantasien und realer Ortsveränderung. Sein Ziel besteht in einer scheinbar paradoxen Form des Erlebens: in der sinnlichen Erfahrung imaginärer Welten.
Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie viel Fremdes sich Touristen zumuten oder tolerieren können. In der interkulturellen Kommunikationstheorie geht man davon aus, dass Angst und Unsicherheit die bestimmenden Faktoren für das Ausmaß des Erträglichen sind und sie führen auf die Psychogenese bzw. Soziogenese der Fremdheitsbeziehung zurück. Je weniger man von dem Fremden und Unbekannten weiß, desto größer wird die Furcht sein, umso zurückhaltender der Umgang und geringer der Aktionsraum. Je reiseerfahrener die Menschen sind, desto abenteuerlustiger und wagemutiger werden sie. Auch heute noch wagen sich nur einige Prozent der Deutschen oder Österreicher über die bekannten Ferienziele an den europäischen Küsten oder in den Alpen hinaus.
Die Geschichte des Sommertourismus zeichnet dies beispielhaft nach. Die ersten Fahrten der nach dem Zweiten Weltkrieg rasch automobil werdenden Bundesdeutschen führten vorzugsweise in Gegenden, wo sie schon vor dem Krieg ihre Urlaube verbracht hatten: an die heimischen Küsten, in die österreichischen und bayerischen Berge, an die Seen des Alpenvorlandes. »Nicht daheim und doch zu Hause« war ein Slogan der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung in den 1970er Jahren, der erfolgreich mit dem Vertrauten im Fremden kokettierte. Im Laufe der Jahre dehnte sich der Aktionsradius über die Adria, die Küsten Spaniens und die griechischen Inseln hinaus, später kamen die Türkei und Tunesien hinzu. Dafür waren verkehrstechnische Gründe wie die Entwicklung und Verbilligung von Flugreisen verantwortlich, aber auch die rasant gestiegene individuelle Mobilität führte zur Überwindung von Begrenztheit. Professionelles Tourismusmarketing, niedrige Preise und günstige Wechselkurse, die Schlager und Filme, die Österreich und Italien als ideale Urlaubsdestinationen propagierten, trugen das ihre dazu bei, dass die Alpen und der touristisch überformte mediterrane Raum bald zu einem vertrauten Terrain wurden. Im Laufe der 1980er Jahre gerieten fernere Destinationen immer stärker ins Visier der Tourismusindustrie. Manche »Traumziele« in der Dritten Welt bekamen so viel Zuspruch, dass man von einer »weißen Industrie« zu sprechen begann. Der Wunschtraum von der großen Freiheit und die Beherrschung der touristischen Situation im bekannten Ausland förderten die Neugier der Reisenden nach neuen touristischen Herausforderungen.
Nicht nur die Reisebranche betreibt professionelles Management des Exotischen. Die Medien – von der Reiseliteratur bis zum Fernsehmagazin, vom Heimatfilm bis zum Diavortrag, Millionen von Websites und Postings, also die gesamte Kommunikations- und Kulturindustrie – sind lebhafte Akteure im Geschäft mit der Reisesehnsucht, weil der Urlaub bzw. die Nah- und Fernreise zu einem begehrten Produkt und Bestandteil des bürgerlichen Lebensstils geworden sind.
Reisejournalisten, jeder Blogger oder Influencer und jede, die auf ihrem Smartphone ein Foto zu versenden beherrscht, kann so zu einem leichtfüßigen Fluchthelfer in echte und falsche Paradiese werden. Die Fotos der Touristen modellieren den uralten Menschheitstraum von einem Sinnbild des Friedens und Überflusses, von Freundschaft und Glück. Sie konstruieren Mythen von der Kraft der Natur und von der Magie einer Begegnung mit dem einfachen griechischen Wein und dem dazugehörigen Bauern. In unzähligen Artikeln oder Fernsehbildern über die Malediven, Mauritius oder die Kanarischen Inseln tauchen die immer gleichen Sonnenuntergänge auf, sind blütenweiße Strände belebt von mandeläugigen Eingeborenenmädchen oder dunkelhäutigen Jünglingen, die sich wie Raubkatzen bewegen. Wie oft wurden schon die Ferienclubs unter dem Kreuz des Südens – wenngleich oft ummauerte Inseln des Überflusses in einer Landschaft der Armut – als Inbegriff des menschlichen Freiheitstraumes beschworen? Die Marketender der Erlebnisindustrie sind Konstrukteure eines geschönten Bildes vom Fremden, das auch in jedem gedruckten oder digitalen Reisekatalog zu finden ist und dort als Bestandteil des Produktes zum Kauf feilgeboten wird. Der Fremde – dort ein edler Wilder, hier bei uns tendenziell ein Abschiebeposten.4
Touristen begegnen in den seltensten Fällen einer fremden Kultur, sondern deren auf Stereotype reduzierte Mythen bzw. Inszenierungen mit Echtheitszertifikat. Aber solange die Aufführung nicht wie von der Stange wirkt, wird die inszenierte Echtheit angenommen, weil ohnedies längst alle Beteiligten wissen, dass das »Echte« und Unverfälschte eine Mystifikation ist und die Einheimischen wie auf einer Bühne agieren, wenn sie sich beobachtet fühlen. Touristen wie Einheimische spielen ihre Rollen und beide Seiten kennen die Spielregeln. Die touristische Inszenierung wird zum »real fake« – der Tourismus lebt von der Verzauberung, Verführung, Illusion, er gehört zur Unterhaltungsindustrie wie die Fernsehshows an Samstag Abenden, die wie ein Hüttenabend arrangiert sind, oder die Hollywoodfilme, in denen die Welt zumeist auch viel schöner ist als in Wirklichkeit. Der Reiz liegt in der Verdichtung der Vielfalt, der Choreographie von Höhepunkten, die sprachlos macht, einen staunen, wenngleich nicht notwendigerweise begreifen lässt, denn es liegen ganze Welten zwischen dem Rosenheimer Tischlermeister oder der Gmundner Keramikhändlerin auf TUI-Urlaub und dem tanzenden Massai Hirten oder der Bananenverkäuferin im Bergland Nepals. Es besteht genügend Differenz, um Verwunderung oder Begeisterung zu erregen, aber auch darin liegt Erlebnischarakter, selbst wenn es sich um flüchtige oder oberflächliche Eindrücke handeln mag. Touristen sind ja schließlich keine Ethnologen. Sie begnügen sich im Regelfall mit als »sehenswert« geadelten kulturellen Belanglosigkeiten. Artefakte lokaler Schaukultur wie das Defilee der Goldhaubenfrauen eines Alpendorfes oder der Watschentanz der »Holzhackerbuam« als Höhepunkt des Tiroler Heimatabends in den Salzburger Bergen erregen die Aufmerksamkeit der Besucher und ihre Kameras und Smartphones surren im Dauereinsatz.
Der Ethnologe hingegen will die fremde Kultur durchdringen, sie in ihrer inneren Logik begreifen, und dazu muss er ein fremdes Symbolsystem und dessen Codes zu deuten lernen. Um die Kultur eines Volkes zu verstehen, so der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz, muss man seine Normalität enthüllen, ohne dass seine Besonderheit dabei zu kurz kommt. In den Kontext ihrer eigenen Alltäglichkeit gestellt, schwindet ihre Unverständlichkeit, wird sie erreichbar.5 Für Touristen bleibt die Kultur eines fremden Volkes im Prinzip unerreichbar. An diesem fremden Alltag, den Routinen, den mit Langeweile und Arbeit behafteten Vollzügen anderer Kulturen, haben allenfalls speziell interessierte Reisende sowie Hobby-Anthropologen Interesse.
Eine solche Begegnung lässt sich auch nicht als Pauschalreise organisieren, denn Kulturbegegnung braucht Zeit, viel Zeit, langsames aufeinander Zugehen, bis Ort, Landschaft und Gesehenes an Bedeutung verlieren und Menschen verschiedener Herkunft, Ethnizität, Religion und kultureller Ordnung in eine derart intensive Austauschbeziehung eintreten können. Einzelreisenden kann ein tiefes Eindringen eher gelingen, aber auch nur dann, wenn sie – wie Peter Matthiesen meint – auf das Fremde zugehen in gelassener Erwartung der Dinge, die da kommen werden, frei von Abwehrmechanismen, mit wenig Gepäck und ohne Festhalten und Zurückweisen.6 Der Religionssoziologe Mircea Eliade vertraut seinem »Indischen Tagebuch« an, dass es geradezu unmöglich sei an einem Ort, an dem man selbst aus dem Rahmen fällt, etwas zu verstehen. Für ihn gibt es nur ein sicheres Mittel, einer Landschaft oder einem Erlebnis in Asien gerecht zu werden: nämlich nichts Bestimmtes zu suchen. »Wenn du Glück hast, wirst du völlig Unerwartetes treffen – wenn nicht, so versuche es woanders. Keinesfalls aber besteht die Aussicht, irgendetwas Außergewöhnliches zu erleben und ein echtes Verständnis der Phänomene zu gewinnen, wenn man davon ausgeht, man werde alles finden, was man sucht. Der Grund ist einfach: Der Mensch erfährt nichts selbständig, alles wird ihm offenbart.«7
Fluchthelfer in die Paradiese
Der ethnologische Forschungsbericht, der literarische und der journalistische Reisebericht haben ein Ziel gemeinsam, nämlich die Überschreitung der eigenen Kulturgrenzen. Aber sie erreichen es oder scheitern daran auf unterschiedliche Weise, weil ihr Handwerkszeug ein unterschiedliches ist. Die Aufgabe von Ethnologen ist die »dichte Beschreibung«, die interpretierende Durchdringung einer fremden Kultur. Dazu müssen sie denken und fühlen lernen, wie die von ihnen Beforschten, d. h. sie verlassen tendenziell die Position der Außenstehenden und werden zu Involvierten, gewissermaßen zu Kulturnomaden. Ihre biographische Befindlichkeit und ihre kulturelle Herkunft spielen dabei eine untergeordnete Rolle, wenngleich diese in ihre Beobachtungen und in den Text einfließen. Man nimmt seine Kultur mit, wohin man geht, hat Ernst Bloch diesen Umstand einmal beschrieben. In der Zeit des Kolonialismus oder des Deutschen Reiches haben die Ethnologen den ihnen national vorgeschriebenen Rassismus auch mitgenommen, ihn vor Ort bestätigen lassen und als wissenschaftliche Erkenntnis verbreitet.
Der literarische Reisebericht, der als Genre auf eine große Tradition verweisen kann, gibt dem »Ich« wesentlich mehr Spielraum.8 Ob sich der Schriftsteller bzw. die Autorin auf eine überwiegend biographische Auffassung vom Dort-Sein festlegt oder auf eine abenteuerliche, eine beobachtende oder reflektierende, es wird damit ein bekenntnishaftes Verfahren bestimmt, das im Text zum Ausdruck gebracht wird. Das Grundmuster – »Ich war dort« – teilen sie mit den Ethnologen, aber im Unterschied zu diesen wird das »Ich« wichtiger: es wird zu einem Filter, das dem öffentlichen Räsonieren eine andere Richtung gibt. Selbst in der Reflexion drückt sich diese gewollte Subjektivität aus, denn das Publikum soll nachvollziehen können, was die reisenden Autoren empfunden haben, sollen an deren Interpretationen teilhaben können, ohne einen Kulturwechsel, eine Perspektivenänderung vornehmen zu müssen. Je nach interkultureller Empathie bzw. Perspektive erfährt man in diesen literarischen Erkundungen über die bereisten Länder mehr oder weniger, über den Autor oder die Schriftstellerin hingegen sehr viel.
Berühmte Beispiele für die »biographische Form«, in der die fremde Kultur als Faszinosum wie als zu entdeckende Bereicherung des eigenen Kosmos gesehen wird, sind etwa die »Italienische Reise« des Weimarer Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe, die philosophische Meditation Pier Paolo Pasolinis über den »Atem Indiens« oder Herbert Tichys Lebensweisheiten »Was ich von Asien gelernt habe«. Für die »beobachtende Form« steht paradigmatisch der große Südamerikabericht des Alexander von Humboldt, der wie kaum ein anderer Autor auf empirische Tatsachen, Zahlen und Tabellen zur Beschreibung und Analyse seiner Beobachtungen zurückgreift. Keine Zahlen, aber Offenbarungen in Form von Begegnungen mit Menschen und ihren fremdartigen Lebensweisen, enthalten Cees Notebooms einfühlsame Reiseerzählungen. Als Beispiele höchst anspruchsvoller »Abenteuerliteratur« können die umfassenden Tibet-Berichte von Sven Hedin oder von Alexandra David-Neel gelten. Wie die Erkundungen der Weltreisenden Kaufmannstochter Ida Pfeiffer oder des Weltenbummlers Richard Burton, führten deren Reisen vor mehr als einhundert Jahren in damals noch kaum bekannte Weltregionen. Für die »reflektierende Tradition« sind die »Denkbilder« des Flaneurs Walter Benjamin charakteristisch, weil darin die Betrachtung des Stadtbildes mit der Reflexion der ihm zugrundeliegenden kollektiven Struktur verbunden wird. Ähnliches gilt für Simone de Beauvoirs Reisetagebuch, das sie von ihrer ausgedehnten Amerika-Reise 1947 publizierte.
Heinrich Heine, dem »letzten Dichter der deutschen Romantik«, verdanken wir das Genre des »Reisebilds«. In der 1826 veröffentlichten »Harzreise« vollzieht er einen Paradigmenwechsel auf dem Feld der Reiseliteratur, in dem er den politischen Stillstand der Restaurationszeit, die weltanschauliche Stubenhockerei einer ganzen Epoche kontrastiv ins Bild setzte. Mit der Kritik an den anderswo herrschenden Zuständen war die Situation in eigenen Landen gemeint, ein der Zensur geschuldeter Etikettenschwindel. In seinen Reisebildern kommt die ruhelose Suche nach dem eigenen Ort in der Geschichte und die eigene Unrast zum Ausdruck und sie markieren den Beginn des literarischen Reisejournalismus.9
Journalistische Reiseberichte und die Reiseführer-Literatur gehen auf die Tradition der »descriptiones« und der »itinerare« zurück. Sie sind im Grunde Anleitungen zum richtigen Reisen, haben also primär eine Dienstleistungsfunktion. Derartige Reiseführer deckten seinerzeit den Bedarf an schriftlichem Material zu den verschiedenen Reiserouten der Kreuzfahrer, der Jerusalem-Pilger und später der jungen Adeligen und Scholaren auf ihrer »Grand Tour« ab, wiesen also bereits eine ausgesprochen publikumsbezogene Orientierung auf. Hans Tuchers Reisebuch über Palästina, das 1482 erschien, begründete die Tradition der gedruckten Reisebücher. Diese breitete sich im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge der »Methodisierung des Reisens«10 über ganz Europa aus und wurde im aufkommenden Eisenbahn- und Tourismuszeitalter in den 1830er Jahren von John Murray (Handbooks for Travellers) und von Karl Baedecker (Reiseführer für Reiseziele im In- und Ausland) aufgegriffen. Aufgabe dieser Reiseführer war es nicht, wie in den Berichten der Entdeckungsreisenden, eine neue Weltsicht zu bieten, auch nicht die Neubestimmung des eigenkulturellen Selbstverständnisses oder eine neue Auffassung des Fremden zu vermitteln. Neben den Informationen zur Erleichterung des Reisens etablierten die »Baedecker« – der Name wurde im deutschen Sprachraum bald als Synonym für Reiseführer verwendet – den »touristischen Blick«. Sie legten fest, was als sehenswert galt und kanalisierten damit die Neugier. So wurde das Kuriose kanonisiert und der sich eben auf die ganze Welt erweiternde Blick auf das Spektakuläre und als das Besondere beschriebene wieder verengt.11
Die Reise- und Wahrnehmungsform des Tourismus, die auf eine rund zweihundertjährige Entwicklungsgeschichte verweisen kann, bildet somit genau das Gegenteil von dem, was zeitgenössische Ethnologen wollen: fremde Kulturen werden als »Gegenwelt exotisiert«, damit sie als Reiseziel, als »Reiz der Fremde«, als ästhetische Faszination durch die Tourismusindustrie verwertbar werden. Fremde Kulturen in ihrer Normalität zu schildern und damit verstehbar zu machen, widerspräche zweifach der marktwirtschaftlichen Logik des Kapitalismus: erstens der Tourismusindustrie, die den Ferntourismus-Markt neu zu konzipieren hätte und zweitens der Kultur- und Medienindustrie, die von der Vermarktung des Sensationellen und Außergewöhnlichen lebt.
Vor dem Zeitalter der Filmkameras und Smartphones, der Auslandskorrespondenten und des Ferntourismus, war die fotografisch illustrierte Reisebeschreibung das wichtigste Medium der europäischen Kenntnis über andere Zivilisationen.12 Sie lieferte das Rohmaterial an Daten, Bildern und Charakteren, das von den Daheimgebliebenen weiterverarbeitet wurde – von den überwiegend männlichen Forschern, Philosophen, Poeten und Autoren der Kolportageromane sowie von den Journalisten in den Illustrierten und Magazinen. Sie prägten die Images anderer Länder und Kulturen dauerhaft.
Typisch dafür sind die Bilder von den »Wilden –« wer kennt nicht Winnetou? – die der 1842 geborene Karl May, einer der erfolgreichsten Autoren deutscher Zunge des 20. Jahrhunderts, entworfen hatte und die bis heute in den Fantasien der Heranwachsenden zirkulieren. Seine deutschsprachige Gesamtauflage lag 1913, ein Jahr nach seinem Tode, bei 1,3 Mio. Büchern, 1970 hatte sie bereits 50 Mio. erreicht, die Taschenbuchausgaben nicht mitgerechnet. Nicht die damaligen deutschen Kolonien, sondern die Savannen und Prärien Nordamerikas bildeten den Schauplatz seiner Schilderungen, Gebiete, die er zu diesem Zeitpunkt – wir schreiben die Jahre 1860 bis 1880 – noch nie betreten hatte. Aber Tausende verarmte Bauern, Arbeiter und Weber Schlesiens und Sachsens, Menschen aus seiner Heimat, wanderten in dieser Zeit nach Nordamerika aus, um dort ihr Glück zu suchen. Die Romane Karl Mays sind Märchen, Erzählungen über ein »gelobtes Land«, in denen alle Figuren frei erfunden sind.13
Ganz anders und doch auch zur Gattung der »Sehnsuchtsliteratur« gehörend sind die Himalaya-Heldenepen eines Reinhold Messner.14 Obwohl das Ego und die Sinnsuche des wohl berühmtesten Bergsteigers unserer Zeit immer im Zentrum stehen, kommen die Bergbewohner darin nicht nur als Träger von Expeditionsausrüstung vor. Nach der Besteigung aller Achttausender gründete er in Südtirol die »Messner Mountain Museen« und im Pustertaler Bruneck ist eines gänzlich den Bergvölkern dieser Welt gewidmet. Während Messner über alle Gipfel und buchstäblich »Bis ans Ende der Welt« ging, um zu seinen Einsichten zu kommen, die er in einer Millionenauflage publiziert, war Karl May ein Gedankenreisender. Sein Aktionsradius beschränkte sich auf einen kleinen Teil Deutschlands und für einige Jahre sogar auf eine Zelle von sechs Quadratmetern.
Die Medien und die zuliefernden Agenturen für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing sind unerlässliche Kolporteure des Schönen und Erlebenswerten in diesem Geschäft mit der Sehnsucht. Sie erzählen von Refugien in den Alpen mit Wellness-Buddhismus als »signature treatment« ebenso wie von ultimativen kulinarischen Höhepunkten mit Fado-Begleitung im »Bairro Alto« Lissabons oder von pittoresken Flohmärkten in den »backstreets of London«. Dem Außergewöhnlichen verpflichtet wird in Liedern, in Filmen, in Magazinen und in Interviews die Faszination von New York als die Stadt der Städte beschworen. Natürlich bleibt da kein Platz mehr um auf den täglich erfahrbaren Alptraum der Stadtneurotiker, die Drogenszene oder die Gewalt der Hinterhöfe hinzuweisen. Die Wirklichkeit macht Urlaub. In kaum einer Artikelserie über Inselträume oder »Secret Escapes«-Destinationen stinkt der dortige Touristenmüll zum Himmel, werden die tatsächlichen Lebensbedingungen der Inselbewohner angesprochen oder der ungleiche Nutzen diskutiert, den der Tourismus stiftet. Auch das touristische Handeln wird kaum reflektiert. Wenn Sie lieber Sonnenöl statt Heizöl kaufen wollen, fliegen Sie mit uns nach »Egalwohin«, die Wärme gibt’s in der Ferne! Raus aus dem Alltag, rein in den Flieger, das Glück ist buchbar – so lautet die Botschaft, die in den millionenhaft verkauften Traveller-Magazinen und auf den bunten Tourismusseiten der Zeitungsbeilagen als Weisung ausgegeben wird.
»Der Tourismus ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu verwirklichen«, schrieb der fernsichtige Hans Magnus Enzensberger bereits 1958 in seiner Kritik am Tourismus. »Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloss, durch ihre Werte, Normen, restriktiver, repressiver wurde, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen.«15 Daran hat sich bis heute wenig geändert, nur die Fluchtbewegung ist im Zuge der vollständigen Etablierung des industriewirtschaftlichen Gesellschaftssystems zur Konvention gereift, Bestandteil des westlichen Lebensstils geworden und umfasst mittlerweile rund 15 % des Weltbruttosozialprodukts. Etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung geht auf Reisen, zwei Drittel der Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten fahren regelmäßig auf Urlaub. Aus der Befreiung von den Zwängen der industrialisierten Welt entstand eine eigene »Kulturindustrie«, die Flucht aus der das gesamte Leben durchdringenden Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden, zu einem hoch diversifizierten Freizeit-, Erholungs- und Reisemarkt. Dies ist nicht verwunderlich, sondern entspricht vollkommen der Logik einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die eben alles vermarktet, auch die Sehnsüchte, die sie durch ihre eigenen Widersprüche produziert.
Zwischen der globalen Medienindustrie und dem Tourismus bestehen daher auffällige Ähnlichkeiten. Beide kanalisieren Fluchtbewegungen aus dem defizitär empfundenen Alltag, beide agieren als »ambulante Therapieräume«, die man kurzzeitig aufsucht. Beide liefern »Traumweltangebote« und in trivialen Fernsehserien wie »Das Traumschiff«, »Der Bergdoktor« oder in »Donna Leons Venedig-Krimis« findet eine Fusion statt, die den aggregierten Sehnsuchtsvorrat anspricht. Der Tourismus gilt als wichtige Krücke, mit der Menschen versuchen aus ihrer Identitätskrise, die breite Gesellschaftsschichten befallen hat, auszubrechen, Er ist ein Hilfsmittel wie die Ideologisierung jener »geborgten Identität«, die die Zugehörigkeit zu nur einer Gemeinschaft, einer Gruppe, einer Nation betont, was gleichzeitig eine Zurückdrängung oder den Ausschluss der anderen bedeutet.16 Xenophobie und Exotismus sind beides Vermeidungsstrategien. Etwas holzschnittartig formuliert könnte man sagen, dass die Xenophobie einer Haltung entspricht, bei der man das Fremde meidet, um das Eigene nicht in Frage stellen zu müssen. Beim Exotismus zieht man in die Fremde, um zu Hause nichts ändern zu müssen.
In der völlig unüberschaubaren Fülle von Reisebildern und Tourismusliteratur gibt es daher nur die heile Welt, obwohl mittlerweile alle wissen, dass der Tourismus nicht nur Vergnügen und Erholung erzeugt, sondern ihm auch eine kultur- und landschaftszerstörerische Kraft innewohnt. Touristen zerstören vielfach das, was sie suchen, indem sie es finden – alle zusammen in großer Masse und noch dazu gleichzeitig! Andererseits schlägt sich seine enorme ökonomische Bedeutung in tausenden Arbeitsplätzen nieder, als globales Dienstleistungsgewerbe schafft er Einkommen, Wertschöpfung und Wohlstand in vielen Regionen dieser Welt. Der Tourismus verändert auch das Zusammenleben der Bereisten und gilt als Motor sozialen wie kulturellen Wandels.
Die Bilderwelt der linearen Medien sowie der digitalen, konsumiert auf dem »second screen« der Smartphones, spielt eine ganz wesentliche Rolle in der Produktion von Erwartungshaltungen, Leitbildern, Stereotypen und Klischees. Wie die österreichischen und deutschen Heimatfilme der Nachkriegszeit liefern Kataloge, Reiseseiten und Sehnsuchtsliteratur vorwiegend behübschte Realitäten und immer wieder auch zurechtgelogene Bilder. Würden die Urlaubsziele unter dem Kreuz des Südens oder in den Alpen nicht nur als von Katalog-Indios bzw. von Lederhosen tragenden Reservats-Österreichern und Alphorn-Schweizern besiedelte Disneylands angepriesen, entstünden vielleicht nicht jene falschen Erwartungen, bei deren Einlösung sich Touristen wie »abgekühlte Soldaten« verhalten – so hat Jean Paul Sartre die Invasion der touristischen Massen einmal genannt. Insbesondere der Ferntourismus in die Länder des globalen Südens trägt nicht selten Züge einer neokolonialistischen Veranstaltung ohne Rücksichtnahme auf Menschen, Kulturen und Ökologie in den bereisten Entwicklungsländern.17 Aber auch in den völlig überlaufenen Zentren des europäischen Massentourismus lässt sich die destruktive Kraft des Tourismus studieren. Amsterdam, Barcelona, Venedig, Dubrovnik, Florenz und etliche andere Kultstätten europäischer Zivilisation können ein Lied davon singen.
Was der Anthropologe Lévi-Strauss in seinem 1955 als Reisebuch publizierten Forschungsbericht »Traurige Tropen« über die Lust an Reisen und Reiseberichten angesichts der fortschreitend irreversiblen Naturzerstörung festhielt, gilt heute im Zeitalter der atomaren Bedrohung, der Zerstörung alter Kulturen und der möglichen Klimakatastrophen noch viel mehr.
»So verstehe ich die Leidenschaft für Reiseberichte, ihre Verrücktheit und ihren Betrug. Sie geben uns die Illusion von etwas, das nicht mehr existiert und doch existieren müsste, damit wir der erdrückenden Gewissheit entrinnen, dass zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind.«18
Abenteuer light
Abenteuerurlaub, Abenteuerspielplatz, Abenteuerpark, Abenteuerclub, Abenteuerzeitschrift, Abenteuer Nassrasur. Wo normierte Routine den Alltag bestimmt, wird selbst der Umgang mit Rasierschaum und Klinge zum Abenteuer. »Erlebnismarketing« heißt die mediale Zauberformel, aus der einfache Fußwanderungen zum leicht abenteuerlich und verwegen klingenden »Trekking« werden. Alle genannten Begriffe haben eine gemeinsame Wurzel, über die sie als außergewöhnliches Erlebnis definiert werden. Aufbrechen, unterwegs sein, Neues erfahren, die Suche nach Risiko und Gefahr, Unerwartetem und Unberechenbarem, verbunden mit geographischer Veränderung – also ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. Georg Simmel erkannte schon 1911, dass alle Merkmale des bürgerlichen Abenteuers in ein System eingebunden sind, die der Alltag vorgibt und das Abenteuer zu einem wichtigen Bestandteil unseres Lebens machen. Obwohl als Fremdkörper in unserer Existenz sind beide unausweichlich miteinander verbunden.19
Die Sehnsucht nach Abenteuer impliziert immer den Schritt aus einer kulturellen Ordnung heraus, revoltiert gegen Einschränkung und stellt somit eine zeitlich beschränkte Grenzüberschreitung dar. Dies trifft besonders auf das sexuelle Abenteuer zu, weil erotische Ausbrüche mit Tabus und der bürgerlichen Sexualordnung brechen, Grundwerte in Frage stellen. Mit leuchtenden Augen berichteten die ersten Südsee-Entdecker von den unbekümmerten Lebens- und Liebesformen der Insulaner und mit Neid blickte man lange Zeit nach Frankreich, dessen Kultur angeblich eine größere Freizügigkeit einräumt: Ein Franzose – ein Grandseigneur, zwei Franzosen – ein Liebespaar, drei Franzosen – ein ideales Ehepaar. Es derart »auf Französisch« zu treiben verstößt zwar gegen die herrschende Moral, gehört aber zum Vorrat der sittenwidrigen Wunschträume und Fantasiewelten ganzer Generationen. Paris gilt bis heute als die ultimative Welthauptstadt der Liebe.
Waren die ersten Abenteuerreisenden entweder junge Adelige oder Wissenschaftler, so stellen heute ledige bzw. kinderlose Großstädter, überwiegend Männer in akademischen Berufen, somit »Kopfarbeiter«, das Gros der Abenteuertouristen und Fernreisenden. Der typische Globetrotter ist im besten Mannesalter und kann aufgrund seines gesicherten Einkommens sein Verlangen nach exotischen Ferien befriedigen. Flüchteten sich in der Abkehr von der Zwangs- und Überflussgesellschaft die Bürgerkinder der »68er Generation« in die exotische Ferne eines indischen Ashrams, um dort das einfache Leben zu leben, so wurde spätestens in den 1990er Jahren der typische Abenteuertourist modern. Das Abenteuer in Form des »Erlebnisurlaubs«, als Expedition, Entdeckungsreise bzw. als »Adrenalin-Tourismus« in Katalogen beworben, wurde zum Unterscheidungsmerkmal, zur Abgrenzung von der Masse und als Kennzeichen von Individualität gesellschaftsfähig gemacht, d. h. in die bürgerliche Distinktions- und Weltordnung integriert. Modebewusste Erlebnismenschen dominieren seither das Profil der Abenteuerreisenden. Die kommerzielle Verbreitung der Erlebnisreisen führt dazu, dass sich immer mehr Menschen in exotische Länder wagen, weil der Abenteuer-Urlaub – wie paradox – immer sicherer wurde. Mit der Ausbreitung des Internets konnte im Laufe der Jahre dann auch in den entlegensten Regionen die Verbindung zum Heimathafen aufrechterhalten werden. Tourismusrouten dienen heute als Investment-Wegweiser für Telekommunikationsunternehmen und Internet Provider. Der WiFi-Standard ist in vielen unterentwickelten, aber vom Tourismus erschlossenen Gebieten auf dem neuesten technischen Stand, nur die Sanitäreinrichtungen halten auf dem Niveau des Mittelalters und verweisen damit auf einen hinteren Platz des Landes im Ranking des Human Development Index.
Im Zeitalter der entfesselten Motorisierung erfolgt die Erfahrung des Fremden sehr viel häufiger als Passage, auf der Durchfahrt von Ausgangspunkt zu Endpunkt mit einer flüchtigen Wahrnehmung der Landschaft. Der »Panoramablick« nimmt nur Konturen wahr, die Komplexität eines Kulturraumes wird allenfalls auf einige markante Sehenswürdigkeiten reduziert. Aber auch sie können faszinieren, Atmosphäre und damit Gefühlsraum vermitteln. Eine ebenfalls beliebte Form der Fremderfahrung bietet die Reise mit dem Wohnmobil. Im Zentrum des Geschehens steht das Unterwegs sein, aber in gewohnter Umgebung, mit »Schöfferhofer Weizen« und »TV Spielfilm«, d. h. man reist im eigenen Wohnzimmer. Wie asiatische Touristen in Europa praktisch nur in Bataillonstärke auftreten und das Fremde mit Abstand, aus der gesicherten Distanz, die eine Gruppe aufbaut, konsumieren, so kann man eigentlich jede Gruppenreise unter dem Aspekt der Risikominimierung betrachten. Studienreisen in die Wüste per Jeep im Konvoi, die Durchquerung der Alpen in der Seilschaft, die Städtefahrten des Seniorenheimes im klimatisierten Reisebus – in allen Fällen bietet die Gruppe das Sicherheitsgefühl, das die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, Fremden, Unwägbaren zu einem Distanz-Erlebnis werden lässt.
Der Fremde als Konstrukt
Das Fremde ist ein Konstrukt, das nur im Verhältnis zum Eigenen existiert. Die als fremd erscheinenden Eigenschaften »des Fremden« werden in dessen eigenem Umfeld als normal empfunden, außerhalb seines Kontextes aber als fremd. Fremdheit ist also keine Eigenschaft von Menschen oder Dingen, sondern eine Zuschreibung, die Distanz und Differenz innerhalb sozialer Beziehungen definiert. Es wird nicht nur das Fremde markiert, sondern auch das Eigene. Wenn das Ausmaß an Fremdheit von Menschen, Kulturen, Landschaften für den Tourismus eine Bedeutung hat, etwa weil die Freude an Unterschieden, die Neugier als emissionsfreie Antriebskraft und der Kontakt mit anderen Ethnien und Kulturen ein wichtiges Motiv für Reisen bildet, so stellt sich die Frage, worin die Anziehungskraft des Fremden tatsächlich liegt und wie Anziehendes konsumiert bzw. Abstoßendes aussortiert wird.
Im Wesentlichen sind es – folgt man Ortfried Schäffter20 – vier Ordnungsschemata, »Modi des Fremderlebens«, die das Spektrum von Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung abdecken. Im ersten Schema interpretieren wir »Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen« und gehen von einem fundamentalen Gleichklang von Unterschiedlichem aus. Im weinseligen Wienerlied »Menschen, Menschen, san ma alle« kommt diese grundlegende Verschmelzung typisch zum Ausdruck. Derartige Verbrüderungen über Grenzen von Kultur, Klasse und Geschlecht hinweg werden gelegentlich als völkerverbindende Komponente des Tourismus interpretiert, der im Wesentlichen aus einem Angebot von Staunenswertem, Momenten des Genusses und interkulturell folgenlosen Erlebnissen besteht.
Das zweite Schema versteht die »Fremdheit als Gegenbild«, als Negation von Eigenheit, das auf die Ausgrenzung des Andersartigen hinausläuft. Das Fremde wird zum »natürlichen Feind«. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf das Gemeinsame, sondern auf das Gegensätzliche, auf die Grenzlinien. Diese Sichtweise dominiert im Flüchtlingsdiskurs, denn Touristen kommen und gehen, Flüchtlinge und Asylsuchende jedoch kommen und wollen bleiben. Wenn Menschen fremder Kulturen zuwandern und sich die Majoritätsbevölkerung abgrenzen und distanzieren will, sind Zugehörigkeitskonflikte an der Tagesordnung.
Das dritte Schema interpretiert »Fremdheit als Chance zur Ich-Ergänzung und Vervollständigung«, das Fremde wird als strukturelle Ergänzung vereinnahmt – afrikanisch tanzen, arabisch kochen, Ayurveda und Feng Shui, Mangas und Bossa Nova etc. werden in den eigenen Lebensstil integriert. Das Fremde wird als Lernfeld gesehen, Neugierde und Risikobereitschaft sind Voraussetzung. Man besucht jene Regionen und Kulturen, von denen man sich eine Komplettierung der eigenen Persönlichkeit verspricht. Wie der ultimative Zweck jeglicher Reisetätigkeit letztlich in der gesunden Rückkehr besteht, so wird in diesem Fall eine Anregung, eine veränderte Einstellung, vielleicht sogar ein »anderer« Mensch, als Trophäe nach Hause mitgebracht.
Albert Camus ist die Einsicht zu verdanken, dass wir auf Reisen stärker angreifbar sind als in unserer gewohnten Umgebung. Was den Wert des Reisens ausmache, sei die Angst, denn gerade die Fahrt ins Ungewisse hätte weniger mit Vergnügen zu tun als vielmehr mit einer Form von Askese. Fern von unserer Heimat und unserer Sprache überfällt uns eine unbestimmte Angst, und wir empfinden das Verlangen, in den Schutz unserer alten Gewohnheiten zurückzukehren. »In diesem Moment fiebern wir und sind zugleich durchlässig« – im Reisen sieht er gleichsam eine höhere und ernstere Wissenschaft, die uns zum Selbst zurückführt.21
In den ersten drei Varianten des Fremderlebens wird bei aller Unterschiedlichkeit das Fremde als letztlich doch etwas »Eigenes« in die Identität eingebunden bzw. vereinnahmt, wobei im zweiten Schema eben die Abgrenzung identitätsstiftend wirkt. Das vierte Schema, das »Fremdheit als Komplementarität« auffasst, geht von einer prinzipiellen Andersartigkeit und Nicht-Aneignungsfähigkeit aus, aber durch die Vielfalt wird die Welt eine runde: Wie Welle und Teilchen erst zusammen das Licht ausmachen, sind Eigenes und Fremdes unverzichtbare und einander bedingende Bestandteile gesellschaftlicher Existenz und Wirklichkeit.22
Tourismus und Kulturindustrie sind heute globale Erscheinungen, die die Separiertheit und Besonderheit von Kulturen weitgehend aufheben. In der Kulturtheorie ist von Weltbürgern ohne eigenes Territorium die Rede, von durch und durch hybriden, transkulturellen Persönlichkeiten. Obwohl Elemente jeder Kultur tendenziell für alle anderen Kulturen Einflussgrößen bilden, so zeigt sich in der Praxis doch, dass kulturelle Unterschiede oft schwer zu verkraften sind. »Perfekte Völkermissverständigung« und interkulturelle Konflikte sind daher häufiger das Ergebnis als geglückte Kommunikation. In der Begegnung mit Menschen aus einer anderen Kultur kann bei Touristen ein starkes Gefühl der Hilflosigkeit, der Angst und Aggression hervorgerufen werden. In der Mehrzahl der Fälle wird ohnedies der nähere Kontakt vermieden bzw. auf das Notwendigste reduziert, andererseits verführt die Urlaubssituation zu Leichtsinn und Neugier, steigt die Bereitschaft zum Spiel mit der Angstlust.
»Kulturelle Konfusion« oder gar »Kulturschock«23 entstehen dann, wenn die eigenen Vorstellungen über die angemessene Deutung der Welt nicht mehr stimmen, kulturelle Andersartigkeit nicht mehr in das eigene Erfahrungssystem sinnhaft integriert werden können. Speisen, Ungeziefer, Geräusche, Gerüche, andere Hygienestandards, Traditionen, Gesten, Sprache, das ungewohnte andere Verständnis von Nähe und Distanz – all das kann Stress und Angst erzeugen, seelisches Ungleichgewicht hervorrufen und in Orientierungslosigkeit münden. Derart geschockt sehnen sich die einen nach Hause zurück, gehen nicht mehr aus dem Hotel, scheuen jeglichen Fremdkontakt, ertränken die Angst im Alkohol, die anderen geraten wegen jeder Kleinigkeit in Wut, beobachten genau jegliche Körperreaktion, sind fixiert auf ihre Peristaltik, fühlen sich hilflos, waschen sich ständig die Hände und verweigern die Nahrungsaufnahme. Ein Versuch des Stressabbaus endet in der Flucht, im Kampf, in der Abscheu und Ablehnung. Allfällige Vorurteile mutieren so leicht zu Feindbildern, werden zu xenophoben Einstellungen und führen zu rassistischen Äußerungen. Die enttäuschte Illusion bewirkt die Rückstufung der Einheimischen zu Unterentwickelten, sie werden zu Bewohnern von »Schurkenstaaten« degradiert.
Der optimistische Charakter hingegen versucht es mit Humor und Toleranz um zur inneren Akzeptanz der Umstände zu kommen. Man findet letztlich einige Vorzüge der lokalen Kultur und versucht sich auf die Gegebenheiten einzulassen. Auf diese Weise hievt man sich nicht nur aus der Depression, sondern wird letztlich auch erfolgreich interkulturelle Kontakte schließen. In der Maximalvariante verliebt sich der Ausländer in die fremde Kultur, wobei zwischenmenschliche Kontakte diese Zuneigung massiv beschleunigen können, kleidet und verhält sich wie Einheimische, nimmt den Lebensstil der fremden Kultur an und wird für kurze Zeit quasi selbst zum »Eingeborenen«.
Lässt man sich auf das Fremde derart intensiv ein, besteht die Vollkommenheit des Abenteuers eben »nicht« darin, dass es in dem Zeitraum einer Nacht begonnen und beendet wird, wie Italo Calvino in der Erzählung »Reise eines Angestellten« behauptet. Es ist wohl die Imagination des »Edlen Wilden«, die solide Projektion des Traums vom einfachen Leben, die Antithese zum europäischen Zivilisationswahnsinn und seinen Zwängen, die Elemente bzw. Modelle anderen Lebens für Touristen – zumindest für die Dauer eines Urlaubsaufenthalts – attraktiv erscheinen lassen. Der zwanglos anmutende Arbeitsalltag, die Anspruchslosigkeit, »arm aber glücklich«, die scheinbar unbesorgte Daseinsfreude, die soziale Gleichheit ohne Besitzstreben oder der von der Natur bestimmte Lebensrhythmus stellen sich polemisch der neuzeitlichen Kultur entgegen.
Insbesondere der entspannte Umgang mit der Zeit, die deutlich geringere Geschwindigkeit des Alltagslebens, fasziniert die in engen Zeitkorsetten steckenden Europäer. In diesem Bild von der heilen Welt auf dem wolkenlosen Alti Plano Südamerikas oder der lauen afrikanischen Sommernacht, am Palmenstrand oder im Luxuszeltresort in der Serengeti, fehlt konsequent jeglicher Realitätsbezug. Touristen sind geradezu blind für das Politisch-Hässliche oder die Härten der Lebensvollzüge in alpinen Regionen und in tropischen Breiten. Von Hunger, Armut und ähnlichen Unzumutbarkeiten wollen die Wenigsten etwas hören oder sehen. Ihre Fantasien und Kopfgeburten bauen auf jenen Bildern auf, die von den Hochglanzprodukten der Tourismus- wie der Unterhaltungsindustrie in Umlauf gebracht worden sind. Aus diesem Schema brechen nur gut vorbereitete und reiseerfahrene Touristen aus, die politisch, ökologisch und kulturell sensibilisiert ihre Umwelt kritisch betrachten und erhebliche Defizite bzw. Abweichungen vom Gebrauchswertversprechen feststellen.
Das Fremde hat es so an sich, dass es fremder aussieht, als es ist
Dass die Darstellungen fremder Kulturen und Länder eine mediale oder touristische Konstruktion sind, sollte uns im Zeitalter der technologischen Verdichtung und Relativierung von Raum und Zeit nicht verwundern. Die Massenmedien sind jene Instanzen, die die Bilder von der Welt erzeugen und massenhaft in Umlauf bringen, mit Stereotypen handeln, die letztlich unser Denken und Fühlen massiv beeinflussen und mitbestimmen. Aber wenige Regionen sind derart mystifiziert und von Trugbildern verfremdet wie Tibet. Die »Fünf Tibeter«-Gymnastik am Morgen, Samsara für den Blusenausschnitt am Abend, Chakra-Meditation für die männliche und weibliche Sexualität, Yakbutter-Tee für die Ausdauer, Blessings vom Dalai Lama für das erfüllte Leben – alles wird in die »Konstruktion Tibet« hineingestopft. Touristen suchen in dieser spirituell aufgeladenen Destination der Sehnsucht, die von westlichen Literaten und den Bildern Hollywoods ständig neue Nahrung erhält, den Ort des ewigen und wunschlosen Glücks. Weil der ferne Protest gegen die chinesische Unterdrückung den Nomaden und Kleinbauern auf dem Dach der Welt aber wenig hilft, wird der Dalai Lama von der internationalen Medienöffentlichkeit besonders ehrfürchtig hofiert, ist seine Geschichte doch für die Medien wie geschaffen. Ein Gott zum Anfassen betritt die Weltbühne, moralisch einwandfrei und mit großer Ausstrahlung verbreitet er die Botschaft des Friedens und bringt die Bürokraten in Beijing in Bedrängnis – ein einfacher Mönch heimst wie ein Rockstar Applaus ein und wird zum Superstar.
Aus der Mystik des alten Tibet haben die Medien eine »Traumwelt« gezaubert – wie der Tibetologe Martin Brauen24 minutiös nachweist – und die wachsende Tourismusindustrie tut ihr Bestes, um die Legenden zu beleben, denn die Einmaligkeit einer Reise auf das Dach der Welt liegt nicht nur darin, dass man sich 4000 m über dem Meeresspiegel aufhält, sondern auch in der Höhe des Preises. Touristiker bemächtigen sich der medial verbreiteten Bilder und die Verbindung zwischen Imagination und Traum, Fiktion und Tourismus kommt in der »Traumreise« bzw. im »Traumland Tibet« zum Ausdruck. Der gemeinsame Nenner liegt darin, dass Realitäten durch Gefühlselemente ersetzt werden. Während im praktischen Leben diesen Projektionsprozessen ständig Grenzen gesetzt werden, ist das im Film oder im Tourismus nicht der Fall, da lässt sich folgenlos träumen. Wenn China den Zugang zu Tibet für Westtouristen verbietet, was immer wieder der Fall ist, bleibt von so einer Reise tatsächlich nur eine Illusion übrig – und die Hoffnung, dass sich die Grenzbalken bald wieder öffnen und den Tibetern noch ein Quantum an Selbstbestimmung erhalten bleibt.
Nicht nur im Himalaya sind Touristen auf der Suche nach dem Ort des ewigen Glücks bzw. nach der Einlösung der Versprechen, die Filme und Sehnsuchtsliteratur erzeugten. Auch wenn im Film, wie Paul Valéry meinte, alle Attribute des Traumes mit der Präzision des Wirklichen ausgestattet sind, so gestalten Touristen ihre Wirklichkeitswahrnehmung doch selbst. Sie reisen den Bildern nach, die sie aus Filmen, von Postkarten und Postings schon kennen, um dann mit der eigenen Kamera jenes Bild zu machen, das alle anderen enthält. Das Erlebnis besteht in der Überhöhung dieses einen Augenblicks, der Rest mag im Schatten der ungewissen Erinnerung untergehen. Nichts ist lügenhafter als das eigene Gedächtnis, wenn es um die Erinnerung geht. Aber das Bild hält fotografisch fest, was an Selbstvergewisserung notwendig erschien. Das Fremde wurde durch eigenen Augenschein wahrgenommen und die Begegnung dokumentiert. Das Foto ist Konserve und Trophäe gleichzeitig, wie das Souvenir. Das exotische Souvenir gehört in seiner trivialisierten Form als »Airport Art« zur geglückten Fernreise wie die Fotobeweise. Die Anerkennung zu Hause schafft eine zusätzliche Befriedigung, macht das Unternehmen ex post zu einem Erlebnis der besonderen Art, auch wenn man einiges durchlitten hat.
Es sind die europäischen Fantasien, die seit Jahrhunderten die exotischen Welten auf Stereotype25 reduzieren. Der Tourismus, die Mode, die Unterhaltungsindustrie verheimatlichen die Fremde – Exotik ist heute überall – und bewahren sie gleichzeitig als Projektionsfläche von Sehnsüchten und Träumen. Diese höchst widersprüchliche und gespaltene Einstellung prägt das Abendland seit jeher in seiner Rezeption des Anderen.26 Europäische Maler entwarfen orientalische Szenen, die mit der Realität nichts zu tun hatten, aber sie malten sich ihre Wünsche und Träume von der Seele um diese zu retten. Stehen Strandurlaube an der türkischen oder kroatischen Mittelmeerküste ganz oben auf der Beliebtheitsskala, so interessieren die Türkin oder der Kroate als Nachbarn zu Hause kaum, auch die Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern oder aus den Kriegsgebieten Kleinasiens, der Wiege der Menschheit, erfahren keine Wertschätzung. Die Haltung fremden Kulturen gegenüber war stets eine ambivalente und ist bis heute von Eigennutz geprägt.
Aus Träumen entstehen Traumata, wenn die Träume verletzt werden oder Vorstellungen unerfüllt bleiben. Die exotische Welt ist keine Traumwelt, kein Fluchtraum, keine Idylle, aber sie wird so gehandelt, auf das Sehnsuchtsmotiv festgelegt. In Wahrheit besteht sie aus vielen fernen gefährdeten Welten, die wir mit unseren Fantasien herholen. Der Tourismus vereinfacht die beschwerliche Annäherung, die Kitschindustrie trivialisiert und verbilligt die Inbesitznahme, wir leben in einem Klischee der fernen Welt in einer Fülle von Stereotypen, in Massen von exotischen Bildern ertrinkend.
Erlebnishafte Reisezufriedenheit entsteht in der touristischen Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem am ehesten dann, wenn man sich gut vorbereitet auf den Weg gemacht hat und seine Vorstellungen dem Umfeld anpasste bzw. vor Ort nichts zerstört hat, also mit einem guten Gewissen den Heimweg antreten kann. Touristen sind mehr Suchende als Findende, und gerade die reichen und mobilen Eliten, die ständig im Aufbruch und ohne Visa oder »Aufenthaltstitel« unterwegs sind, vermitteln den Eindruck von territorialer Unbehaustheit, stets auf der Suche nach Novitäten, die es zu konsumieren und zu inkorporieren gilt. Die Jagd nach Traumwelten bewirkt keine Sesshaftigkeit, erlaubt keine Bindungen von Dauer, sondern nur Zerstreuung. Oft bleibt es beim »tourist gaze«, beim »staunenden Blick« und »begaffen«, weil die postkoloniale Kinderstube nicht mehr zulässt oder die Werkzeuge wie Respekt, Demut, Empathie und Offenheit oder Decodierungs- sowie Interpretationstechniken fehlen. Das sollte aber niemanden davon abhalten, den Tanz mit dem Fremden zu wagen, einen ersten Schritt zu setzen und sei er noch so zaghaft.
Fußnoten
- 1. Zur Ethnopsychoanalyse von Exotismus und Xenophobie. In: Mario Erdheim (Hg.), Die Psychoanalyse und das Unbewusste in der Kultur. Frankfurt 1988, 258–265.
- 2. Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt 1990.
- 3. Die Geschichte der europäisch-überseeischen Begegnungen ist eine zutiefst widersprüchliche, wie Urs Bittlerli in seiner Publikation Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, München 1991, exemplarisch herausarbeitet. Die Kolonialreiche ebneten durch ihre Eroberungen und Jahrhunderte dauernde Herrschaft auch den Weg in den heutigen Nord-Süd-Konflikt. Pointiert wird dieser dargestellt von Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003.
- 4. Ausführlich zur Rolle der Massenmedien Kurt Luger, Perfekte Völkermissverständigung, in: Zeitschrift für Entwicklungspolitik, Heft 3/1990, 5–23.
- 5. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt 1991.
- 6. Auf der Spur des Schneeleoparden, Bern-München-Wien 1978.
- 7. Indisches Tagebuch. Reisenotizen 1928–1931. München 1996, 219.
- 8. Eine gute Einführung in das Genre der Reiseliteratur liefert Peter Brenner, Der Reisebericht, Frankfurt 1989.
- 9. Ausführlich dazu Daniel Cuonz, Heines Unrast, Poetologie einer Selbstverortung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, Heft 2/2018, 165–184.
- 10. Eine umfassende Darstellung des Reisens in dieser Epoche bietet Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier, Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien-Köln-Weimar 2002.
- 11. Zur Diskussion was in der angloamerikanischen Literatur als »tourist gaze« bezeichnet wird siehe John Urry, The Tourist Gaze, London 1990 und Dean MacCannell, Empty Meeting Grounds, The Tourist Papers, London 1992.
- 12. Exemplarisch Kurt Kaindl, Harald P. Lechenperg. Pionier des Fotojournalismus 1929–1937, Salzburg 1990.
- 13. Helmut Schmiedt, Karl May, Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt 1992.
- 14. Wissenschaftlich aufgearbeitet hat dieses Genre Dominik Siegrist, Sehnsucht Himalaya, Alltagsgeographie und Naturdiskurs in deutschsprachigen Bergsteigerreiseberichten, Zürich 1996.
- 15. Eine Theorie des Tourismus. in: Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten I, Bewußtseins-Industrie, Frankfurt 1967, 4. Auflage, 179–205, 190–191.
- 16. Siehe dazu Kenneth Gergen, The Saturated Self, Dilemmas of Identity in Contemporary Life, News York 1991.
- 17. Eine ausführliche Diskussion über diesen Zusammenhand siehe Herbert Baumhackl, Gariele Habinger, Franz Kolland und Kurt Luger (Hg.), Tourismus in der »Dritten Welt«, Zur Diskussion einer Entwicklungsperspektive, Wien 2006.
- 18. Traurige Tropen, Frankfurt 1978, 31.
- 19. Das Abenteuer, in: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Berlin 1983, 13–26.
- 20. Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. In: Ortfried Schäffter (Hg.), Das Fremde – Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen 1998, 11–44.
- 21. Tagebücher 1935–1951, Reinbek 1972.
- 22. Zur theoretischen Vertiefung siehe Erich Hamberger, Kommunikation und Komplementarität – Fragmente einer transdisziplinären und transkulturellen Kommunikationstheorie, sowie Thomas Herdin/Kurt Luger, Kultur als Medium der Kommunikation, beide in: Erich Hamberger/Kurt Luger (Hg.), Transdisziplinäre Kommunikation, Wien 2008.
- 23. Kulturschock ist ein zentrales Thema interkultureller Kommunikation und durch Kurvenmodelle auch reichhaltig illustriert. Man bezeichnet damit den Sturz von der Euphorie in ein Gefühl, dass man fehl am Platze ist, sich aber langsam in die fremde Umgebung einfügt und Verständnis wie Kompetenz entwickelt. Für Expatriates ist das ein zentrales Problem, im Tourismus spricht man eher von Konfusion. Ein guter wissenschaftlicher Beitrag dazu ist von Petri Hottola, Culture Confusion: Intercultural Adaptation in Tourism, erschienen in den Annals of Tourism Research, Heft 2/2004, online: https://doi.org/10.1016/j.annals.2004.01.003. Der Buchmarkt reagiert auf derartige Irritationen mit einer Fülle von Reise Know-how Literatur. Eine grundlegende Auseinandersetzung erfolgt bei Thomas Herdin/Kurt Luger, Wir und die Anderen. Interkulturelles Begegnungsfeld Tourismus. in: Roman Egger/Thomas Herdin (Hg.), Tourismus im Spannungsfeld von Polaritäten, Wien 2010, 337–357.
- 24. Traumwelt Tibet, Bern-Stuttgart-Wien 2000.
- 25. Dieser schillernde Begriff hat viele Facetten und ist ein zentrales Forschungsthema in den Sozialwissenschaften. Beispielhaft dazu Martina Thiele, Medien und Stereotype, Konturen eines Forschungsfeldes, Bielefeld 2015.
- 26. Siehe dazu die faszinierende Publikation von Rolf Neuhaus, Reisen nach Ophir, Von der Suche nach dem Glück in der Ferne, Von Humboldt bis Hesse, von Timbuktu bis Tahiti, Wiesbaden 2020.
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