Leseprobe »Tourismus – Über das Reisen und Urlauben in unserer Zeit«: Utopien und Dystopien – Wunschtraum und Alptraum

»Jeder kennt das: eine Landschaft, die ihm den Herzschlag verändert;
Ein Sonnenuntergang, der sein Gemüt bewegt; ein Ausblick, der ihm die Sprache verschlägt.
Für den einen ist es der Berg, für den zweiten das Meer, für den dritten die Wüste.
Die Sinne reagieren auf einmal schärfer und empfindsamer.
Die Farben leuchten anders auf, Entfernungen verändern sich, Grenzen verschieben sich.
Manchmal ist es das Unerwartete, Neue, das in den Blick kommt.
Dann ist es die Rückkehr, die Wiederbegegnung, die gefangen nimmt.«
Iso Camartin, Jeder braucht seinen Süden
»Im Vorjahr war ich mit meiner Frau auf einer Weltreise.
Sie, da fahr ich nicht mehr hin.«
Gerhard Polt
Aufbrechen, Neues suchen, die Welt entdecken und dabei auch sich selbst – was immer die Motive für Reisen in nahe oder ferne Länder sein mögen, für kaum eine Region trifft diese Sehnsucht mehr zu als für die Bergwelt des Hindukusch-Himalaya. Doppelt so hoch und doppelt so lange wie der Alpenbogen suchen und finden Reisende, wandernde wie kletternde Touristen dort die Orte ihres ersehnten Glücks. Ihr touristischer Blick lässt sie die Augen vor dem allzu Hässlichen verschließen und die bedrohliche Wirklichkeit ausblenden. Touristen wollen weder vom Schrecken der gnadenlosen Monsunregen noch vom rasanten Sterben der Gletscher etwas hören. Sie wollen nur das Schöne sehen, das ja noch im Übermaß vorhanden ist: die große Stille und Erhabenheit der Bergwelt, kleine Dörfer, die sich wie Schafherden an grüne Hügelketten ducken, daneben von Hand gezimmerte und bewirtschaftete Terrassenfelder, die sich harmonisch in die Wildnis einfügen, Flora und Fauna so bunt wie ein Paradiesvogel, dazu eine ethnisch und kulturell gemischte Bevölkerung, die vielfältiger nicht sein könnte. Die scheue Anmut eines lächelnden Mädchens, die Herzlichkeit der Bauern – ja sogar deren Armut wirkt geradezu ästhetisch, perfekt passend, und über den Gipfeln schwebt wie eine Föhnwolke die Spiritualität dieser Landschaft.
Der Garten Eden – ein verlorenes Paradies
Das Leben im höchsten Gebirge der Welt kann sehr hart sein, jeglicher Romantik entbehren. Und wenn, wie Marcel Proust meint, das »verlorene« Paradies das »einzige« Paradies sei, so eignet sich der Himalaya wie kaum eine Region für diese Vorstellung von einem Garten Eden, dessen Zerstörung mit Beharrlichkeit vorangetrieben wird. Nicht nur die rücksichtlose Ausbeutung, die längst den ganzen Planeten erfasst hat und das ökologische Gleichgewicht überall auf der Welt durcheinanderwirbelt, hat ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Auch die anderen Bedrohungen, denen das höchste Gebirge der Welt ausgesetzt ist, lassen es nicht als übertrieben erscheinen, von »Orten des Infernos« zu sprechen. Kriege, Bürgerkriege, Terror, Armut, Hunger, Diskriminierung und gewalttätiger Rassismus, katastrophale Regierungsleistungen, Korruption, Zerstörung der Biodiversität und alter Kulturpraktiken – all das findet man in diesen Ländern. Dessen ungeachtet existiert die Region des Hindukusch-Himalaya in den urbanen Phantasien westlicher Touristen als Sehnsuchtsdestination, werden Kindheitsträume von einem Paradies auf Erden weitergesponnen und letztlich zu Reiseplänen und Reiseentscheidungen verdichtet. Sie finden ihre Realisierung dank der günstigen Flugtarife, die Fernreisen für viele erschwinglich werden lassen.
Fix gebucht als »Shangri la« in den Hochglanzmagazinen der Reiseindustrie, rückt diese Region meist nur dann in die Schlagzeilen der internationalen Nachrichtenmedien, wenn ein Ereignis eklatant aus dem Rahmen fällt, etwa wegen seiner Kuriosität, seiner Widersinnigkeit oder aufgrund seiner Unfasslichkeit und Brutalität. Als im Frühjahr 2013 ein islamistisches Terrorkommando auf der berühmten »Märchenwiese« am »Nanga Parbat«, dem im Norden Pakistans gelegenen neunthöchsten Berg der Erde, eine Gruppe von Bergsteigern aus ihren Zelten holte und sie kaltblütig ermordete, war das so ein Anlass. Die »Aufmerksamkeitsökonomie« der internationalen Medienwelt hat einen zynischen Charakter, denn der Tod hunderter Bergbauern jedes Jahr, verursacht durch den immer unberechenbarer werdenden Monsun, wird als Normalität verbucht, bleibt unbeachtet oder ist nur eine kleine Meldung auf den vermischten Seiten wert.
„Gibt es ein Paradies auf Erden, dann ist es hier“, schwärmte vor über 350 Jahren der große Mogulkaiser Jahangir. Friedlich und bezaubernd liegt das »glückliche Tal« in seiner ganzen Pracht zu Füßen der verschneiten Bergketten von Himalaya und Karakorum. Der Jhelum-Fluss schlängelt sich wie ein Seidenfaden durch die »paddyfields«, die sattgrünen Reisfelder, im ölig-schimmernden Dal-See liegen die vertäuten Hausboote und Kinder begrüßen die Fremden mit »Lotos«-Blumen, die zu tausenden in den schwimmenden Gärten rund um die Stadt Srinagar blühen. Sie ist nach »Lakshmi«, der Göttin des Glücks und der Schönheit, benannt.
Die Idylle hat nur einen schwerwiegenden Fehler: Pakistan und Indien liegen im Streit um die »schönste Braut« Asiens, das seit 1947 geteilte Kaschmir. Etliche Kriege haben die verfeindeten Nachbarn schon geführt, ein dauerhafter Friede ist nicht in Sicht, denn auf beiden Seiten wird immer wieder gezündelt. Der Ruf der moslemischen Bevölkerungsmehrheit nach einem »Azad Kaschmir«, einem geeinten und freien Kaschmir, tönt immer lauter, aber Indien will derlei Töne nicht hören. Jenseits dieses langjährigen Konflikts gehört Pakistan zu den am meisten von Gewalt geprägten Ländern der Welt, gilt als Rückzugs- und Aufmarschgelände fundamentalistischer Islamisten und Terrorgruppen. Dessen ungeachtet praktiziert insbesondere die bäuerliche Bevölkerung in den Dörfern eine Tradition von großzügiger Gastfreundschaft, die man anderswo kaum finden kann.
Armut, Zerstörung der Natur, Unterdrückung traditioneller Lebensformen und Kulturen kennzeichnen die Situation in etlichen Teilen des Hindukusch-Himalaya. In Afghanistan, Kaschmir und Nepal leiden die Menschen darunter, dass ihre Lebensräume zu Kriegsschauplätzen wurden, ethnische, politische oder religiöse Konflikte stets und über viele Jahre mit großer Gewalt ausgetragen werden. Im indischen Teil Kaschmirs reicht die Frontlinie bis auf 6000 m hinauf. Auf beiden Seiten des »Siachen« Gletschers stehen einander schwer bewaffnete Soldaten gegenüber. China hat das riesige tibetische Hochland zu einer militärischen Pufferzone erklärt, verwendet es als Atommüll- und Waffenlager und verfolgt eine strikte Politik der »Sinisierung«, d. h. der politischen, ökonomischen und kulturellen Integration Tibets in das chinesische Gesellschaftssystem. In Nepal gab es einen brutalen und zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg. Die maoistischen Rebellen stürzten letztlich mit Hilfe des Parlaments den König. Ihr »Krieg gegen die Paläste« fand Nährboden, weil die Lage der Bauern so verzweifelt und die Korruption der Herrschenden so rücksichtslos war, dass man unter allen Umständen dieses System der Unterdrückung loswerden wollte. In der jungen Republik muss sich aber trotz neuer föderaler Verfassung noch vieles zum Positiven verändern, damit man von einem tatsächlichen gesellschaftspolitischen Wandel sprechen kann. Die Korruption ist nicht wirklich kleiner geworden, nur die großen Limousinen fahren jetzt andere »fat cats«, wie die Nepalesen zu ihrer regierenden Oberschicht sagen.1
Trotz der vielen gewalttätigen Konflikte auf dem Dach der Welt, der Naturkatastrophen und der enormen Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts, ist der internationale Himalaya-Tourismus ständig gewachsen, scheint die von dieser Region ausgehende Magie im Westen ungebrochen. Auch der Inländertourismus und die Zahl der Pilger nimmt ständig zu. Statt nach Kaschmir fahren die Bewohner der indischen Metropolen während der heißen Sommermonate in andere nordindische Bundesstaaten, etwa nach Himalchal Pradesh, Sikkim oder Darjeeling. Der Tourismus in Tibet boomt seit Jahren. Die Hauptstadt Lhasa erlebt einen Ansturm vergnügungssüchtiger Mutterlandchinesen und die Altstadt den Niedergang ihrer sakralen Kultur. Das Zentrum mit seinen heiligsten Plätzen wurde zu einem Disneyland-Folkloreviertel mit allen negativen Insignien des Massentourismus. Das Schaugeschäft mit dem Welterbe blüht, der »Potala«, einst Residenz der Dalai Lamas, wird geradezu niedergetreten, aber traditionelle Altstadthäuser verfallen oder werden zu Tode modernisiert. Fünf Jahre dauerte der Bau der 2006 eröffneten 2000 km langen Eisenbahnlinie von Golmud über die Hochebene nach Lhasa. Sie schaufelt mehr und mehr Touristen nach Tibet und der Ausbau der Verbindung nach Shigatze erfolgte ebenfalls im Eiltempo. Die Weiterführung in den Westen bis zum »Kailash«, dem heiligsten Berg und Pilgerstätte vieler Himalayavölker, und darüber hinaus bis Ürümqi im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang (Ostturkestan) ist schon in Planung. Bis vor kurzem noch Zuschussprovinz, wird Tibet nun im Eilzugstempo infrastrukturell erschlossen und für den Tourismus der großen Zahl zugerichtet.
Auch in Nepal war der Tourismus mit der Eroberung der höchsten Gipfel und dem Wandertourismus im Schatten der Achttausender kontinuierlich gewachsen. 9/11, der Bürgerkrieg und eine zerstörerische Serie von Erdbeben im Jahr 2015 brachten einen massiven Rückgang. Die Zahl der Trekker und Bergsteiger halbierte sich nach dem Bürgerkrieg, aber zehn Jahre nach diesem Flächenbrand zählte man fast eine Million Touristen, so viele wie noch nie. Zuletzt kam der Tourismus wegen der Pandemie fast ganz zum Stillstand, weil auch die an »Abenteuer light« orientierte Klientel nicht mehr ins Land oder von dort nicht mehr nach Hause konnte.
Die meisten asiatischen Besucher kommen über die Hauptstadt Kathmandu nicht hinaus. Pilger besuchen die dortigen heiligen Stätten der Hindus und Buddhisten, die kauflustigen wie spielsüchtigen Inder und Chinesen die Shopping Malls, Casinos und einschlägige Etablissements. In Kathmandus Touristenviertel Thamel entstand innerhalb weniger Jahre ein Little Chinatown, mit Hotels, Restaurants und Entertainment. Für chinesische Privatunternehmen sind dies gewinnträchtige Geldanlagen. Auch der chinesische Staat investiert, geopolitisch motiviert vorwiegend in Nepals Infrastruktur, in Straßen und Wasserkraftwerke. Dies nützt auch dem Tourismus. Westtouristen interessieren sich hauptsächlich für Kulturelles, für die sakrale Welterbe-Architektur im Kathmandu Tal und für die einzigartige Bergwelt. Diese Mischung aus paradiesisch anmutender subtropischer Landschaft, ethnischer und religiöser Vielfalt, preiswerter Dienstleistung und hinreißender Freundlichkeit der Einheimischen, ergänzt zudem durch ein überwältigendes Angebot an exotischen wie billigen Souvenirs, machte das Land zum Zentrum des Himalaya-Tourismus.2
Das Paradies ist immer anderswo
Der Tourismus lebt von Paradiesvorstellungen – nicht nur im Himalaya. Das »Salzburger Land« warb viele Jahre um Besucher mit seiner bezaubernden Almen- und Berglandschaft und nannte sich augenzwinkernd »Das kleine Paradies«. Eine weltweit vertretene Premium-Hotelkette nennt sich »Shangri la« und auf der Landkarte des Ferntourismus findet man Paradiese für Taucher und solche unter Palmen, ist Tonga das »verschlafene Paradies der Südsee« und zu den »10 letzten touristenfreien Paradiesen« gehören Inselstaaten wie Nauru, Tuvalu oder Kiribati. Im Himalaya gilt das Königreich Bhutan wegen seiner intakten Natur als »letztes Paradies«. Mit seinen weißen Gipfeln, den dichten Wäldern und der buddhistischen Kultur ist der Kleinstaat die maßgeschneiderte Antwort auf westliche Sehnsüchte. Typisch für ein Paradies erlaubt es nur einem Zirkel Auserwählter den Zutritt. Damit wird die Besucherzahl künstlich klein und der Preis hochgehalten.
Seit Jahren ist Bhutan das »enfant chérie de la terre«. Großzügig unterstützt von europäischer Entwicklungshilfe läuft die Modernisierung des Landes mit Augenmaß unter dem Schlagwort »Bruttonationalglück«. In Wirklichkeit hat das Land den Entwicklungsländerstatus überwunden, wird von einer jungen, in westlichen Universitäten ausgebildeten Generation königstreuer Technokraten regiert, und hat sich geschickt als exklusive Tourismusdestination etabliert. Ein junger König wie aus dem Märchenbuch erlaubt sogar ein Parlament, das allerdings nur von königstreuen Politikern bevölkert wird. Das ist »story telling« und »public diplomacy« vom Feinsten – eine globale Marketing- und PR-Strategie lenkt davon ab, dass Bhutan auf seine 700.000 Einwohner berechnet wohl die höchste Zahl an ethnischen Flüchtlingen produziert hat. Bruttonationalglück ist nur für die Mehrheitsbevölkerung der »Drukpas« und nicht für die nepalstämmigen »Lhotsampas« vorgesehen. Von diesen wurden seit den 1980er Jahren über 100.000 aus Bhutan vertrieben und beschuldigt, illegale Ausländer zu sein. Auch Vertreter supranationaler Organisationen schwärmen von diesem Musterland, das seine Natur schützt und kulturelle Traditionen bewahrt. Komplementär zur Selbstdarstellung wird im Tourismus der »Shangri la-Mythos« mit Tendenz zum Wellness-Buddhismus vermarktet.
Bhutans Politik könnte man als Joint Venture mit dem Westen verstehen: Es betet das Mantra des Antimaterialismus und bringt seine Natur in ein Tourismuskonzept ein, das sich nur reiche Glückssucher aus dem Westen leisten können, von wo auch die Entwicklungsgelder und das ökologische Knowhow kommen.3
Utopische Imagination Paradies
Paradiese sind imaginative Konzepte, die in nahezu allen Religionen und Kulturen vorhanden sind und in ihrer Ikonographie auch einen utopischen Anspruch formulieren. Als Paradies – das Wort kommt ja aus dem Alt-Persischen – feiern die islamischen Völker in ihrer Poesie die schönsten Gärten. Es sind Orte der fließenden Quellen und rauschenden Brunnen, Oasen der Ruhe und Meditation, Genussstätten der Gottliebenden, wo Wein, Milch und Honig in berauschenden Mengen fließen. In der Dichtung der Sufis leben darin Glückseligkeit wie Harmonie und es herrscht grenzenlose Freude an dieser makellosen Natur.
In der Literatur, in Malerei und Kunsthandwerk unseres Kulturkreises sind Bäume, Berge und Wasser konstitutive Bestandteile des Naturschönen und derart paradiesischen Landschaften. Im christlichen Paradies-Mythos verbinden sich jenseits des moralischen Imperativs räumliche Phantasmagorien mit himmlischen Sphären, mit Reinheit und Göttlichkeit und sie imaginieren einen Zustand, der nicht von dieser Welt ist. Etliche dieser Elemente findet man als Bausteine eines die Sehnsüchte weckenden Tourismusmarketings. Auch wenn die Metapher inflationär verwendet wird, so locken sie doch mit Versprechen, die man im Urlaub vor Ort eingelöst finden möchte: Sonnenschein, blauer Himmel, tropische Strände, glasklares Wasser, makellose Körper, Exotik, Unberührtheit der Landschaft, sinnlicher Überfluss – eine zeitlose Welt, in der Friede, Harmonie und Wohlstand existieren, ein wahrlich glückhafter Zustand.
Die ersten über moderne Massenmedien erfolgreich verbreiteten touristischen Paradiesbilder zeigten Hawaii, die Inselwelt des Südpazifiks, die Südsee – imaginäre Geografien, die seit den Aufzeichnungen der frühen Weltumsegler in kollektiven Illusionen schlummerten. Reisen – das heißt Bildern zu folgen und durch Augenschein vor Ort jene zu erleben, von denen man vorher nur träumte. Reisend verbrauchen wir die Ziele unserer Wünsche – und sind enttäuscht, wenn die Realität – das »echte« Tibet, Tirol, Taormina, Tahiti usw. – mit unserer Vorstellung nicht mithalten kann. Mit zunehmender Integration des Tourismus in die Kulturindustrie gesellte sich zu den tropischen Pflanzen die einschlägig süßliche Musik, die höhere Oktaven der Emotionalität und der effektvollen Vermarktung anschlug. Die Modeindustrie antwortete auf ethno-vestimentäre Bedürfnisse und die Audiovisionsindustrie prägte in Cinemascope und im Heimquadrat zusehends die Vorstellungswelten der Erholung- und Ablenkungssuchenden mit nomadischem Temperament. Flatscreens und Smartphones unserer Tage erhöhen den Zauber durch brillante Farben und eine Fülle von allzeit erreichbaren Sehnsuchtsorten.
Auch die großartige Gebirgswelt des Himalaya existiert in den Vorstellungen vieler als Sehnsuchtsdestination. Um diese ranken sich Myriaden von Legenden und Mythen, jene von der Eroberung der höchsten Gipfel wie solche der Weisheit und Spiritualität buddhistischer wie hinduistischer Dämonen- und Götterwelten. Bilder und Erzählungen – vermittelt durch eine höchst ambitionierte Medien- und Freizeitindustrie, die diesen attraktiven Markt bearbeitet – machen ihn für Besucher aus der ganzen Welt zu einer faszinierenden Landschaft und einem erstrebenswerten Reiseziel. Buchtitel der Abenteuer- und Sehnsuchtsliteratur wie »Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will« (Reinhold Messner), »Gipfel und Geheimnisse« (Kurt Diemberger) oder »Nur der Himmel ist höher – Mein Weg auf den Mount Everest« (Helga Hengge), weisen den Weg und das Ziel, spielen mit der magischen Anziehungskraft des Himalaya und des höchsten Berges der Welt im Besonderen. »Sehnsucht Himalaya« hat über die Expeditions- und Reiseberichte der Bergsteiger Einzug in den Alltagsdiskurs gefunden. Hat der flache Alltag das Leben planiert, gibt es einen Ausweg in die Höhe. Dann zieht es den gut ausgebildeten und konditionsstarken Alpinisten und in seiner Spur auch den sprichwörtlichen »Maier« in den »großen Himalaya«, und schon in dem Foxtrottschlager aus dem Jahr 1926 stellt man die Frage, was dieser dort zu suchen hat.4
Der Mythos von Shambhala
»Eine alte tibetische Geschichte berichtet von einem jungen Mann,.
der sich auf den Weg nach Shambhala begab. Nachdem er bereits mehrere Gebirge überquert hatte, gelangte er zu der Höhle eines Einsiedlers, der ihn fragte: Was ist das Ziel, das dich dazu anspornt, diese Schneewüsten zu durchqueren?.
Ich will Shambhala finden, antwortete der junge Mann..
Nun, dann brauchst du nicht weit zu reisen, sagte der Einsiedler..
Das Königreich von Shambhala ist in.
deinem eigenen Herzen.«
Edwin Bernbaum, Der Weg nach Shambhala
Wie ein Achttausender aus dem Hochland von Tibet ragt auch der Mythos von »Shambhala« aus dem reichen Schatz der Legenden und Hierophanien heraus. Die alten Texte verweisen auf ein hinter den Schneebergen verstecktes Königreich. Dort soll eine Dynastie erleuchteter Könige die geheimsten esoterischen »Kalacakra«-Lehren des Buddhismus bewachen, für jene Zeit, in der die Wahrheit verschwunden ist, zerstört von der Gier nach Macht und Reichtum und durch Krieg. Der Tibetologe Edwin Bernbaum5 betont in seiner Auslegung die Mühen einer solchen Reise, die in den alten Texten beschrieben sind. »Shambhala« kann man nur nach einem unendlich langen und beschwerlichen Marsch durch öde Wüsten und wilde Berge erreichen. Man muss viele Hindernisse überwinden, um dieses ferne Heiligtum zu erreichen, und nur ein vollkommener Yogi wird in der Lage sein, dort auch wirklich anzukommen. Ein schönes und geheimnisvolles Bild – nur durch die innere Reinigung erlangen wir auch äußere Vollkommenheit! Die spirituelle Ausstrahlung wird nur derjenige erfahren, der bereit ist, sein Herz zu öffnen und das Staunen eines Kindes mit der Weisheit eines vollkommen gereiften Menschen zu verbinden. So sind wir als Reisende auch Suchende, Pilger, die einen Zustand der inneren Freiheit erlangen wollen, von geistiger und seelischer Unruhe aber auch von Ängsten erlöst. In unserem Geist liegt dieses Königreich außerhalb unserer Reichweite, aber es nährt die Sehnsucht nach einem Ort der Reinheit und Makellosigkeit. Eine Vorstellung, die auch in den zentralen Texten des Taoismus auftaucht – das verborgene Land verkörpert die ideale Gemeinschaft und im vollkommenen Seelenfrieden findet sich die vollendete Glückseligkeit.
»Shambhala«, jenes verborgene Königreich irgendwo in Zentralasien, wurde in der Belletristik und in der populären Kultur zu einem Ort des Glücks auf Erden. In dem Roman »Der verlorene Horizont« von James Hilton, verfasst in den 1930er Jahren, wird es unter dem Namen »Shangri La« gegenständlich und irgendwo in Tibet lokalisiert. Mit der Trivialisierung seines spirituellen Hintergrunds und dessen Reduzierung auf Werbebotschaften in Reisekatalogen, wird die Suche nach jenem verborgenen Königreich in die unmittelbare Reichweite von Touristen gerückt. Bernbaum macht jedoch darauf aufmerksam, dass das Königreich jenen Teil unserer Welt symbolisiert, der sich unserer Wahrnehmung entzieht. Solange wir uns an die Täuschungen unseres Ichs klammern, fehlt es an der notwendigen Bewusstheit, der Welt wirklich gewahr zu werden. Der Schleier der Vorurteile behindert unsere Sicht, wir begnügen uns mit dem Oberflächenbewusstsein, das uns die wahre Welt nicht wahrnehmen lässt. Das Interesse an »Shambhala« reflektiert somit unser Sehnen nach dem unmittelbaren Erleben der Welt.
Der Mythos verweist auf eine universelle Form von etwas Tieferem, eine in vielen Kulturen existierende Sehnsucht nach Glück als Zustand der Zufriedenheit. Somit muss jeder Mensch für sich sein eigenes »Shambhala« finden, jenen Ort, jene Person, jene Vorstellung, die die inspirierende Kraft besitzt, uns über die innere Reise zu größerer Bewusstheit und Freiheit zu führen. Die innere Reise ist kein Rückzug aus der Welt, sondern vielmehr der Versuch, die Lehren zu erfahren, um die Dinge in ihrem wirklichen Sein zu erkennen.
Der kürzeste Weg zu sich führt um die Welt
In kulturwissenschaftlichen und philosophischen Texten wird auch im Westen auf diesen Umstand Bezug genommen und Reisen als die »Erfahrung der Welt« und als Weg zu sich selbst interpretiert. Der Reiseschriftsteller Graf Keyserling meinte gar, der kürzeste Weg zu sich selbst führe um die Welt herum. In diesem Aufbruch in eine Heterotopie und gleichzeitig zu sich selbst steckt ein Element von Utopie, auf das Klaus Kufeld6 aufmerksam macht. Das Selbsterfahrungspotenzial der Reise bemisst sich nach der Offenheit im Umgang mit der Ungewissheit menschlicher Lebensgegebenheiten. Alle Antennen auszufahren und bereit sein, sich auf das Andere, das Fremde einzulassen – darin liegt die Chance, seine Wahrnehmungen zu schärfen und Neues zu sehen, seinen Blickwinkel zu verändern.
Das fertige Urlaubspaket der Glücksindustrie liefert hingegen nur fremde Wirklichkeit als Kulisse, ist mehr Zustand als Weg, da die eigene Wirklichkeit nur an einen anderen Ort verlegt wird. Aber auch in diesem Fall werden die Wahrnehmungen des Einzelnen durch die eigenen Bedeutungssysteme sowie Erwartungshaltungen strukturiert, die Ansatzpunkte für Erlebnisse bilden. Dieser Prozess von Wahrnehmung, Sinngebung und Erlebniskonstruktion greift auf gespeicherte Codes zurück. Mündliche Erzählungen, Reiseliteratur, Bilder und Imaginationen sind die Quellen für diesen Konstruktionsprozess, mit deren Hilfe sich die Touristen ihre Erlebniswelten schaffen. Karlheinz Wöhler vermutet, dass es sich bei diesen Vorstellungen der Menschen um »glückliche Räume« handelt. Man will sie erfahren, weil sie etwas Außeralltägliches sind und vielleicht sogar „Orte, an denen sich der Sinn des Lebens erschließt“.7
Glücksucher und Mülltrenner
Touristen suchen in der Bergwelt des Himalaya das einfache Leben oder das menschliche Maß. Sie wollen wenigstens für einige Wochen zum Basalen zurück, dabei den eigenen Körper und ihre Grenzen spüren und in einen spirituellen Raum eintauchen, den die Tibeter als »beseelte Landschaft« bezeichnen, weil sie in einem engen Zusammenhang mit der Natur leben und über Rituale mit ihren Göttern oder Dämonen verbunden sind. Viele Touristen sind nicht nur Glückssucher, sondern auch Mülltrenner – jedenfalls in ihren Herkunftsländern, aber sie hinterlassen in den Tälern des Himalaya tonnenweise Zivilisationsmüll. Es scheint, als arbeite in uns ein Kraftwerk der Unvernunft, das zur Widersprüchlichkeit anspornt. Im Falle des Weltnaturerbes Mount Everest Nationalpark, das dem Schutz der UNESCO wie der gesamten Weltgemeinschaft überantwortet wurde, wäre der sorgsame Gebrauch, die vorsichtige und pflegliche Art des Umgangs als unbedingtes Gebot einzufordern. Aber Realität ist, dass der Verschleiß und die Zerstörung der Biodiversität einer momentanen Bedürfnisbefriedigung wegen oder aus Bequemlichkeit bzw. Nachlässigkeit in Kauf genommen werden. Seit Jahren wird im Rahmen eines internationalen Entwicklungsprojekts im Sagarmatha Nationalpark, der ganzen Region um den Mount Everest, dessen Basislager bis vor kurzem als höchstgelegene Mülldeponie der Welt galt, ein basales Müllmanagement umgesetzt, das noch erheblich verbessert werden muss. Es soll helfen, dem Berg seine Würde zurückzugeben, denn im tibetischen Buddhismus wird die Unversehrtheit der Landschaft mit einem Leben im Schutz der Götter verbunden.8
Dem österreichischen Schriftsteller und Asien-Reisenden Herbert Tichy (1912–1987), der den Himalaya mehrfach durchwanderte und die »Landschaft wie ein Gebet« empfand, war es zeitlebens ein Anliegen, das höchste Gebirge der Welt und dessen Bewohner den Menschen in Europa näher zu bringen. Er wollte stets den sozialen Kontext und seine Erfahrungen vermitteln, um auf diese Weise ein Verständnis für die Kulturen, ihre Traditionen und Lebensformen, zu ermöglichen. In seinem Buch »Die Wandlung des Lotus«, 1951 publiziert, schildert er diese Absicht: „Ich würde irreführen, wenn ich nur von den Tempeln, den Heiligen und dem Himalaya erzählte. Die sind seit Jahrhunderten unverändert, man kann sie nur besser oder schlechter beschreiben. Das Dramatische ist das Schicksal der Menschen, die in dieser Region leben.“9
Heute, 70 Jahre später, besteht genügend Evidenz über die magnitudinalen Veränderungen in dieser Region, nicht nur die sozialen und kulturellen Verwerfungen betreffend, sondern auch den Lebensraum selbst. Dieses Wissen hat in der westlichen Welt aber noch keine weiten Kreise gezogen. In der Vorstellungswelt dominieren Bilder von der Eroberung der Gipfel, wo es um Sieg oder Niederlage, um Leben und Tod geht. Oder sie stehen in Verbindung mit dem Dalai Lama bzw. buddhistischen Mönchen und indischen Yogis als Symbolträger für Spiritualität. Der Mythos von einem Ort ewigen Glücks in populärer Aufmachung schwingt als Standardnarrativ immer mit.
Der dicht verwobene Zusammenhang von Armut und Unterdrückung, von Krieg und Ritual, von ethnischer wie religiöser Buntheit und Konflikten, von Weisheit und fortschreitender Zerstörung der Lebensgrundlagen, von der stark wachsenden Bevölkerung und der immer dichteren Besiedlung, welche die Natur förmlich in die Knie zwingt – er überfordert alle in ihrer Kapazität und ihrer Bereitschaft, diese Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, aber auch im Vorstellungsvermögen, wie eine Lösung der vielfältigen Konflikt- und Problemlagen aussehen könnte.10
Der Himalaya als Tourismus- und Erlebnisraum, als manifester und vieldeutiger Andersraum, bietet westlichen Touristen eine Vielfalt an Irritationen, an kulturellen Herausforderungen und Situationen, in denen sie ihre Reisekompetenz wie ihr interkulturelles Toleranzpotenzial überprüfen können. Er kann Paradies und Hölle gleichermaßen sein.
Die Reise als Utopie
Die Analyse der unmittelbar wahrgenommenen Erfahrungen, die Bewertung der Erkenntnis hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihre Integration in den eigenen geistigen Kosmos verlangen jedenfalls einen weiterführenden Reflexionsprozess. Wenn Touristen ihren Erfahrungsgewinn und ihr eigenes Handeln kritisch hinterfragen, ist damit ein erster Schritt getan. Man gewinnt eine Vorstellung von einer anderen Welt und mithin eines anderen Seins in der Alltagswelt.
In so einer Sicht der Dinge gewinnt die Reise etwas Utopisches, wie Klaus Kufeld mit Bezug auf Ernst Bloch in seiner feinsinnigen Publikation „Die Reise als Utopie“ ausführt. Die »Wunschlandschaft Reise« wird zum Wissensmotiv, das unermüdliche Streben nach Erkenntnis in seiner Hinwendung zur Welt – »Der Mensch als Frage, die Welt als Antwort«. Dieses Motiv dem Tourismus grundsätzlich zu unterstellen wäre irreführend, nur bei Kultur- und Bildungsreisen wird so etwas wie Horizonterweiterung jedenfalls beabsichtigt. Aber Reise als Erkenntnis-»Arbeit« ist nicht das, wonach erholungs- und spektakelsüchtige Menschen in ihrer Freizeit streben.
Für Kufeld bietet der Urlaub zwar eine geradezu perfekt organisierte Heterotopie, als Ort der Illusion, der den Alltag ausschließt, aber eine nur scheinbar verwirklichte Utopie. Er sieht im Urlaub ein auf Statik zurückgedrängtes Reisen, „mehr Zustand als Weg“, eine um den Weg subtrahierte Illusion, weil die fremde Wirklichkeit nur als Kulisse begriffen wird und somit die Differenz zum Zuhause nicht mehr signifikant scheint. Der Weg dorthin – zum Ferienort – wird in dieser Sichtweise wieder zur Strecke, wie einst im Zeitalter der Eisenbahnreise das Dazwischen von Ausgangspunkt und Endpunkt letztlich ohne Bedeutung war. Wird die Reise zum Ziel degradiert, kommt sie ohne Utopie aus, denn echte Utopie enthält Hin- und Rückweg. Auf Erkenntnis und Wissen ausgerichtetes Reisen als Utopie heißt auf dem Weg sein und darauf bleiben, hat also keinen rechten Ort. Das touristische Reisen hingegen ist ein ankommendes Reisen, das einen Ort hat und der Strecke oder besser gesagt dem Weg nur dann Bedeutung schenkt, wenn dieser sichtbaren Erlebnischarakter behaupten kann, weil er entweder durch eine eindrucksvolle Landschaft führt oder mit Attraktionen wie einem spektakulären Straßenverlauf aufwarten kann. Der Weg bleibt aber auch dann in Erinnerung, wenn etwa ein Verkehrsunfall, oder ein außergewöhnlich lang andauerndes Stauerlebnis die Freude am Urlaub getrübt oder zerstört hat.
Urlaub gelingt dann am besten, wenn er nicht mit zu hohen Ansprüchen überfordert wird – der Freiheitstraum der Menschheit nicht mit zwei Wochen auf einer griechischen Insel oder dem Wohnwagenanhänger zugewiesenen Areal eines Campingplatzes gleichgesetzt wird. Hans Magnus Enzensberger hat in seinem hintergründigen Text „Eine Theorie des Tourismus“ schon 1958, also vor Beginn des eigentlichen Zeitalters des Massentourismus, auf die Widersprüchlichkeit touristischen Reisens hingewiesen. Die Leitbilder der Romantik – die zivilisationsferne Landschaft und die denkwürdige Geschichte – hätten sich als die Leitbilder des modernen Tourismus erhalten und dieser sei nichts anderes, als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum leibhaftig zu verwirklichen. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft aber schließt, umso angestrengter versuchen der Bürger und seine Frau ihr als Touristen zu entkommen. Die Reise gehört zu den ältesten und allgemeinsten Figuren menschlichen Lebens. Der Tourismus gründet darin, ist letztlich aber die in Serie hergestellte Form des temporären Ausstiegs aus der industrialisierten Warenwelt. Touristisches Reisen ist selbst zur Ware geworden und die Industrie hat offenbar auf einige zentrale Bedürfnisse Antworten in Form von mehr oder weniger standardisierten Angeboten gefunden.
Kritik begleitet den Tourismus seit seinen Anfängen. Spott gilt dem touristischen Habitus – von »sight-seeing Hennen« ist die Rede, die Bewohner der Hochgebirge machten sich lustig über die Städter, die Alpengipfel erstbesteigen wollten, aber nicht wussten, wie sie das bewerkstelligen konnten. Der »idiot du voyage« machte als Begriff Karriere – und mündet letztlich in einer fundamentalen Kritik an den Erscheinungen des Massentourismus, den höchst bedenklichen ökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen der vollständigen Touristifizierung ganzer Regionen.
Eine empirisch profunde und daher nachvollziehbare Kritik am Tourismus und den ihn prägenden Umständen lieferten die Schriften des Schweizer Ökonomen Jost Krippendorf. Er forderte schon in den frühen 1980er Jahren eine Veränderung des Tourismus, den er in seiner Gesellschaftskritik als »Landschaftsfresser« bezeichnet. Gleichzeitig legte er überzeugend dar, dass die Krise des Tourismus eigentlich eine Krise des Alltagslebens der Industriegesellschaft sei. In seinem Buch »Die Ferienmenschen« beschreibt er diesen Kreislauf, wonach die Menschen hinausziehen, um ihre Batterien wieder aufzuladen, um ihre körperlichen und geistigen Kräfte wiederherzustellen. Er spricht in der Wir-Form, denn so sehr man diesen Zusammenhang auch kritisieren mag, sind wir letztlich doch alle auch ein Bestandteil dieses Systems. Wir konsumieren auf unserem Trip das Klima, die Natur und die Landschaft, die Kultur und die Menschen in den bereisten Gebieten, die wir zu diesem Zweck in Therapieräume umfunktioniert haben. Dann kehren wir wieder nach Hause zurück, um dem Alltag eine Weile lang – bis zum nächsten Urlaub – zu trotzen. Aber der Wunsch, bald wieder und möglichst noch öfter zu verreisen, stellt sich schnell ein, denn das Leben lässt sich in ein paar Ferienwochen und an ein paar Wochenenden nicht nachholen. Der Karren ist überladen, mit Wünschen und Sehnsüchten überbesetzt. Aus dieser ständigen Wiederholung unerfüllter und unerfüllbarer Bedürfnisse bezieht der Kreislauf seine Dynamik. Er beginnt immer wieder von neuem. Wir arbeiten unter anderem, um Ferien machen zu können, und wir bedürfen der Ferien, um wieder arbeiten zu können. Wir spannen aus, um uns nachher umso besser wieder einspannen zu lassen.11
Die kritische Analyse, in der Krippendorf den Tourismus seinerzeit als »Fluchthelfer« aus dem Alltag beschrieb, kann im Kontext der heutigen »Beschleunigungsgesellschaft« auf noch mehr empirische Legitimität verweisen. Wenig verwunderlich, dass viele verzweifelt »Healing Spaces« bei der Suche nach einer »Work-Life Balance« aufsuchen, das soziale Gefüge immer brüchiger wird und viele befürchten, unter die Räder zu geraten. 35 Jahre nach der ersten Auflage seines Buches sprechen wir heute von einer grenzenlosen individuellen Mobilität, die im Wesentlichen auf fossiler Energie beruht und Natur und Weltklima schädigt. Die Kritik an den Umständen wie am Tourismus selbst hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Krippendorf hatte seinerzeit auch Alternativen aufgezeigt – wenig davon fand Eingang in den Tourismus unserer Tage.
Dystopie Overtourism
Für viele Menschen ist das Bedürfnis zu reisen konstitutives Element des modernen Lebensstils. Für die Erfüllung von Wunschträumen – also das Aufsuchen von Heterotopen in Verbindung mit etwas Erfahrung von Welt – ist die Tourismusindustrie zuständig, die sich mit zunehmender Globalisierung des Reisemarktes zu einem höchst ausdifferenzierten Dienstleistungsgewerbe entwickelt hat. Reise und Urlaub finden zusammen im erlebbaren Ort, der vorher Imagination und Gegenstand utopischer Vorstellung war. An Orten, wo sehr viele Touristen zusammenkommen, stellt sich das massentouristische Phänomen »overtourism« ein und damit auch die Befürchtung, dass alle gleichzeitig das finden, was sie suchen und dadurch das Erlebnis zerstören bzw. beeinträchtigen. Ein vollkommen ausgebuchtes Hotel, ein Wintersportort mit überfüllten Schipisten, das überlaufene historische Zentrum einer Stadt oder die Strände an der Costa del Sol sowie an der Adria während der Hochsaison – all diese Plätze können so einen Eindruck vermitteln. Mit »overtourism« bezeichnet man daher einen Zustand, bei dem die Zahl der TouristInnen die örtlichen Gegebenheiten überfordert und sich dies nachteilig für die Reisenden wie für die Einheimischen auswirkt. Es sind dann die Grenzen der Belastbarkeit und die Resilienz eines Ortes bzw. einer Region erreicht oder schon überschritten. Die Tourismusgesinnung der Bevölkerung nimmt ab, das touristische Erlebnis mischt sich mit Ärger und Frustration, der Tourismus entwickelt sich negativ, zum Gegenteil von Nachhaltigkeit.12
International wurde dieses Thema vehement in der Öffentlichkeit diskutiert, nicht zuletzt aufgrund der umfangreichen Medienberichterstattung über die Hilferufe bzw. Proteste der Bereisten in einigen beliebten Destinationen wie Venedig, Dubrovnik, Barcelona oder Amsterdam. Da diese Städte schon seit Jahren mit Massen an Touristen konfrontiert sind und noch auf der »bucket list« vieler reiselustiger Menschen stehen, wurden die Proteste zu einem hoch emotionalen Medienthema. Die Stadtverwaltungen sahen sich gezwungen, politische Schritte zu setzen, um den »Aufstand der Bereisten« – ein Begriff, der im Übrigen schon in den 1980er Jahren kursierte und die massiven Proteste von Dorfbewohnern in einigen Entwicklungsländern gegen den touristischen Ausverkauf ihrer schönsten Strände und Landschaften bezeichnete13 – in Grenzen zu halten. Amsterdam und Barcelona machten die umfassendsten Anstrengungen, um die Auswüchse des Tourismus konzeptuell zu bewältigen.14
In der rezenten wissenschaftlichen Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass es sich bei »overtourism« um einen Zustand in einer Tourismusdestination handelt, der einem »gefühlten Zuviel« an Tourismus entspricht. Wie eine »kritische Schwelle« zu bemessen wäre, begleitet die Diskussion über die »Carrying Capacity«, die »Tragfähigkeit einer Destination«, schon seit Jahren. Entscheidend dafür sind die Indikatoren, die dazu herangezogen werden. Das Ausmaß der touristischen Infrastruktur und deren Auslastung sind ein Aspekt, ein anderer die Verkehrsbelastung bzw. die Nutzung der Mobilitätsinfrastruktur. Drittens zählt dazu die Sichtweise der lokalen Bevölkerung, deren Bewegungs- und Entwicklungsmöglichkeiten durch das interpretierte Zuviel beeinträchtigt werden. Ihre »Tourismusgesinnung« hängt davon ab, welchen Nutzen sie aus der Situation zieht bzw. ob ihr Lebens- und Wohnraum durch »Crowding«, durch Bedrängtheit und Dichteerfahrung, unzumutbare Einschränkungen erfährt, ob ihre Toleranz gegenüber den wahrgenommenen akzeptierbaren Veränderungen an Grenzen stößt »(tolerable rate of growth)«. Schließlich ist auch die Besucherzufriedenheit »(visitor satisfaction)« ein Messindikator, die Befriedigung der Touristenwünsche, denn endlose Warteschlangen und sonstige Unzumutbarkeiten, ausgelöst durch andere Touristen, können das Reiseerlebnis stark beeinträchtigen.15
Zur Planung einer maßvollen Tourismusentwicklung kann das »Carrying Capacity Value Stretch Model« dienen, das von einer gegenwärtigen Situation ausgehend ein Toleranzniveau hinsichtlich eines Erwartungsniveaus bestimmt. Bei Überschreitung einer »Roten Linie« gegenüber dem Jetzt-Niveau wird sich die Stimmung in der Bevölkerung negativ entwickeln. Ganzjährige Touristenströme, übervolle Müllcontainer, besetzte Parkplätze und Kaffeehäuser, große Reisegruppen in engen Gassen führen zu unangenehmer Dichte-Erfahrung. Wird das zum Dauerzustand, regt sich öffentlicher Unmut. Ziel der Steuerung muss es also sein, den Spielraum zwischen diesen beiden Ebenen zu nutzen und das Toleranzniveau nicht zu überdehnen.16
Umfassende tourismuspolitische Maßnahmen wie die Schaffung eines Destinationsmanagements, Besucherlenkung und neue umweltschonende Verkehrslösungen sind wohl nötig, um jenen Handlungsspielraum zu bekommen, mit dem sich ein großes Tourismusaufkommen bewältigen lässt. Auch wenn die Corona-Pandemie für die nächste Zukunft dem Tourismus Grenzen aufzeigt, so wird der Städtetourismus doch wieder Fahrt aufnehmen, werden Museen und Galerien mit attraktiven Ausstellungen Reisende aus aller Welt anziehen. Auch die Strände und Schipisten haben ihren Reiz keineswegs verloren und viele Unternehmen haben die Pandemie auch genutzt, um in Verbesserungen des Angebots, in neue Lifte und sonstige Infrastruktur zu investieren. Die Werbemaschinerie läuft auf vollen Touren, um die Verluste der letzten Saisonen möglichst bald zu kompensieren.
Wesentliche Symptome für das Phänomen »Overtourism« sind die immer leichtere Erschwinglichkeit von Fernreisen für Asiaten bzw. die Mittelschicht der Schwellenländer, günstige Flugtarife, weil Flugbenzin nicht angemessen besteuert wird bzw. die Angebote sogenannter »Low-cost Carriers«, die – teilweise illegale – Vermietung von Wohnraum an Städtetouristen, was Druck auf dem Wohnungsmarkt erzeugt, das rücksichtslose Verhalten der Touristen und die Vermüllung von öffentlichem Raum und attraktiven Plätzen. Dazu kommen ein höheres Preisniveau in der Gastronomie für die einheimischen Besucher und die herausfordernden Arbeitsbedingungen sowie Belastungen der Dienstleister in Hotels und Gastronomie durch die saisonale Konzentration. Große Transportkapazitäten von Kreuzfahrtschiffen und Reisebussen bewirken stoßweises Auftreten einer zu großen Anzahl von Touristen, was Dienstleister und Destinationen – auch solche, die es gewohnt sind mit vielen Besuchern umzugehen – einfach überfordert.
Aus der Sicht der Reisenden zählen zu den Auswirkungen des Massentourismus folgende Erscheinungen: große Menschenmassen, lange Wartezeiten, überteuerte Preise in der Gastronomie und wenig authentische Kulinarik, erhöhtes Verkehrs- und Lärmaufkommen, ein Überangebot an touristischer Dienstleistung (Souvenir- und Fastfood-Shops, Kioske) sowie Müll und Umweltverschmutzung. Sehr störend wird von Touristen das Zuviel von Seinesgleichen empfunden – an anderen Touristen, die einen Belastungs- und Konfliktfaktor in der eigenen touristischen Erlebniswelt darstellen. Der Herden- bzw. Hordentourismus beeinträchtigt das touristische Erlebnis grundsätzlich und manchmal vollständig.
Touristen bewältigen die Herausforderungen im Regelfall eher pragmatisch, weichen aus wo es geht oder erdulden Unannehmlichkeiten. Zwei Stunden vor dem »Moisteiro des Jéronimos« im Lissabonner Vorort »Belem« auf Einlass zu warten, erhöht nicht den klösterlichen Erlebniswert. Viele Kultureinrichtungen haben daher Buchungssysteme eingeführt, die von den Besuchern eine vorherige Anmeldung verlangen, worauf ihnen ein bestimmter Zeitraum für den Besuch zugewiesen wird. Besucher verlassen sich auch bei manchen Tourismus-Hochburgen auf Bewältigungshilfen aus dem Internet, auf Erfahrungen anderer oder auf Regieanweisungen ihrer Guidebooks. Zahlreiche Online-Foren bieten Hilfe an und ihre Ratschläge werden als Gebrauchsanweisung zum erfolgreichen Besuch von Prag, Venedig oder anderen überlaufenen Destinationen genutzt.
Geduld und Toleranz wird überall als Kernkompetenz vorausgesetzt und gilt besonders für den Besuch des Tower von London, der meistbesuchten Eintrittskarten-Sehenswürdigkeit Englands, ebenso wie für den Veroneser Balkon, von dem herab Julia mit ihrem Romeo vermeintlich Herzensbotschaften kommunizierte. Die Magie eines solchen Ortes erschließt sich wohl frühmorgens oder spätabends eher als im Gedränge tagsüber. Wer Einzigartigkeit sucht, muss akzeptieren, dieses Erlebnis mit vielen anderen zu teilen, die mit derselben Absicht das Gleiche suchen und stellt sich besser auf die zu erwartende Situation ein.
Fußnoten
- 1. In meinem Buch Auf der Suche nach dem Ort des ewigen Glücks – Kultur, Tourismus und Entwicklung, Kathmandu 2014, versuche ich eine Minimalhypothese zum Verständnis der großen Zusammenhänge in dieser Region zu entwickeln.
- 2. Kurt Luger/Martin Weichbold, Reisemotive und Reiseerfahrungen von Himalaja-Touristen. in: Kurt Luger, Christian Baumgartner und Karlheinz Wöhler (Hg.), Ferntourismus wohin? Der globale Tourismus erobert den Horizont. Innsbruck 2004, 395–416.
- 3. Eva Dietrich, Himmlische Paradiese – Bhutan und der Himalaja-Raum als Heilslieferanten für den Westen. in: Neue Zürcher Zeitung vom 17.6.2010.
- 4. https://de.wikipedia.org/wiki/Was_macht_der_Maier_am_Himalaya%3F, 1.7.2021.
- 5. Der Weg nach Shambala, Freiburg 1995.
- 6. Die Reise als Utopie, Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, München 2010.
- 7. Touristifizierung von Räumen, Wiesbaden 2011, 9.
- 8. Projektdarstellung und Bericht unter http://www.savingmounteverest.org/; https://www.sagarmathanext.com/, 30.8.2021. Weiterführende Aktivitäten siehe https://www.sagarmathanext.com/.
- 9. Neuauflage Edition Sonnenaufgang, Wien 2016.
- 10. Jack Ives/Bruno Messerli, Mountains of the World – A Global Priority. New York–London 1997; Jack Ives, Himalayan Perceptions, Environmental change and the well-being of mountain people. London-New York 2004; ICIMOD-International Centre for Integrated Mountain Development, The Hindu Kush-Himalaya Assessment. Mountains, Climate Change, Sustainability and People, 2019. https://doi.org/10.1007/978-3-319-92288-1.
- 11. Die Ferienmenschen, Für ein neues Verständnis von Reisen und Freizeit, aktualisierte Ausgabe München 1986, 15.
- 12. Der Begriff overtourism machte schnell Karriere in den Massenmedien, weil es in manchen Orten zu Bürgeraufständen und Übergriffen gegen Touristen kam, auf welche die Politik mit Lenkungsmaßnahmen reagieren musste. Die Forschung hat sich ebenfalls mit diesem Phänomen ausführlich auseinandergesetzt. Beispielhaft dafür Andreas Kagermeier, Overtourism, Konstanz und München 2021; Goodwin, Harold: The Challenge of Overtourism. Responsible Tourism Partnership. Working Paper 4. 2017; http://haroldgoodwin.info/pubs/-RTP’WP4Overtourism01‘2017.pdf; McKinsey & Company and World Travel & Tourism Council: Coping with Success. Managing overcrowding in tourism destinations. 2017. www.McKinsey.com, 2.6.2021.
- 13. Daraus entstand eine bis heute aktive tourismuskritische Bewegung einer Reihe von NGOs, nicht nur im deutschsprachigen Raum. Ludmilla Tüting/Jost Krippendorf, Tourismus mit Einsicht, Arbeitsgemeinschaft Tourismus mit Einsicht, Starnberg 1989; https://www.fairunterwegs.org/magazin/news/detail/1986-aufstand-der-bereisten/
- 14. Greg Richards/Lenia Marques, Creating Synergies between cultural policy and tourism for permanent and temporary citizens. Committee on Culture of United Cities and Local Governments, Rotterdam 2018. http://www.agenda21culture.net, 4.3.2021.
- 15. Harald Pechlaner, Christian Eckert und Natalie Olbrich, Ein zu viel an Tourismus? Status quo und Lösungen, in: Tourismus Wissen – quarterly, Oktober 2018, 291–297.
- 16. Yoel Mansfeld/Aliza Jonas, Evaluating the socio-cultural Carrying Capacity of rural tourism communities. A „value stretch“ approach. in: Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie, Vol. 97, No 5, S. 583–601. https://doi.org/10.1111/j.1467-9663.2006.00365.x.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.