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Leseprobe: Über den Sinn des Lebens

Die in dem Buch dargebotenen Texte und Niederschriften dreier im Jahre 1946 von Viktor Frankl gehaltener Vorträge geben, in komprimierter Form, das Denken des bekannten Arztes und Psychotherapeuten wieder, welches er in den nachfolgenden Jahrzehnten in zahlreichen Artikeln und Büchern ausgebreitet hat. Eine Leseprobe
Abendliche Stille am See

Vom Sinn und Wert des Lebens I

Nicht weniger naiv war jener junge Mann, der mich eines Tages, vor vielen Jahren, ansprach, bevor ich irgendwo zu einer kleinen Plauderei über den Sinn des Lebens startete. Seine Worte waren beiläufig folgende: »Geh, Frankl, sei mir nicht bös, ich bin heute Abend bei meinen künftigen Schwiegereltern eingeladen. Ich muss unbedingt hin und kann nicht bei deinem Vortrag bleiben; sei so lieb und sag mir gschwind: Was ist der Sinn des Lebens?«

Das nun, was jeweils auf uns wartet, diese konkrete »Forderung der Stunde«, kann eine Antwort in verschiedenem Sinne erheischen. In erster Linie kann unser Antworten ein tätiges Antworten sein, ein Antwortgeben durch ein Tun, ein Beantworten von konkreten Lebensfragen mit einer Tat, die wir setzen, oder mit einem Werk, das wir schaffen. Aber auch hier hätten wir einiges zu bedenken. Und auch was ich jetzt meine, lässt sich vielleicht am besten ausdrücken, wenn ich auf ein konkretes Erlebnis zurückgreife: Eines Tages saß ein junger Mann vor mir, der sich mit mir eben über die Frage des Sinns bzw. der Sinnlosigkeit des Lebens auseinandergesetzt hatte. Da machte er folgenden Einwand: »Sie haben leicht reden – Sie haben da irgendwelche Beratungsstellen organisiert, Sie helfen Menschen, richten Menschen auf; aber ich – wer bin ich, was bin ich – ein Schneidergehilfe. Was soll ich tun, wie kann ich in meinem Tun dem Leben Sinn geben?« Dieser Mann vergaß, dass es sich nie und nimmermehr darum handelt, wo jemand im Leben steht, etwa in welchen Beruf er hineingestellt ist, sondern lediglich darum handeln kann, wie er seinen Platz, seinen Kreis ausfüllt – nicht auf die Größe des Aktionsradius kommt es an, vielmehr bloß darauf, ob der Kreis ausgefüllt ist, ein Leben »erfüllt« wird . In seinem konkreten Lebensumkreis ist jeder einzelne Mensch unersetzlich und unvertretbar, und dort ist es jeder. Die Aufgaben, die ihm sein Leben auferlegt, hat nur er, und ausschließlich von ihm ist gefordert, sie zu erfüllen. Und das Leben eines Menschen, der seinen relativ größeren Lebenskreis nicht zur Gänze ausgefüllt hat, bleibt unerfüllter als das eines Menschen, der seinem enger gezogenen Kreis wirklich genügt. In seiner konkreten Umwelt kann dieser Schneidergehilfe mehr leisten und in seinem Tun und Lassen ein sinnvolleres, ein sinnerfüllteres Leben führen als der von ihm Beneidete, sofern der sich seiner größeren Lebensverantwortung nicht bewusst bleibt und ihr nicht gerecht wird.

Wie steht es nun aber zum Beispiel mit den Arbeitslosen, wird man jetzt einwenden – wenn man nämlich vergisst, dass die Berufsarbeit nicht das einzige Feld ist, wo man tätig seinem Leben Sinn geben kann. Macht denn sie allein das Leben sinnvoll? Fragen wir doch bloß die vielen Leute, die uns – nicht ohne Recht – vorjammern, wie sinnlos ihre (noch dazu oft mechanische) Berufsarbeit sei, ihr ewiges Addieren von Zahlenkolonnen oder ihre immer gleichen Schaltbewegungen an Maschinenhebeln, an einem laufenden Band. Das Leben dieser Menschen lässt sich ja gerade erst in der allzu spärlichen Freizeit sinnvoll gestalten, mit persönlichem, menschlichem Sinn erfüllen. In seiner wiederum allzu reichlichen Freizeit hat aber auch der Arbeitslose die Chance, auch seinem Leben Sinn zu verleihen.

Niemand soll glauben, dass wir so frivol sind, wirtschaftliche Schwierigkeiten, eine wirtschaftliche Notlage, überhaupt das soziologische oder ökonomische Moment in solchen Zusammenhängen zu unterschätzen. Wir wissen, heute mehr denn je, wie weit »zuerst das Fressen und dann die Moral kommt«. Wir machen uns diesbezüglich auch gar nichts mehr vor. Aber wir wissen in einem, wie sinnlos Fressen ohne alle Moral ist und wie katastrophal diese Sinnlosigkeit dem nur aufs Fressen Bedachten zu Bewusstsein kommen kann; und wir wissen nicht zuletzt, wie sehr nur eine »Moral« – will heißen: der unerschütterliche Glaube an einen unbedingten Lebenssinn, so oder so das Leben erträglich macht. Denn wir haben es erlebt, dass der Mensch auch ehrlich bereit ist, zu hungern, wenn das Hungern nur einen Sinn hat.

Aber wir haben nicht nur gesehen, wie schwer das Hungern ist, sofern man keine »Moral« hat, sondern wir haben auch gesehen, wie schwer von einem Menschen Moral verlangt werden kann, sofern man ihn hungern lässt. Einmal musste ich irgendwo ein psychiatrisches Gerichtsgutachten abgeben über einen halbwüchsigen Burschen, der – inmitten äußerster Notsituation – einen Laib Brot gestohlen hatte; das betreffende Gericht hatte die präzise Frage gestellt, ob der Junge »minderwertig« sei oder nicht. In meinem Gutachten musste ich zugeben, dass er vom psychiatrischen Standpunkt keineswegs als minderwertig angesehen werden könne; aber ich tat dies nicht, ohne zugleich zu erklären, dass man in dieser seiner konkreten Situation schon überwertig hätte sein müssen, um angesichts solchen Hungers der Versuchung zu widerstehen!

Nicht nur in unserem Tätigsein können wir dem Leben insofern Sinn geben, als wir seine konkreten Fragen verantwortungsbewusst beantworten, nicht nur als Handelnde können wir Forderungen des Daseins erfüllen, sondern auch als Liebende: in unserer liebenden Hingabe an das Schöne, das Große, das Gute. Soll ich Ihnen nun etwa mit einer Phrase auseinandersetzen, dass und wie das Erlebnis von Schönheit das Leben sinnvoll machen kann? Ich will mich lieber auf folgendes Gedankenexperiment beschränken: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Konzertsaal und lauschen Ihrer Lieblingssymphonie, und an Ihrem Ohr rauschen soeben die Lieblingstakte dieser Symphonie vorbei, und Sie sind so ergriffen, dass es Ihnen kalt über den Rücken läuft; und jetzt stellen Sie sich vor, es wäre denkmöglich, was psychologisch so unmöglich ist: dass man Sie in diesem Augenblick fragt – ob Ihr Leben Sinn habe. Ich glaube, Sie werden mir recht geben, wenn ich behaupte: Sie würden in diesem Falle nur eine einzige Antwort geben können, und die würde etwa lauten: »Allein für diesen Augenblick gelebt zu haben – würde schon dafürgestanden sein!«

Ähnlich mag es aber auch dem ergehen, der nicht Kunst, sondern Natur erlebt, und ähnlich ergeht es demjenigen, der einen – Menschen erlebt. Oder kennen wir nicht das Gefühl, das uns angesichts eines bestimmten Menschen packt und, in Worte gekleidet, beiläufig Folgendes ausdrückt: dass es so einen Menschen in der Welt überhaupt gibt, das allein macht diese Welt und macht ein Leben in ihr schon sinnvoll.

Tätig geben wir dem Leben Sinn, aber auch liebend – und schließlich: leidend. Denn wie ein Mensch zu der Einschränkung seiner Lebensmöglichkeiten, soweit sie eben sein Handeln und sein Lieben betreffen, Stellung nimmt, wie er sich zu dieser Einschränkung verhält – wie er sein Leiden unter solcher Einschränkung auf sich nimmt, in alldem vermag er noch Werte zu verwirklichen.

Wie wir uns also Schwierigkeiten gegenüber einstellen – darin noch zeigt sich, wer man ist, und auch damit lässt sich das Leben sinnvoll erfüllen. Vergessen wir auch nicht den Geist des Sports – diesen eigentlich so recht menschlichen Geist! Was tut der Sportler anderes, als sich Schwierigkeiten nachgerade zu schaffen, um an ihnen zu wachsen? Im Allgemeinen gilt es natürlich nicht, sich Schwierigkeiten noch zu schaffen; im Allgemeinen ist es vielmehr so, dass Leiden unter dem Unglück nur dann sinnvolles Leiden ist, wenn dieses Unglück schicksalhaft ist, also unvermeidbar und unausweichlich.

Das Schicksal, das also, was uns widerfährt, lässt sich demnach auf jeden Fall gestalten – so oder so. »Es gibt keine Lage, die sich nicht veredeln ließe, entweder durch Leisten oder durch Dulden«, sagt Goethe. Entweder wir ändern das Schicksal – sofern dies möglich ist –, oder aber wir nehmen es willig auf uns – sofern dies nötig ist. Innerlich können wir in beiden Fällen an ihm, am Unglück, nur wachsen. Und jetzt verstehen wir auch, was Hölderlin meint, wenn er schreibt: »Wenn ich auf mein Unglück trete, stehe ich höher.«

Wie missverständlich muss es uns nun erscheinen, wenn Menschen einfach über ihr Unglück klagen oder gegen ihr Schicksal hadern. Was wäre aus uns geworden ohne je unser Schicksal? Wie anders als unter seinen Hammerschlägen, in der Weißglut unseres Leidens an ihm, hätte unser Dasein Form und Gestalt gewonnen? Wer sich gegen sein Schicksal – also gegen das, wofür er wirklich nichts kann und was er sicher nicht ändern kann – auflehnt, der hat den Sinn alles Schicksals nicht erfasst. Das Schicksal gehört recht eigentlich so ganz zur Totalität unseres Lebens dazu, und nicht das Geringste an Schicksalhaftem lässt sich aus dieser Totalität herausbrechen, ohne das Ganze, die Gestalt unseres Daseins zu zerstören.

Das Schicksal gehört also zu unserem Leben dazu und so auch das Leiden; also hat, wenn das Leben Sinn hat, auch das Leiden Sinn: Auch das Leiden ist sonach, sofern notwendiges Leiden vorliegt, der Möglichkeit nach etwas Sinnvolles. Als solches wird es auch tatsächlich allenthalben anerkannt und gewürdigt. Vor Jahren kam einmal die Nachricht zu uns, dass die englische Pfadfinderorganisation drei Jungen für höchste Leistungen, die sie vollbracht hatten, ausgezeichnet hat; und wer erhielt diese Auszeichnungen? Drei Jungen, die unheilbar krank im Spital lagen und trotzdem ihr schweres Los tapfer und würdig ertrugen. Damit war offenkundig anerkannt worden, dass das rechte Leiden echten Schicksals eine Leistung, und zwar sogar die höchstmögliche Leistung darstellt. Die Alternative aus dem oben zitierten Goethe-Satz stimmt also bei tiefergehender Betrachtung nicht mehr ganz: Nicht Leistung oder Dulden kann letztlich die Frage sein – unter Umständen ist vielmehr Dulden selber die größte Leistung.

Der wesentliche Leistungscharakter wahrhaften Leidens ist meinem Empfinden nach vielleicht am deutlichsten in einem Wort von Rilke getroffen worden, der einmal aufschreit: »Wie viel ist aufzuleiden!« Die deutsche Sprache kennt nurden Ausdruck »aufarbeiten« – Rilke aber erfasste, dass unseresinnvolle Lebensleistung mindestens ebenso im Leiden wiein der Arbeit abgestattet werden kann.

Aus der Tatsache, dass es jeweils nur eine Alternative geben kann, so oder so dem Leben, dem Augenblick Sinn zu verleihen, also jeweils nur eine Entscheidung, wie wir zu antworten haben, dass jedoch jedes Mal eine ganz konkrete Frage vom Leben her an uns gestellt ist, aus all dem folgt: Immer bietet das Leben eine Möglichkeit zur Sinnerfüllung, fakultativ hat es demnach immer einen Sinn; man könnte auch sagen, das menschliche Dasein lässt sich »bis zum letzten Atemzug« sinnvoll gestalten – solange der Mensch atmet, solange er überhaupt noch bei Bewusstsein ist, trägt er Verantwortung für die jeweilige Beantwortung der Lebens-Fragen. Dies braucht uns nicht zu wundern in dem Moment, wo wir uns darauf zurückbesinnen, was wohl die große Grundtatsache des Menschseins ausmacht – Menschsein ist nämlich nichts anderes als: Bewusst-Sein und Verantwortlich-Sein!

Hat aber das Leben der Möglichkeit nach immer einen Sinn, hängt es also jeweils bloß von uns ab, ob es in jedem Augenblick mit diesem möglichen – ständig sich wandelnden – Sinn erfüllt wird, steht es also so ganz in unserer Verantwortung und vor unserer Entscheidung, diesen jeweiligen Sinn zu verwirklichen, dann wissen wir auch eines bestimmt: Sicher sinnlos ist und absolut keinen Sinn hat eines, und dies ist – das Leben wegzuwerfen. Der Selbstmord ist sonach auf keinen Fall Antwort auf irgendeine Frage; der Selbstmord ist nie imstande, ein Problem zu lösen.

Vorhin mussten wir schon einmal das Schachspiel zum Gleichnis nehmen für die Stellung des Menschen im Dasein, für sein jeweils vor eine Frage des Lebens Gestelltsein; wir wollten mit unserem Gleichnis vom »besten Schachzug« zeigen, wie die Frage des Lebens jeweils nur als eine durchaus konkrete gedacht werden kann, als eine auf je eine Person und je eine Situation, auf je einen Menschen und auf je einen Augenblick – auf ein Hier und ein Jetzt sich beziehende Frage. Nun müssen wir abermals das Schachspiel zum Gleichnis nehmen – nun, wo es zu zeigen gilt, wie unbedingt widersinnig der »Lösungs«-Versuch eines Lebensproblems durch den Selbstmord sei.

Stellen wir uns doch bloß einmal vor: Ein Schachspieler ist vor ein Schachproblem gestellt, und er findet nicht die...

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch bietet den Rest des Kapitels und mehr über den Sinn des Lebens.

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