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Leseprobe »Überraschende Mathematische Kurzgeschichten«: Achilles und die Schildkröte

Der tapfere Achilles ist einer der größten Helden der griechischen Mythologie. Er ist ein wichtiger Hauptcharakter in Homers Ilias, die von der Belagerung der Stadt Troja durch die Griechen berichtet. Eine Leseprobe
Riesenschildkröten - Überleben nur auf fernen Inseln

Der Film »Troja« von Roland Emmerich hält sich nur in wenigen Teilen streng an die Vorlage von Homer, aber es gibt eine Szene, die im Film gut dargestellt wird. Achilles spricht in dieser Szene mit seiner Mutter und fragt sie, ob er nach Troja in den Krieg ziehen soll. Die Mutter antwortet ihm, dass, wenn Achilles in Griechenland bleibt, er eine Familie gründen und ein langes Leben führen, Kinder und Enkelkinder haben wird und diese sich seiner erinnern werden, wenn er tot ist. Aber wenn die letzten Enkel gestorben sind, wird niemand mehr seinen Namen kennen. Wenn Achilles nach Troja geht, sagt die Mutter, dann wird er ewigen Ruhm erlangen und noch in Tausenden von Jahren wird man seine Heldentaten besingen, aber er wird vor Troja fallen.

Achilles wird schließlich vom schlauen Odysseus überredet in den Krieg zu ziehen, denn Odysseus weiß, was Achilles Schwäche ist, nämlich sein Stolz. Genau dieser Stolz hatte Achilles einst in eine vertrackte Situation gebracht.

Diese Geschichte wird vom alten griechischen Philosophen Zenon von Elea erzählt: Achilles wurde einmal von einer Schildkröte zum Wettrennen herausgefordert und da Achilles die Herausforderung nicht ausschlagen konnte, aber die Schildkröte nicht ernst nahm, sagte er dem Wettkampf zu und gab der Schildkröte einen gewaltigen Vorsprung.

Nun berichtet Zenon von dem Rennen auf die folgende Art und Weise: Achilles und die Schildkröte laufen los. Achilles ist viel schneller als die Schildkröte und erreicht den Startpunkt der Schildkröte nach einer gewissen Zeit. Die Schildkröte hat aber in dieser Zeit auch eine gewisse Strecke zurückgelegt. Achilles hat die Schildkröte also noch nicht erreicht, deswegen läuft er weiter. Als er die Strecke überwunden hat, die die Schildkröte gerade zurückgelegt hatte, ist diese wieder ein Stück voran gekommen und er hat sie immer noch nicht erreicht.

A1      A2  A3 A4 
 S1S2S3S4

A … Standort des Achilles zu einem gewissen Zeitpunkt
S … Standort der Schildkröte zu einem gewissen Zeitpunkt

So geht das noch eine ganze Weile weiter und Achilles kommt der Schildkröte immer näher, aber erreicht sie nie.

Das ist eine paradoxe Situation: Wir wissen doch, dass Achilles die Schildkröte locker überholen müsste, doch wenn wir die obige Sichtweise verwenden, dürfte Achilles die Schildkröte nie erreichen. Wo ist da der Fehler? Oder gibt es da überhaupt einen Fehler?

Dieses Problem war für die alten Griechen eine knifflige Angelegenheit und deswegen wurde es auch als das Zenon-Paradoxon bezeichnet. Einige Mathematikhistoriker meinen, dass die Mathematik der Griechen an dieser Stelle an ihre Grenzen gestoßen ist. Erst die Mathematiker im 16. und 17. Jahrhundert konnten dieses Problem auflösen.

Allerdings hatte der große Archimedes von Syrakus von einer Summe berichtet, die er ausrechnen konnte. Die Summe, die er meinte, sieht wie folgt aus:

$$1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{4} + \frac{1}{8} + \frac{1}{16} + \frac{1}{32} + \frac{1}{64} + \frac{1}{128} + \ldots$$

Dabei handelt es sich um eine Summe mit unendlich vielen Summanden, deren Ergebnis Archimedes trotzdem ermitteln konnte. Wie hat er das gemacht?

Er führt folgende Begründung an. Mehr als 2 kann die Summe nicht sein, denn wenn ich endlich viele Teile dieser Summe addiere, ist die Summe immer kleiner als 2. Auch wenn ich alle unendlich vielen Summanden aufaddiere, ist diese Summe nicht größer als 2, denn der nachfolgende Summand eines beliebigen Summanden ist immer nur halb so groß wie sein Vorgänger. Aber weniger als 2 kann diese Summe S auch nicht sein. Für jede natürliche Zahl n gilt nämlich

$$2 – S < 2 – \left( {1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{4} + \ldots + \frac{1}{{2^{n} }}} \right) = \frac{1}{{2^{{n^{\prime}}} }}$$

also \(2 – S < \frac{1}{{2^{n} }}\) bzw. \(S > 2 – \frac{1}{{2^{n} }}\).

Damit kann die Summe nicht mehr und nicht weniger als 2 sein. Das bedeutet:

$$1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{4} + \frac{1}{8} + \frac{1}{16} + \frac{1}{32} + \frac{1}{64} + \frac{1}{128} + \ldots = 2$$

Siehst du die Verbindung zwischen dem Wettrennen des Achilles und der Summe des Archimedes? Überholt Achilles die Schildkröte und wenn ja, an welchem Punkt wird das sein?

Ob das die Grenze der griechischen Mathematik darstellt, bleibt offen. Allerdings haben die Griechen sich mit dieser Art von Problemen schwer getan, was daran liegen kann, dass sie stetig bemüht waren, den Begriff der Unendlichkeit in mathematischer Sicht zu vermeiden.

Auch die oben schon erwähnten Mathematiker des 16./17. Jahrhunderts haben sich mit dieser Summe beschäftigt. Dabei hat der deutsche Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz den folgenden Beweis vorgelegt:

$$S = 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{4} + \frac{1}{8} + \frac{1}{16} + \frac{1}{32} + \frac{1}{64} + \frac{1}{128} + \ldots$$ $$2S = 2 + 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{4} + \frac{1}{8} + \frac{1}{16} + \frac{1}{32} + \frac{1}{64} + \ldots$$ $$S = 2S – S = 2 + 1 – 1 + \frac{1}{2} – \frac{1}{2} + \frac{1}{4} – \frac{1}{4} + \frac{1}{8} – \frac{1}{8} + \frac{1}{16} – \frac{1}{16} + \ldots = 2$$

Das scheint ein eleganter Beweis dafür zu sein, dass diese Summe gleich 2 ist. Doch Leibniz ist einfach von einer bestimmten Voraussetzung ausgegangen. Findest du die Schwäche in der Argumentation von Leibniz?

Du kannst diesen Beweis ja einmal für die Summe der Potenzen der Zahl 2 (das sind die Reziproken der Summanden der oberen Summe) ausprobieren, dann bekommst du vielleicht eine Idee, wo das Problem liegen könnte.

Für diese eben angestellten Überlegungen und Probleme wie das Zenon-Paradoxon muss man sich genauer mit dem Begriff der Unendlichkeit im mathematischen Sinne auseinandersetzen. Wer davon mehr erfahren will, kann in dem Buch »Das Unendliche – Mathematiker ringen um einen Begriff« [1] weiterlesen.

Knobelei

Stelle dir vor, du bist Portier in einem Hotel mit unendlich vielen Zimmern. Leider ist das Hotel total ausgebucht und dennoch kommt ein weiterer Tourist zu dir und bittet um ein Zimmer. Da das Wetter schrecklich und das nächste Hotel weit weg ist, willst du ihn nicht wegschicken.
Wie kannst du ihm ein Zimmer anbieten, ohne einen anderen Gast zu entlassen?

Literatur

  1. Taschner, R. (2005). Das Unendliche – Mathematiker ringen um einen Begriff. Berlin: Springer.

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