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Leseprobe »Unsicherheiten, aber sicher!«: Aller Anfang ist unsicher

Das Sachbuch gibt eine allgemeinverständliche Einführung in den Umgang mit Unsicherheiten von Daten und sensibilisiert dafür, Daten nicht unreflektiert als richtig hinzunehmen. Es macht die Leser darauf aufmerksam, wie Unsicherheiten in Daten in vielen Alltagssituationen auftreten und höchst relevant sein können, z.B. um persönliche Entscheidungen zu treffen, an politischen Wahlen teilzunehmen und wissenschaftliche Studien einzuschätzen. Eine Leseprobe
Datenvisualisierung

Autofahren in Berlin macht mir nicht sonderlich viel Spaß, weshalb ich in der Regel mit dem Fahrrad unterwegs bin. Das macht das Leben nicht wirklich sicherer, hält aber fit und dauert meistens auch nicht länger als die Fahrt mit Bus, Bahn oder Auto. Doch ab und zu muss ich meinen Diesel-Bulli bewegen, und mit diesem wäre ich im Frühjahr 2020 beinahe versehentlich und wider die Straßenverkehrsordnung durch die Leipziger Straße in Berlin gefahren. Dort gilt nämlich seither ein Dieselfahrverbot für Kfz bis Euro-Norm 5/V, die mein Auto bedauerlicherweise nicht erfüllt. Also das Auto wenden, das Navi eine neue Route berechnen lassen und einen Umweg durch die Innenstadt fahren. Währenddessen denke ich darüber nach, ob dieses Verbot tatsächlich zielführend ist. Wenn jetzt alle Dieselfahrer mit ihren Kleiner-Gleich-Euro-Norm-5-Fahrzeugen Umwege durch die Stadt fahren, um gesperrte Straßen zu meiden – erzeugt das nicht im Prinzip nur noch mehr Abgase und macht das damit die Luft in der Innenstadt nicht noch schlechter? Andererseits – so kommt mir in den Sinn – könnte es durchaus sein, dass die Luft- und Lebensqualität in den „verbotenen“ Straßen nun steigt und manch einer – wie ich – es sich jetzt noch gründlicher überlegt, ob auf das Auto nicht doch noch öfter verzichtet werden könnte. Dann würden vielleicht die Emissionswerte nicht nur in den betroffenen Straßen, sondern in der gesamten Innenstadt sinken.

Fragen an die Wissenschaft

Wie lässt sich die Frage beantworten, ob Fahrverbote für die Reinhaltung der Luft einer Großstadt wirksam sind und zur Verringerung des Anteils von Stickstoffoxiden beitragen? Die Antwort ist für uns alle relevant, denn zum einen wird durch Fahrverbote unsere Mobilität eingeschränkt, zum anderen soll unsere Gesundheit bzw. unsere Umwelt nicht gefährdet werden. Nicht selten sollen in solchen Interessenkonflikten wissenschaftliche Untersuchungen Klarheit schaffen und Messungen den Erfolg oder Misserfolg der Maßnahmen belegen. Um hier sicherer zu sein, ist es also wichtig, Messinstrumente mit hoher Qualität zu nutzen. Die Qualität zeigt sich bei Messungen, indem neben den vom Messgerät abgelesenen Zahlenwerten zusätzlich angeben wird, wie sehr diesen vertraut werden kann, also wie hoch die Sicherheit bzw. Unsicherheit ist, dass man mit diesen Werten auch richtig liegt.

Genaue Messungen mit einer bekannten Unsicherheit sind manchmal notwendig, damit Entscheidungen wie Fahrverbote begründetet getroffen werden können. Diese berühren nicht selten unser Leben direkt. So ist es z. B. wichtig zu wissen, wie hoch der Grenzwert für die Luftbelastung ist, die uns noch zugemutet werden kann: Wie viel Stickstoffoxid darf man »problemlos« einatmen? Oder ist in der gesperrten Straße in meiner Nachbarschaft die Luftverschmutzung tatsächlich so gesundheitsgefährdend hoch, dass ich diese lieber meiden sollte? Kann das Fahrverbot tatsächlich meine Lebensumwelt so verbessern, sodass ich es akzeptieren oder sogar unterstützen kann? Oder führen Fahrverbote insgesamt gar nicht zur Verbesserung der Luft in einer Straße, sondern erzeugen noch zusätzliche Schadstoffemissionen an anderen Orten?

Wissenschaft spielt zur Beantwortung dieser Fragen eine bedeutsame Rolle in unserem Alltag, und da Messungen Basis vieler wissenschaftlicher Arbeiten sind, beeinflussen deren Unsicherheit die Qualität der gesammelten Daten. Messungen ergeben nämlich nicht – wie vielleicht vermutet – exakte Ergebniswerte, sondern können in einem gewissen Rahmen schwanken: Sie haben Unsicherheiten. Messende Wissenschaften tun also etwas, das dem Wunsch vieler Menschen und ihren Vorstellungen von »exakten Wissenschaften« zu widersprechen scheint: Sie verzichten auf ein exaktes Ergebnis – ein Ergebnis, das nur noch aus einer Zahl und einer Einheit besteht. Stattdessen akzeptieren sie Schwankungen. Mal sind diese sehr klein: Wir können z. B. Bruchteile von Billiardstel-Sekunden messen, Hochgeschwindigkeitszüge fast auf die Sekunde genau ankommen lassen (der Shinkansen in Japan hat eine durchschnittliche jährliche Verspätung von unter einer Minute) und Ortsbestimmungen durch Satelliten im Millimeterbereich vornehmen (mit dem Differential Global Positioning System). Mal sind die Unsicherheiten größer, wie z. B. bei der Prognose von Temperatur und Windgeschwindigkeit eine Woche im Voraus, der Bestimmung der Artenzahl aller Tiere auf der Erde oder der Größe des Durchmessers des Zwergplaneten Sedna.

In diesem Sinn ist in diesem Buch von Unsicherheit in Daten die Rede. Datensicherheit oder Datenunsicherheit im Sinne der Frage, wie gut unsere Daten in der digitalen Welt geschützt sind, ist ein anderes wichtiges Thema, um das es hier aber nicht geht.

Wann Unsicherheiten in Daten wichtig sind

Es gibt viele weitere Situationen, in denen es wichtig ist, Unsicherheiten in Daten bzw. Unsicherheiten, die aus Daten entstehen, genau zu kennen. Bei der Rechtsprechung ist die Unsicherheit von Gen-Tests bei der Überführung eines Täters oder einer Täterin äußerst wichtig. Schließlich soll niemand unschuldig ins Gefängnis kommen. Bei medizinischen Tests ist es ebenfalls bedeutsam zu wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein positives Ergebnis tatsächlich richtig ist, z. B. beim Corona-Test oder Brustkrebs-Screening bzw. beim Schwangerschaftstest.1 Denn ein positives Testergebnis kann zu Sorgen und Ängsten bzw. auch zu großen Hoffnungen führen, die das Leben stark verändern können. Bei Schwangerschaften ist es weiterhin wichtig zu wissen, wie sicher der errechnete Geburtstermin ist. Schließlich kann es bei Früh- oder Spätgeburten zu Komplikationen kommen. Bei der Doping-Kontrolle beim Sport ist es relevant, ob tatsächlich ein Regelverstoß vorliegt und die Leistung ggf. aberkannt wird. Weiterhin ist es wichtig zu wissen, wer von zwei Läufern oder Läuferinnen tatsächlich zuerst ins Ziel gekommen ist und die Goldmedaille erhält. Bei der Verkehrsüberwachung durch »Blitzer« spielt es eine Rolle, wie genau die Messung war, da sich die Strafe nach der Höhe der Überschreitung der maximal zulässigen Höchstgeschwindigkeit richtet. In der Politik möchte man abschätzen können, mit welcher Sicherheit prognostizierte Wahlergebnisse hochgerechnet werden. In der Vergangenheit gab es überraschende Wahlausgänge, die vielleicht weniger überraschend gewesen wären, wenn die Unsicherheiten in der Prognose angegeben worden wären.

In der Wissenschaft ist es schließlich ausschlaggebend zu wissen, wie gut Prognosen zutreffen, z. B. hinsichtlich der Entwicklung der Temperatur auf der Erde. Für uns in Deutschland klingt ein prognostizierter stetiger Temperaturanstieg zunächst unproblematisch. Doch schon jetzt laufen junge Menschen mit »provokanten« Schildern wie »Opa, was ist ein Schneemann?« durch die Städte. Wenn es wärmer wird, dann »fehlt« nicht nur der Schnee, es steigt auch bei uns die Wahrscheinlichkeit von Unwettern. Anderswo haben Menschen schon jetzt viel stärker mit den drastischen Folgen klimatischer Veränderungen zu leben, und ein Anstieg des Meeresspiegels wird voraussichtlich zu weiteren massiven Migrationsbewegungen auf der Erde führen.

Worum geht es also?

In vielen Lebensbereichen müssen wir uns auf Tests, Messungen und Prognosen verlassen, die unser Leben direkt oder indirekt betreffen und die relevante Unsicherheiten haben können. Mit Kenntnis dieser Unsicherheiten kann die Qualität der Daten überhaupt erst abgeschätzt werden, und die Qualität der Daten beeinflusst wiederum die daraus gefolgerten Aussagen und unsere Zustimmung oder Ablehnung von Maßnahmen wie etwa die oben geschilderten Fahrverbote.

Viele Entscheidungen in Politik und Gesellschaft werden heutzutage mit wissenschaftlichen Aussagen und z. T. auch mit Daten begründet. Damit wir diese Begründungen und Aussagen besser nachvollziehen können, ist es notwendig, selbst kompetenter und kritischer im Umgang mit Daten und deren Unsicherheiten zu werden. Das betrifft etwa das Verstehen von Schwankungen in Daten, die Einschätzung der Güte von Messungen, das Vergleichen von Messwerten und das Schlussfolgern aus und das Bewerten von Ergebnissen. Da nicht selten bei kontroversen Diskussionen hinter jeder Meinung mehrere Experten oder Expertinnen stehen, bleibt uns mitunter schlicht nichts anderes übrig, als uns selbst eine Meinung zu bilden und die Situation für uns zu beurteilen. Das ist zur Teilnahme an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen und Entwicklungen zunehmend notwendig. Ein informierter Umgang mit Daten ist deshalb wichtig für alle, also nicht nur für Entscheidungsträger in Politik und Wissenschaft, sondern auch für jeden von uns.

Unsicherheiten in Daten spielen nicht nur bei komplexen gesellschaftlichen Themen wie Mobilität, Gesundheitsschutz, Umweltschutz oder Energieversorgung eine Rolle, sondern auch im täglichen Leben. Mit Unsicherheiten umgehen zu können kann vor unangenehmen Überraschungen schützen: Ich interpretiere medizinische Testergebnisse nicht falsch, ich bleibe nicht mit leerem Tank liegen, ich überwürze meine Gerichte nicht, ich trage keine für das Wetter unangemessene Kleidung, ich komme nicht zu spät, und ich schließe nicht leichtfertig Verträge über Versicherungen oder Wertanlagen ab.

Mit diesem Buch möchte ich grundlegende Hinweise geben, wie Sie mit Unsicherheiten in Daten umgehen können. »Umgehen« umfasst hier erkennen, abschätzen, vergleichen und bewerten. Dazu werden Konzepte aus der Wissenschaft – dem Messwesen, der Psychologie und der Didaktik – herangezogen und verständlich dargestellt. Zahlreiche illustrierende Beispiele stammen aus den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, und richten den Blick auf Unsicherheiten vorrangig bei Messungen und in manchen Fällen bei Prognosen. Darüber hinaus werden aber auch Beispiele aus Gesellschaft und Alltag beschrieben. In diesen Fällen wird dann in der Regel ein umfassenderer Begriff von Daten verwendet, der über Messungen hinausgeht.

Es werden keine besonderen mathematischen oder naturwissenschaftlichen Kenntnisse vorausgesetzt, vertiefende und ergänzende Informationen werden in zusätzlichen Textkästen erläutert.

Fußnote

  • 1. Das Beispiel zum Brustkrebs-Screening wird in folgendem Buch genauer ausgeführt: Gigerenzer, G. (2013). Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München: Bertelsmann.

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