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Leseprobe »Unsicherheiten, aber sicher!«: Cum grano salis

Das Sachbuch gibt eine allgemeinverständliche Einführung in den Umgang mit Unsicherheiten von Daten und sensibilisiert dafür, Daten nicht unreflektiert als richtig hinzunehmen. Es macht die Leser darauf aufmerksam, wie Unsicherheiten in Daten in vielen Alltagssituationen auftreten und höchst relevant sein können, z.B. um persönliche Entscheidungen zu treffen, an politischen Wahlen teilzunehmen und wissenschaftliche Studien einzuschätzen. Eine Leseprobe
Das Matterhorn von der Schweiz aus gesehen. Direkt östlich des Berges lief eine wichtige Verbindungsroute über den Bergkamm.

Am 04.08.1987 ging für mich gegen 13:00 Uhr ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Ich stand auf dem Gipfel des 4478 m hohen Matterhorns dem schönsten Berg der Welt. Hinter und unter mir lag der berühmte Hörnligrad, über den 1865 die ersten Menschen den Gipfel erreichten. Jene Erstbegehung endete damals tragisch mit dem Tod von vier Bergsteigern, die beim Abstieg über die Nordwand in den Abgrund stürzten. Tatsächlich zeigt das Matterhorn seine Schönheit nur von Weitem, denn in den Wänden liegt jede Menge loses Gestein, auf dem man schnell das Gleichgewicht verlieren kann. Ich hatte die inzwischen mit fest verankerten Seilen etwas „entschärfte“ Kletterei beim Aufstieg fast für mich allein – eine Seltenheit an diesem Berg. Das war aber auch schon alles an guten Bedingungen, denn es lag  dichter Nebel über dem Berg. Die  Sicht betrug kaum 10 m und ein steifer Wind blies. Mir war kalt. Dabei hatte der Bergwetterbericht eine Temperatur von immerhin 3 °C für die 4000-m-Grenze vorhergesagt. Klar, oben auf Bergen ist es immer etwas kälter, erst recht, wenn noch Wind dazukommt. Deshalb gehört gute Ausrüstung, wie warme Kleidung, auf jedenFall in den Rucksack. Mit so einer argen Kälte hatte ich aber nicht gerechnet.

Bei späterer Betrachtung ließ sich die Saukälte gut erklären. Ohne zu rechnen ist völlig klar, dass die Temperatur mit den hinaufgestiegenen Höhenmetern abnimmt und dass Wind uns auskühlen kann. Aber wie groß ist dieser Effekt? 1 °C, 5 °C oder 10 °C? Das lässt sich ganz gut abschätzen. Zunächst gab es zwei verschiedene Abweichungen. Zum einen hatte der Wetterbericht die Temperatur für 4000 m angegeben. Der Gipfel des Matterhorns liegt aber fast 500 m höher. Pro 100 Höhenmeter kann mit rund 0,65 °C Abnahme der Temperatur gerechnet werden. Deshalb kann die Temperatur am Gipfel um die 3 °C geringer sein als auf 4000 m, damals also z. B. um die 0 °C gelegen haben. Zum anderen fühlt sich eine Temperatur anders an, wenn Wind weht. Diese gefühlte Wind-Chill-Temperatur ist immer geringer als die gemessene Temperatur. Bei 0 °C und einem Wind von 50 km/h (ein steifer Wind) fühlt es sich wie -8 °C an.>1

Die gefühlte Temperatur von -8 °C zeigt schon sehr deutlich, dass es auf dem Gipfel an diesem Tag«frisch" sein muss. Aber wie sicher ist dieser Wert von -8 °C? Neben diesen beiden systematischen Abweichungen hin zu geringeren Temperaturen gibt es Unsicherheiten. Erstens: Die Temperaturangabe des Wetterberichts ist unsicher, schätzen wir diese auf 1 °C. Zweitens: Die Faustformel für das Abschätzen der Temperaturabnahme pro 100 Höhenmeter ist unsicher. Im Mittel beträgt die Temperaturabnahme 0,65 °C pro 100 m in diesen Höhenbereichen.>2Im Mittel bedeutet, dass der Wert 0,65 °C ein Mittelwert ist, der ebenfalls eine Unsicherheit hat. Gehen wir bei dieser Unsicherheit mal von 0,05 °C aus. Auf 500 m hochgerechnet ergibt das eine Unsicherheit von 0,3 °C. Drittens: Die Wind-Chill-Temperatur, die einer gemessenen Temperatur bei einer bestimmten Windgeschwindigkeit eine gefühlte Temperatur zuordnet, ist unsicher. Denn das Kälteempfinden ist natürlich bei jedem anders. Schätzen wir diese Unsicherheit gutmütig auf nur 1 °C. Dann haben wir insgesamt eine Abweichung vom 3 °C.-Wert des Wetterberichts (für 4000 m) von 3 °C (100-m-Regel) plus 8 °C (Wind-Chill) , also ergibt sich -8 °C. Dieser Wert wiederum hat eine Unsicherheit von 1 °C (Wetterbericht) plus 0,3 °C (100-m-Regel) plus 1 °C (Wind-Chill), sodass sich aufgerundet ergibt: Die gefühlte Temperatur liegt bei -8 °C ± 3 °C, also zwischen -5 °C und -11 °C. Und das ist saukalt – deutlich kälter als 3 °C.

Damit Sie kein falsches Bild bekommen: Nein, ich rechne sowas natürlich auch nicht immer durch. Das wäre zu mühsam und meist auch unnötig. In der Regel reicht es zu wissen, dass es Abweichungen und Unsicherheiten gibt, und manchmal ist es ausreichend, diese grob abzuschätzen.

Mit einem Korn Salz

Cum grano salis (Latein für mit einem Korn Salz) steht sprichwörtlich für die Einschränkung der Genauigkeit einer Aussage. Dieses Werk hat Sie in diesem Sinne hoffentlich angeregt, über Unsicherheiten nachzudenken. Mit dem Wissen, dass jede Messung und jede Prognose Unsicherheiten hat und dass es zusätzlich vielleicht noch systematische Abweichungen gibt, können Sie zukünftig einen kritischen Blick auf Daten und Messergebnisse werfen. Auch lassen sich Vorhersagen mit derartigen Unsicherheitsabschätzungen machen: Im erwähnten Werk von Jules Verne wird von der Erdoberfläche aus eine riesige Kanone direkt in Richtung des Mittelpunkts des Mondes gerichtet. Welchen Einfluss hat es in diesem Fall, wenn die Ausrichtung der Kanone nur um 1°, also den 90. Teil eines rechten Winkels, abweicht? Die Kanone würde, statt auf den Mittelpunkt des Mondes zuzufliegen, knapp 3 Mondradien (insgesamt rund 4900 km) von der Mondoberfläche entfernt am Mond vorbeifliegen.>3 In diesem Fall ist der Einfluss der vergleichsweise klein erscheinenden Unsicherheit von 1° im Winkel auf das Ergebnis – den Mond zu erreichen – anhand vorhandener Daten gut bestimmbar.

Schlusslicht

Nun schießen wir nicht jeden Tag eine Kanone oder Rakete zum Mond, daher soll ein alltagsnäheres Beispiel am Ende dieses Buches stehen.

Kennen Sie den dunkelsten Ort in Deutschland? Einer der Orte, der durch seine nächtliche Dunkelheit den »besten“ Sternenhimmel in Deutschland bietet, ist der Sternenpark Westhavelland>4 bei Gülpe in Brandenburg, rund 70 km von Berlin entfernt. Hier finden Hobbyastronomen und -astronominnen beste Bedingungen für die Erkundung des Weltraums. Ein wirklich dunkler Nachthimmel bietet aber nicht nur gute Bedingungen für Sternbeboachtende, sondern auch eine gesunde Natur und Umwelt für alle. Das schließt Menschen ein, denn es gibt Studien, die die Helligkeit des Nachthimmels in direkte Verbindung bringen mit Auswirkungen auf den menschlichen Körper wie z. B. Schlafentzug.>5 Dem liegt die Frage zugrunde: Gibt es einen Einfluss der Helligkeit des nächtlichen Himmels auf unsere Gesundheit? Wollte man diese recht umfangreiche Frage zur Lichtverschmutzung beantworten, wäre eine ganze Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen notwendig. Wie gut und überzeugend dabei die Antworten ausfallen, hängt von vielen verschiedenen Dingen ab. Ein wichtiger Faktor ist die Qualität der Daten bzw. hier die der Messungen, die dazu notwendig sind, mit deren Unsicherheiten. Um diese Qualität zu erkennen und zu beurteilen, wurden in diesem Buch wichtige Konzepte vorgestellt und erläutert. Im Folgenden möchte ich diese schlaglichtartig rekapitulieren, um aufzuzeigen, wie Sie anhand der Themen dieses Buches informiert und ggf. auch kritisch mit Aussagen oder Veröffentlichungen – z. B. zu der Frage des Einflusses von Lichtverschmutzung auf die Gesundheit – umgehen können.

  • Zunächst ist es natürlich wichtig festzustellen, ob eine klare Festlegung und Benennung des Ziels einer Messung erfolgt ist. Dies hat weitreichende Konsequenzen auf die Wahl der Messmethode und der Messinstrumente, die Anzahl an Messungen und die Folgerungen, die aus dem Ergebnis gezogen werden können. Es macht z. B. einen Unterschied, ob für einen Ort herausgefunden werden soll, wie gut in den Sommermonaten die Bedingungen für Beobachtungen des Nachthimmels sind und welchen Einfluss das auf die Zufriedenheit von Hobbyastronomen und -astronominnen hat. Oder aber, ob der Zusammenhang zwischen Helligkeit von außerhalb des Wohnraums erzeugtem künstlichen Licht zur Nachtzeit in einem Schlafraum und der Schlafdauer von Personen im Alter von 30 bis 50 Jahren untersucht werden soll. Beides hat im weitesten Sinne mit dem Einfluss von Lichtverschmutzung auf die Gesundheit von Menschen zu tun, zöge aber ein sehr unterschiedliches Vorgehen bei einer Untersuchung nach sich.
  • Die genutzten Verfahren zur Messung der Helligkeit des Nachthimmels und deren Unsicherheiten bestimmen die Qualität der Daten. Eine Möglichkeit ist z. B. die Betrachtung des Nachthimmels mit dem menschlichen Auge und mittels der Einschätzung der Lichtverschmutzung mit der neunstufigen Bortle-Skala: Sie reicht von extrem dunkel (wie es in Wüstenregionen vielfach der Fall ist) bis zu sehr hell (wie in vielen Innenstädten) und richtet sich danach, welche und wie viele astronomische Objekte (wie z. B. Sterne) mit dem bloßen Auge zu erkennen sind. Ein anderes Verfahren nutzt Messgeräte wie Sky Quality Meter mit lichtempfindlichen Sensoren, die die Flächenhelligkeit (Lichtstärke pro Fläche) erfassen. Beide Verfahren werden in der Praxis genutzt, haben aber deutlich unterschiedliche Unsicherheiten und erzeugen damit auch unterschiedliche Unsicherheitsbereiche bei Messungen.
  • Die Anzahl der Messungen, die durchgeführt werden, spielt eine Rolle für die Aussagekraft der Daten. Messungen zur Lichtverschmutzung lassen sich durch eine einmalige Beobachtung an einem Ort durch Blick in den Himmel durchführen. Das ermöglicht allerdings nur eine sehr eingeschränkte Aussage über die Lichtverschmutzung, hilft aber vielleicht bei der Planung von Sternbeobachtungen in der Freizeit. Wiederholte Messungen an verschiedenen Standorten berücksichtigen natürliche und anthropogene Einflüsse (wie Wetter bzw. Nähe zu zivilisatorischer Infrastruktur) und führen zu einer breiteren Datenbasis. Es können so etwa Lichtverschmutzungskarten erstellt und Schwankungen der Lichtverhältnisse im Jahr beschrieben werden. Die Verteilung und die Streuung der erhaltenen Messwerte bei wiederholten Messungen unter gleichen Bedingungen sind Indikatoren dafür, wie stark die Werte schwanken, was wiederum einen Einfluss auf die Unsicherheit der Messungen hat.
  • Grenzwerte für Lichtbelastungen können helfen, Mensch und Umwelt zu schützen. Allerdings bedürfen Grenzwerte zum einen einer sinnvollen Festlegung, was wissenschaftliche Erkenntnisse zur Einschätzung der Risiken von Lichtemissionen voraussetzt. In Deutschland gibt es bislang kein Bundesgesetz zur Bekämpfung und Beschränkung von Lichtverschmutzung.>6 Zu berücksichtigende Grenzwerte werden aber bezüglich der Aufhellung von Räumen durch äußere Lichtquellen z. B. in Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen genannt.>7 Zum anderen ist anzugeben, wie und unter welchen Bedingungen gemessen werden muss: Messverfahren und Messgeräte müssen eine bestimmte Genauigkeit (Präzision und Richtigkeit) besitzen und vorgegebenen Kriterien genügen. Denn nur so kann geprüft werden, ob ein Grenzwert überschritten wurde oder ob zwei Messungen – z. B. die Lichtbelastung an zwei verschiedenen Orten – miteinander verträglich sind.
  • Unsicherheiten in der Messung der Helligkeit des Nachthimmels können sich fortpflanzen und sich auf andere damit berechnete Größen übertragen. So können sich bei einer auf Messungen beruhenden Prognose des Einflusses von nächtlichem Kunstlicht auf Schlafstörungen beim Menschen die Unsicherheiten der Helligkeit auf das Ausmaß der angenommenen Schlafstörungen auswirken.
  • Die Forschung bezüglich der Auswirkungen der Lichtverschmutzung auf Natur und Umwelt steht erst am Anfang. Vieles liegt noch im Dunkeln und kann deshalb nur vermutet oder grob abgeschätzt werden. So ist zzt. noch unklar, welche genauen Auswirkungen das nächtliche Kunstlicht auf das Zugverhalten von Vögeln hat. Des Weiteren bestehen auch bei diesem Thema unterschiedliche Interessen. Umweltschutz spricht eher für verstärkte Dunkelheit, während in Siedlungsgebieten Licht in der Nacht Sicherheit bringt. Daher kann auch hier bei Studien ein Bestätigungsfehler auftreten, wenn diese im Auftrag eines bestimmten Interessensvertreters die »gewünschten“ Ergebnisse erzielen sollen.

Hintergrundwissen über Unsicherheiten kann dabei helfen, Pressemitteilungen, wissenschaftliche Studien, Aussagen von Politikerinnen und Politikern, Forderungen von Umweltorganisationen oder wirtschaftlichen Interessensverbänden zu analysieren, zu verstehen, zu hinterfragen und zu bewerten. Das gelingt dann am besten, wenn Unsicherheiten offensichtlich, verständlich und explizit angegeben sind. Oft jedoch sind sie versteckt, verschwiegen oder unverständlich und lassen sich deshalb nur mit Mühe oder auch gar nicht aufdecken. Hinzu kommt, dass Beurteilungen von Unsicherheiten, die in der Rechtsprechung, im Alltag oder in der Politik herangezogen werden, sich oft auf mehr als nur die vorliegenden Daten stützen. Entscheidungen werden mit Blick auf Moral, Person oder besondere Umstände getroffen.

Dieses Buch kann hier helfen, Aufmerksamkeit für das Auftreten oder Fehlen von Unsicherheiten zu wecken, Lücken bei der Angabe von Unsicherheiten aufzudecken und so einen kritischen Blick auf die Daten selbst und die daraus gezogenen Schlüsse zu fördern. Schließlich können wir mit Grundkenntnissen über Unsicherheiten in Daten auch abschätzen, was wir zur Beurteilung von deren Qualität benötigen.

In diesem Sinn hat das Buch Sie hoffentlich sicherer im Unsicheren gemacht.

Fußnoten

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