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Leseprobe »Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands«: Das vierte Gebot: Fragen Sie nach der Beweislast

In diesem Kapitel sprechen wir über die Frage, auf welcher argumentativen Position die Beweislast liegt. Diese Frage ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens sollten Sie keinen Standpunkt glauben, auf dem eine Beweislast liegt, die nicht eingelöst wurde. Zweitens sollten Sie sich in einer argumentativen Auseinandersetzung keine Beweislast aufbürden (lassen), die Sie nicht tragen müssen. Deswegen erfordert das vierte Gebot des gesunden Menschenverstands, dass Sie feststellen, wer eigentlich wofür die Beweislast trägt. Sie können dies tun, indem Sie fragen, wer etwas behauptet. Wer nichts behauptet, sondern nur kritische Fragen stellt, trägt keine Beweislast. Wer dagegen selbst einen Standpunkt aufstellt, muss diesen üblicherweise begründen. Eine Leseprobe
Kopf eines Mannes als Silhouette, der sich einen Stift an den Mund hält, vor einem Zahlen-Hintergrund

In der Nacht des 20. März 2003 begann der zweite Irakkrieg. Streitkräfte der »Koalition der Willigen«, angeführt von den USA und Großbritannien, bombardierten militärische Ziele in Bagdad. Kurz darauf folgte eine kurze, heftige Bodenoffensive, bis der damalige amerikanische Präsident George W. Bush schließlich am 1. Mai 2003 den Krieg für beendet erklärte – viel zu früh, wie sich bald herausstellen sollte.

Im Vorfeld des Krieges hatten die USA die Weltgemeinschaft vor den militärischen Plänen des Irak gewarnt. Man argumentierte, der Irak besäße Massenvernichtungswaffen. Diese stellten eine Gefahr für uns alle dar und rechtfertigten den geplanten Präventivschlag. Deutschland, das sich militärisch, wirtschaftlich und politisch als enger Partner der USA und Großbritanniens verstand, wollte sich jedoch nicht daran beteiligen. Wie die meisten anderen Länder verweigerte sich Deutschland dem militärischen Einsatz.

Der damalige deutsche Außenminister, Joschka Fischer, brachte die deutsche Position mit nur sechs Worten auf den Punkt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz verwarf er sein vorbereitetes Redemanuskript und sprach frei. Dabei wechselte er immer wieder vom Deutschen ins Englische und sah direkt zum amerikanischen Verteidigungsminister, Donald Rumsfeld, hinüber: »Excuse me,« sagte Fischer, »but I’m not convinced!«

Der deutsche Außenminister sprach aus, was viele Menschen dachten. Wenn man für einen militärischen Erstschlag gegen ein anderes Land argumentiert, wenn man für Unterstützung bei einem so drastischen und weitreichenden Unterfangen wirbt, dann muss man diese Maßnahme über vernünftige Zweifel erhaben rechtfertigen. Man trägt die Beweislast.

In diesem Kapitel möchte ich mit Ihnen das wichtige vierte Gebot des gesunden Menschenverstands diskutieren: das Gebot, die Frage nach der Beweislast zu stellen. Und ich will Ihnen dazu wieder praktische Tipps und Hinweise geben.

Beweislast als argumentative Verantwortung

Wenn eine Person für einen Standpunkt die Beweislast trägt, dann bedeutet dies, dass sie die Verantwortung hat, ihren Standpunkt zu rechtfertigen. Sie muss gute Gründe angeben, die glaubhaft machen, dass man diesen Standpunkt übernehmen sollte.

Oft wird angenommen, dass die Beweislast in jeder Diskussion gleich verteilt ist. Die eine Seite behauptet das eine. Die andere Seite behauptet etwas anderes. Und jede von ihnen muss doch beweisen oder zumindest plausibel machen, was sie behauptet. Aber dieses Bild ist falsch, wie das Beispiel von Joschka Fischer zeigt. Fischer kritisierte den Gedankengang der Amerikaner, mit dem diese den Irakkrieg rechtfertigten. Er verwies darauf, dass ihre Argumentation nicht überzeugend war und gewann damit – zumindest in den Augen der Öffentlichkeit – die Debatte. Dabei hatte er selbst gar keine Beweislast übernommen.

In der Tat ist die Beweislast in vielen argumentativen Auseinandersetzungen ungleich verteilt. Sie liegt oft nur auf einer Seite. Deswegen sollte man sich immer ein Bild davon machen, wer eigentlich die argumentative Verantwortung trägt und was begründet werden muss. Das ist aus zwei Gründen wichtig, an die sich meine ersten beiden Tipps in diesem Kapitel anschließen.

Tipp 10: Übernehmen Sie keinen Standpunkt, wenn die Beweislast, die auf ihm liegt, nicht erfüllt wurde.

Wenn Sie festgestellt haben, dass mit einem bestimmten Standpunkt S eine Beweislast verbunden ist, dann wäre es unvernünftig, diesen Standpunkt zu übernehmen. Der gesunde Menschenverstand erfordert, dass Sie eines von zwei Dingen tun:

  • Wenn Ihnen gute Gründe bekannt sind, die dafür sprechen, dass S falsch ist, dann sollten Sie genau das glauben. Sie sollten S für falsch halten.
  • Wenn Sie für diese Vermutung keine guten Gründe haben, dann sollten Sie sich agnostisch verhalten. Das heißt, Sie sollten den Standpunkt weder übernehmen noch ablehnen.

Tipp 11 ist für Situationen bestimmt, in denen Sie mit einer anderen Person diskutieren und Sie diese Person (bzw. mögliche Zuhörer) rational von Ihrer Sichtweise überzeugen wollen. Hier sollten Sie sich nur auf Standpunkte festlegen, die Sie wirklich vertreten müssen.

Tipp 11: Wenn Sie die Beweislast für einen Standpunkt nicht tragen, dann sollten Sie vermeiden, sich festzulegen.

Immer wenn die Beweislast für einen Standpunkt nicht bei Ihnen liegt, sondern bei Ihrem Gesprächspartner, sollten Sie erklären, warum das so ist. Dann sollten Sie darum bitten, dass Ihr Gesprächspartner seiner Beweislast nachkommt. Auf diese Weise verhindern Sie, dass Sie eine argumentative Verantwortung übernehmen, die Sie vernünftigerweise gar nicht tragen sollten.

Wo liegt die Beweislast?

Um Tipp 10 und 11 anzuwenden, müssen Sie allerdings bereits wissen, wo die Beweislast liegt. Sie müssen wissen, wer etwas begründen muss und was. Hierfür gibt es zwei Regeln, die ich Ihnen empfehlen möchte.

Regel 1 : Wer nichts behauptet, muss auch nichts beweisen.
Regel 2 : Wer einen Standpunkt behauptet, der trägt üblicherweise dafür die Beweislast.

Das eingangs erwähnte Beispiel von Joschka Fischer verdeutlicht die Anwendung der Regeln 1 und 2. Die Amerikaner behaupteten, der Irak besäße Massenvernichtungswaffen. Und sie behaupteten, ein militärischer Erstschlag sei daher gerechtfertigt. Für diesen Standpunkt trugen sie nach Regel 2 die Beweislast. Joschka Fischer dagegen legte sich auf keinen eigenen Standpunkt fest. Er behauptete nicht, der Irak besäße keine Massenvernichtungswaffen. Er argumentierte lediglich, die Amerikaner seien ihrer Beweislast nicht hinreichend nachgekommen. Nach Regel 1 trug er damit auch keine Beweislast.

Die Regeln 1 und 2 erscheinen geradezu trivial. Aber sie werden oft gebrochen. Belege dafür finden sich massenhaft in der deutschen Medienlandschaft. Ein Beispiel kommt aus der Homöopathie-Debatte, die wir bereits in Kap. 3 angesprochen haben. In einem Meinungsartikel argumentierte der Feuilleton-Chef der renommierten Wochenzeitung DIE ZEIT, Jens Jessen, beispielsweise folgendermaßen:

»Aus dem Umstand, dass sich etwas nicht erklären oder mit gegenwärtigen Methoden nicht nachweisen lässt, folgt keineswegs, dass es nicht existiert. Gell, meine Herren Schulmediziner? Einen solchen Schluss lässt auch die strenge Erkenntnistheorie nicht zu. Die gleiche Skepsis, die gegen die Homöopathie spricht, lässt sich auch zu ihren Gunsten bemühen.«
(Jens Jessen, »Ein Beweis Namens ›Ich‹«, DIE ZEIT 50/2010, http://www.zeit.de/2010/50/Homoeopathie-Pro)

Jessen bricht hier die Regeln der Beweislast. Das wird klar, wenn wir prüfen, wer in der Homöopathie-Debatte was behauptet:

  • Auf der einen Seite gibt es die Homöopathie-Befürworter. Sie behaupten, homöopathische Mittel hätten eine nachweisbare medizinische Wirkung.
  • Demgegenüber steht das Lager der Homöopathie-Skeptiker. Sie behaupten keinen eigenen Standpunkt, sondern bestreiten lediglich, dass die empirische Datenlage den Schluss der Befürworter rechtfertigt.

Regel 1 findet damit auf die Homöopathie‐Skeptiker Anwendung und Regel 2 auf die Befürworter. Danach müssen die Skeptiker keine Beweislast tragen, sondern nur die Befürworter. Jessen behauptet nun, die Tatsache, dass es keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit der Homöopathie gibt, ließe sich sowohl gegen als auch für den Standpunkt der Befürworter bemühen. Das ist ein Denkfehler, den der englische Biologe Thomas H. Huxley (1825–1895) einmal als die »größte Sünde gegen die menschliche Vernunft« bezeichnet haben soll (der Ausspruch, der Thomas H. Huxley zugeschrieben wird, lautet wörtlich: »The deepest sin against the human mind is to believe things without evidence.« zitiert nach S. Ratcliffe, Oxford Dictionary of Quotations by Subject, Oxford, 2010, S. 42). Denn die fehlenden empirischen Belege zeigen lediglich, dass die Homöopathie-Befürworter ihrer Beweislast nicht nachgekommen sind und ihr Standpunkt nicht gerechtfertigt ist. Wer daraus dennoch den Schluss zieht, es sprächen gute Gründe für die Homöopathie, der begeht einen Denkfehler, den man Argumentum ad ignorantiam oder Wissen aus Unwissenheit nennt (Wir werden diesem Argument noch einmal in Kap. 10 begegnen). Wer diesen Fauxpas für ein schlüssiges Argument hält, der sollte vielleicht auch an die Existenz des Yeti glauben (Dieses Beispiel borge ich vom Philosophen Norbert Hörster *1937). Denn dafür gibt es ebenfalls keinerlei Belege. Und das spräche nach der Logik des Argumentum ad ignorantiam nicht nur gegen, sondern auch für die Existenz des Yeti!

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