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Leseprobe »Einladung zur öffentlichen Soziologie«: Platz am Tisch der Wissenschaften

Dieses Buch ist ein persönliches Plädoyer für öffentliche Soziologie als Passion. Der Autor versteht darunter eine neue soziale Praxis der Wissensproduktion für authentische Persönlichkeiten mit Haltung im Kontext progressiver Wissenschaftsnarrative. Der Erfolg öffentlicher Soziologie hängt davon ab, ob sich drei Ebenen – Persönlichkeit, Praxis und Programmatik – stimmig zueinander verhalten. Eine Leseprobe
Mann und Stadt

Als der Künstler und Erfinder der »sozialen Plastik«, Joseph Beuys, bei einer Podiumsdiskussion für seine Haltung angegriffen und ausgelacht wird, reagiert er mit einem bemerkenswerten Satz, der sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hat. »Sie können lachen, das ist ja ganz uninteressant. Aber ich habe es getan.«[1] In diesem Satz klingt leichte Überheblichkeit mit, aber eben auch die tiefe Ernsthaftigkeit einer Lebensaufgabe und Lebenseinstellung. Kritiker werden mir im Hinblick auf dieses Buch Ersteres vorwerfen, wohlwollende Leser vielleicht das Zweite. Denn auch dieses Buch ist Ausdruck einer Haltung, für die ich gleichermaßen eine Formel wie auch eine bestimmte Form gewählt habe. Über beides lässt sich trefflich streiten. Reformer müssen ihre Vorschläge rechtfertigen, an dieser Regel führt kein Weg vorbei. Mein Vorschlag besteht darin, öffentliche Soziologie gleichwohl als postdisziplinäre Passion aufzufassen, also als fachlich entgrenztes, an praktischen Formen orientiertes Unterfangen – ein scheinbarer Widerspruch, der aber keine Unvereinbarkeit ist. Dabei plädiere ich im Kern dafür, die Sitzordnung am Tisch der Wissenschaften mittelfristig zu ändern. Die Idee, metaphorisch vom Tisch der Wissenschaften zu sprechen kam mir, als ich Äußerungen wie diese von Jonathan Turner las, der sich über »die Folgen geringer Wertschätzung in der akademischen Hierarchie« beklagt, »speziell, wenn Soziologen und Ökonomen am selben Tisch sitzen.«[2] Oder wenn er darüber sinniert, dass es in den 1960er Jahren noch so ausgesehen hätte, als ob »die Soziologie ihren Platz am Tisch der Wissenschaften finden würde.« Offensichtlich war das eine Illusion. In Zukunft sollten öffentliche Soziologen sehr wohl am Tisch der Wissenschaften willkommen sein! Ein Sprichwort lautet: Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte. Genau das ist meiner Ansicht nach definitiv nicht der Ort öffentlicher Soziologie. Im Gegenteil: Wir sollten die Speisekarte umschreiben und anderen Lust auf unser Menüangebot machen. Wir haben einiges zu bieten!

Sitzordnungen sind immer ein Abbild von Machtkonstellationen. Die Basisprämisse dieses Buches ist daher denkbar einfach: Öffentliche Soziologie sollte in Zukunft einen Platz am Tisch der Wissenschaften beanspruchen und einnehmen. Spontan würden sich vielleicht sehr viele Soziologen wünschen, »öffentliche« Soziologie wäre ein neuer, willkommener Gast an diesem Tisch. Leider gibt es eine erstaunliche Diskrepanz zwischen rhetorischen Absichtsbekundungen und praktischen Umsetzungsversuchen. Dazu ein Beispiel: Der Weltkongress der Internationalen Gesellschaft für Soziologie (ISA) fand 2014 im japanischen Yokohama statt.[3] Ein gigantischer Kongresszirkus mit insgesamt mehr als 1000 Einzelveranstaltungen. Lediglich eine einzige Veranstaltung [4] widmete sich explizit öffentlicher Soziologie. Ziemlich genau zehn Jahre nach der einflussreichen Rede »For Public Sociology« von Michael Burawoy [5], war von öffentlicher Soziologie also nur am Rande die Rede. Die Veranstaltung fand an einem Freitag (dem letzten Kongresstag) spät abends in einem abgelegenen Raum statt. Sie wurde von den Vortragenden selbst und mir als einzigem nicht-vortragenden Zuhörer besucht. Sieht so etwa der Platz öffentlicher Soziologie am Tisch der Wissenschaften aus?

Die Gastgeberqualitäten des Wissenschaftssystems sollten in Zukunft auf dem Prüfstand stehen. In dieser »Einladung« versuche ich – so gut es angesichts des hier vorgelegten hybriden Formats geht – mit gutem Beispiel voranzugehen. Die Sitzordnung am Tisch der Wissenschaften bestimmt mit, welches Wissen in Umlauf gebracht wird und welches als Unsinn abgetan wird. Ich frage daher anders: Ist öffentliche Soziologie mehr als nur ein Konferenzthema? Eine intellektuelle Bewegung? Eine Vision für die Zukunft der Soziologie oder gar eine institutionalisierte Praxis? Auf diese Fragen müssen wir alle gemeinsam Antworten finden. Der Klassiker aller Benimmbücher, der »Knigge«, lehrt uns, dass jede Sitzordnung feststehenden Regeln folgt. Gute Gastgeber wenden viel Sorgfalt und Fingerspitzengefühl auf, um durch das »Placement« am Tisch einen gelungenen Abend mit anregender Konversation zu ermöglichen. Die Machtordnung im Feld der Wissenschaft unterscheidet zwischen Ehrengästen und weniger willkommenen Gästen.

Öffentliche Soziologie gleicht in diesem Bild dem »Quatorzième«, dem unsichtbaren vierzehnten Gast. Der Quatorzième war eine Art »berufsmäßiger Ersatzgast«, der im abergläubischen Fin de siècle zeitweise benötigt wurde, wenn sich herausstellte, dass nur 13 Gäste am Tisch anwesend sein würden. Die Quatorzième übten ihre Rolle als rituelle Zusatzgäste aus, indem sie angemessen bekleidet in ihren nahegelegenen Wohnungen warteten, bis sie gerufen wurden. Bei Tisch verhielten sie sich dann aber so, als ob sie unsichtbar wären, denn letztlich waren sie lediglich Statisten in der großbürgerlichen Runde der Etablierten. Öffentliche Soziologen gleichen in dieser Hinsicht den Quatorzièmes des 19. Jahrhunderts. Hin und wieder werden sie als Lückenfüller gerufen. Immer dann, wenn irgendjemand »Haltung auslagern« möchte, wie es einmal ein Journalist mir gegenüber zum Ausdruck brachte. Die Existenzberechtigung öffentlicher Soziologen sollte jedoch nicht darin bestehen, Haltung auszulagern. Vielmehr sollten sie selbst eine Haltung entwickeln. Denn öffentliche Soziologie kann viel mehr. Meine »Einladung« zielt darauf ab, Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit zu verwandeln und eine eigenständige und zugleich persönliche Haltung öffentlicher Soziologie zu entwickeln. Nötig dazu sind authentische Persönlichkeiten, kollaborative Wissenschaftspraktiken und transformative Wissenschaftsnarrative. Es lohnt sich, in Zukunft die Statistenrolle aufzugeben und stattdessen einen Stammplatz am Tisch der Wissenschaften einzufordern.

Trotz möglicher Kritik halte ich das Bild vom imaginären Tisch der Wissenschaften für hilfreich.[6] Denn es erinnert daran, dass es gerade die Soziologie im Verlauf ihrer Gründungsgeschichte schwer hatte, einen unhinterfragten Stammplatz zu finden. Jürgen Kaube weist in seiner Biografie über Max Weber zielgenau auf diese Ausgangssituation hin, wenn er im Kontext der Gründung der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« 1909 erwähnt: »Was Soziologie sein soll, ist selbstverständlich unklar.«[7] Die Berufsbiografie Webers versinnbildlicht die unklare Mission der Disziplin. Weber durchlief einige berufliche Metamorphosen. Beginnend mit einer Karriere als Nationalökonom folgte er den Interessen eines finanziell abgesicherten Privatgelehrten und endete schließlich bei dem, was wir heute Soziologie nennen. An der Schwammigkeit der Mission hat sich zwischenzeitlich nicht allzu viel geändert. Die Verteilung der Disziplinen am Tisch der Wissenschaften sah hingegen zu Webers Zeit vollkommen anders aus. Gelehrte hatten ein immenses Prestige, was folgende Anekdote deutlich zeigt. Als Weber von Bauarbeiten direkt vor seiner Villa in Heidelberg genervt war, trat er auf den Balkon und forderte die Arbeiter dazu auf, den Lärm sofort zu beenden. Und er fügte hinzu: »Sonst nehme ich den Ruf nach Berlin an!« Die Arbeit wurde auf der Stelle eingestellt. Heute würden Soziologen für ein derartiges Verhalten höchstens belächelt werden. Und gleichzeitig stellen sich heute für eine ganze Generation von Akademikern vollkommen andere, viel existentiellere Fragen, die unbedingt ernst genommen werden müssen, weil es nicht ausreicht »Gelehrter« zu sein, wenn es dafür keine ökonomische Grundlage (mehr) gibt.

Zu Lebzeiten Webers war der abendländisch orientierte Gesamthumanist noch nicht zu einer Witzfigur herabgesunken, sondern saß am Kopfende des Tisches der Wissenschaften. Erst als sich »Klempneruniversitäten« – wie Technische Universitäten anfangs noch abschätzig genannt wurden – etablierten, übernahmen die Technik- und Naturwissenschaften die akademische Führungsposition. Zunächst suchte sich Soziologie einen Platz »zwischen« den klassischen Disziplinen wie Philosophie und Geschichte und zwängte sich, so gut es eben ging, an den Tisch. Die Geschichte der Soziologie beginnt also bereits mit einer verzweifelten Suchbewegung. Die Suche nach dem Stellenwert öffentlicher Soziologie ist nur eine der vielen Fortsetzungen dieser Suche. Initiativen wie »DGS goes public« der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« [8] sind extrem wichtig und förderlich. Aber für sich allein genommen sind sie nicht ausreichend, um das »Tischrecht« für öffentliche Soziologie zu erringen. Eine Einladung zur öffentlichen Soziologie muss deshalb breiter aufgestellt sein und darf sich nicht ausschließlich an den frohen Botschaften von For Public Sociology orientieren, die Michael Burawoy als Hohepriester öffentlicher Soziologie in die Welt gesetzt hat. Eine Disziplin, die über so viel Wissen über Konformismus verfügt, sollte dazu fähig sein, kognitiven Konformismus in den eigenen Reihen zu reduzieren. Es ist an der Zeit, ein umfassenderes Bild öffentlicher Soziologie zu gewinnen. Um dieses Bild zu skizzieren, macht es Sinn, zunächst einige grundlegende Fragen zu stellen. Sie helfen, die Suche nach einem eigenständigen Ansatz besser zu strukturieren und sie dienen dazu, meine eigenen Erfahrungen in diesen Text einzuweben. Ohne Praxis geht es nicht. Eine Theorie öffentlicher Soziologie ist eine feine Sache, letztlich kommt es jedoch auf die konkrete Umsetzung an.

Ich orientiere mich dabei an einer Reihe akademischer Vorbilder, bei denen Soziologie zunächst in der Praxis stattfand und erst dann die Theorie folgte. Sie alle betrieben bereits öffentliche Soziologie als es dafür noch keinen Namen gab und als noch niemand die Thesen von Michael Burawoy nachbetete. Ich sympathisiere ganz eindeutig mit jenen, die öffentliche Soziologie – in der Lehre, der Forschung und im Kontext öffentlichen Engagements – leidenschaftlich in die Praxis umsetzen, anstatt bloß eine bereits erzählte Geschichte nachzuerzählen ohne selbst aktiv zu werden. Mein Selbstbild ähnelt dem der US-amerikanischen Soziologin Edna Bonacich, die schon lange vor Michael Burawoy öffentliche Soziologie betrieb. Im Rückblick stellt Bonacich Fragen, die sich gut dazu eignen, Erfahrungen jenseits institutionalisierter Diskurse zu reflektieren.[9] Ich nutze diese Fragen, um damit auch meine eigenen Erfahrungen neu einzuordnen. Vielleicht lässt sich gerade an konkreten Beispielen etwas entdecken, das zur Nachahmung, Modifikation oder Auseinandersetzung reizt?

Zunächst: Was ist eigentlich der Grund für öffentliche Soziologie? So wie ich es einschätze, ist öffentliche Soziologie Gegenstand von zwei Narrativen. Ich spreche hier bewusst von Narrativen, weil Wissenschaft selbst eine Erzählung ist und somit immer wieder neu (oder anders) erzählt werden kann und muss. In beiden Fällen sind es (archetypische) Erzählungen von der Suche nach etwas Neuem oder zumindest Anderem.

Erstens kann die Öffnung wissenschaftlicher Disziplinen in Richtung Gesellschaft als Reaktion auf den steigenden »äußeren« Druck im Wissenschaftssystem verstanden werden.[10] Zweitens kann öffentliche Soziologie als Versuch der »inneren« Erneuerung einer Disziplin verstanden werden, als Reaktion auf zahlreiche institutionalisierte Paradoxien. In beiden Fällen handelt es sich um Gegennarrative zum »Status quo«. Somit ist meine Einladung der Versuch, Soziologie nicht bloß zu interpretieren, sondern als öffentliche Soziologie mit Passion zwischen Zwängen und Revitalisierung neu zu erzählen. Gerade weil das »Fehlen der großen Erzählung« immer wieder kritisiert wird [11], gehe ich davon aus, dass es eine realistische Chance dafür gibt, dass aufgeschlossene Soziologen dieser Erzählung folgen. In der disziplinären Landkarte der Wissenschaften sind alle bekannten Inseln verzeichnet. Diese Landkarte dient vielen als verlässliche Orientierung. Wer aber öffentliche Soziologie betreiben möchte, die nicht ausschließlich aus einer innerakademischen Selbstberufungslehre resultiert, muss neues Fahrwasser erkunden. Es reicht nicht aus, allein nach der Landkarte Michael Burawoys zu navigieren. Öffentliche Soziologie als »postdisziplinäre Passion« ist daher nichts anderes, als die Suche nach der unbekannten Insel. Es ist eine persönliche und fachliche Reise, die eine gewisse Abenteuerlust voraussetzt, eine Unternehmung, die in jedem Fall belohnt wird. Ich bin überzeugt davon, dass sich diese faszinierende Expedition ins Neuland der eigenen Disziplin für jede und jeden von uns lohnen wird.

Referenzen

  1. Josef Beuys über seine Theorie der Plastik: https://www.youtube.com/watch?v=-wpAkXQOtQkg (16. Mai 2018).
  2. Dieses und das nächste Zitat Turner 2007, S. 277
    Turner, J. (2007). »Is Public Sociology Such a Good Idea?«. In L. Nichols (Hg.), Public Sociology. The Contemporary Debate (S. 263 – 288). New Brunswick: Transaction Publishers.
  3. http://www.isa-sociology.org/congress2014/ (25.11.2015)
  4. Session 993 der Ad-hoc-Gruppe »Dilemmas of Public Sociology: Negotiating the Academic and the Political«
  5. Burawoy 2005b
    Burawoy, M. (2005b). The Critical Turn to Public Sociology. Critical Sociology, 31(3), S. 313 – 326.
  6. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani nutzt im Kontext der Debatte um Migration ein ähnliches Bild, indem er Gesellschaf mit einem Esstisch vergleicht, dessen kulturelle, ethische und sonstige Besetzung sich in den vergangenen Jahren verändert hat. Vgl. Süddeutsche Zeitung Magazin, 28. Februar 2019, S. 15. Download unter: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/die-alten-unddie-neuen-86879?reduced=true (4.4.2019)
  7. Kaube 2014, S. 336
    Kaube, J. (2014). Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Berlin: Rowohlt.
  8. http://www.soziologie.de/uploads/media/DGS_goes_public.pdf (25.11.2015)
  9. Bonacich 2007
    Bonacich, E. (2007). Working with the Labour Movement: A Personal Journey in Organic Public Sociology. In L. Nichols (Hg.), Public Sociology. The Contemporary Debate (S. 73 – 94). New Brunswick: Transaction Publishers.
  10. Vgl. auch das Kapitel »Vom Wissen zum Handeln – Öffentliche Soziologie im Kontext progressiver Wissenschafsnarrative« sowie »Öffentliche Soziologie im Kontext neuer akademischer Verantwortungskulturen« in diesem Buch.
  11. Müncker 2012
    Müncker, H. (2012). Das Fehlen der großen Erzählung. Über das Verhältnis der Geisteswissenschaften zum Politikbetrieb. Rotary Magazin, 2, S. 17 – 21.

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