Lexikon der Astronomie: Gezeitenradius
Unter dem Eintrag Gezeitenkräfte wurden verschiedene Bereiche der Astronomie vorgestellt, in denen diese Gravitationskräfte relevant sind. Hier soll es um den Gezeitenradius gehen, der bei den extremen Gezeitenkräfte von Schwarzen Löchern, die auf Sterne wirken, eine Rolle spielt.
Gleichung für den Gezeitenradius
In der Theorie lässt sich der Gezeitenradius (engl. tidal radius) berechnen, der angibt, ab welchem Abstand zum Schwarzen Loch die Gezeitenkräfte die Selbstgravitation des massiven Objekts dominieren. In der Gleichung links ist die Formel für den Gezeitenradius angegeben: Er wächst mit der dritten Wurzel der Masse des Loches (MBH) an, wächst linear mit dem Radius des Objekts (R mit Index Stern) und fällt mit der dritten Wurzel der Masse des Objekts (m mit Index Stern) ab. Die Betrachtung ist wichtig, um abzuschätzen, bei welchen Abständen zum Loch Sterne durch diese enormen Kräfte zerrissen werden. Dieses Ereignis eines Sternzerrisses nennt man im englischen Fachjargon stellar tidal disruption (manchmal im Deutschen Stellardisruption). Solche Ereignisse sind mit einem deutlichen Anstieg in der Röntgenemission verbunden, weil die stellaren Trümmer nach dem Zerriss teilweise vom nahen Schwarzen Loch aufgesammelt werden. Es entsteht dabei ein charakteristischer Röntgenblitz (engl. X-ray flare), weil ein Materie aufsammelndes Loch immer Strahlung erzeugt. Wie im Eintrag Akkretion dargestellt, ist das sogar der effizienteste Weg um elektromagnetische Strahlung herzustellen.
In der Gleichung für den Gezeitenradius gibt man Masse und Radius des eingefangenen Sterns (engl. captured star), ebenso wie die Masse des Schwarzen Loches vor. Dann lässt sich der Gezeitenradius ablesen. Man muss dazu sagen, dass der Zahlenwert des Gezeitenradius in dieser Gleichung nur eine Abschätzung ist. Das hat zweierlei Gründe: Zum einen folgt die Gleichung aus einer rein Newtonschen Betrachtung der Gravitation; dies kann bei großer Nähe zum Ereignishorizont nicht mehr adäquat sein, weil sich hier die Krümmung der Raumzeit auswirkt. Zum anderen hängt der genaue Vorfaktor (hier 1) von der Bahnform des Sterns (Ellipse, Kreis) und der genauen Dichteverteilung im Stern ab.
Ein Zerriss im Verborgenen
Wir zeigen jetzt anhand der Gleichung für den Gezeitenradius, dass nicht bei allen Schwarzen Löchern ein Röntgenflare vom Sternzerriss sichtbar sein kann. Dazu betrachten wir einen sonnenartigen Stern und setzen in die erste Gleichung den Sonnenradius und die Sonnenmasse ein (Daten unter Eintrag Sonne). Die Gleichung kann danach umgeschrieben werden, wenn man den ebenfalls masseabhängigen Schwarzschildradius (den Radius des Ereignishorizontes eines nicht rotierenden Schwarzen Loches vom Schwarzschild-Typ) einsetzt. Das Resultat ist die Gleichung rechts oben. Nun tragen wir in einem Diagramm diesen Gezeitenradius eines sonnenartigen Sterns (grün) gegenüber dem Schwarzschildradius (rot) auf und erhalten Folgendes:
Der Schnittpunkt der Geraden in doppeltlogarithmischer Auftragung liegt bei einer Masse des Schwarzen Loches von 1.1 × 108 Sonnenmassen. Überschreitet die Lochmasse diesen kritischen Wert, unterschreitet der Gezeitenradius den Horizontradius. D.h. der Zerriss des Sterns ist nicht mehr beobachtbar, weil er hinter dem Horizont verborgen ist. Diese Aussage wird leicht für die kompakteren, rotierenden Kerr-Löcher oder für andere eingefangene Objekte wie Riesensterne (z.B. Roten Riesen) oder andere kompakte Objekte (Neutronenstern, Weißer Zwerg) modifiziert: So kann für ein maximal rotierendes Kerr-Loch (Kerr-Parameter a = M in geometrisierten Einheiten), das einen Horizontradius von einem Gravitationsradius aufweist, die Masse des Schwarzen Loches geringfügig größer sein, bevor der Flare verschwindet. Die Kernaussage bleibt bestehen: Bei den schwersten unter den supermassereichen Schwarzen Löchern ist der Sternzerriss durch Gezeitenkräfte nicht beobachtbar. Der angegebene Zahlenwert von etwa 100 Mio. Sonnenmassen ist allerdings recht hoch und wird nur von zentralen Schwarzen Löchern in Quasaren und Riesenellipsen angenommen.
Wie oft passiert's? – Zerrissrate pro Galaxie
Im Falle der Milchstraße besteht eine gute Chance das Röntgenflare eines zerrissenen Sterns beobachten zu können, wenn es denn geschehen sollte. Der Sternzerriss ist nämlich ein relativ seltenes Phänomen und geschieht etwa alle 10000 Jahre einmal in einer Galaxie. Das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße, assoziiert mit der kompakten Radioquelle Sgr A*, hat eine Masse von etwa 3 Millionen Sonnenmassen. Demnach liegt der Gezeitenradius von Sgr A* für sonnenartige Sterne bei 11.4 Schwarzschildradien oder 22.8 Gravitationsradien (entsprechend 101 Mio. km oder 0.68 AU).
Passiert und entdeckt!
Im Februar 2004 wurde bekannt gegeben, das in der Röntgenquelle RX J1242-1119, einer elliptischen Galaxie mit einem zentralen supermassereichen Schwarzen Loch von etwa 200 Millionen Sonnenmassen, ein Röntgenflare eines Sterns beobachtet wurde, der den Gezeitenradius unterschritten hatte (Komossa et al. 2004, MPE Garching). Das ist die erste gesicherte Beobachtung dieser stellaren Zerreißprobe!
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.