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Lexikon der Astronomie: Lense-Thirring- Effekt

Der Lense-Thirring-Effekt benennt lapidar gesagt das Phänomen, dass eine rotierende Masse alles in seiner Umgebung mitrotieren lässt, selbst den Raum und die Zeit!

Effekt von Einsteins Gravitationstheorie

Mit einiger Kenntnis der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) wird auch klar weshalb: rotierende Massen erzeugen ein rotierendes Gravitationsfeld in ihrer Umgebung. In der ART spricht man präzise von einer rotierenden Raumzeit. Die Symmetrien (siehe auch Isometrien) dieser Raumzeiten heißen Axialsymmetrie und Stationarität. Relativistisch gesehen ist die Umgebung rotierender Körper nicht statisch, sondern ein dynamisches Objekt. Raum und Zeit werden zum vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum, der Raumzeit, zusammengefasst. Dieses Gebilde dreht sich bei rotierenden Massen!

Wenn die Raumzeit zieht

Bewegt sich nun ein Testteilchen oder Licht in einer rotierende Raumzeit, so werden sie unweigerlich gezwungen mit zu rotieren. Aber nicht nur der Körper an sich rotiert, auch das Bezugssystem. Das kennzeichnet gerade den Lense-Thirring-Effekt. Er darf im Prinzip alternativ zum Fachbegriff Frame-Dragging verwendet werden. Frame-Dragging leitet sich aus dem Englischen ab von drag of inertial frames, also dem 'Mitziehen von Referenzsystemen / Inertialsystemen'. Was physikalisch passiert, lässt sich mit dem Gravitomagnetismus verstehen (siehe diesen Link für Einzelheiten). Durch die gravitomagnetischen Kräfte um ein rotierendes Schwarzes Loch kann ein charakteristisches Schwingungsverhalten angeregt werden. Die zugehörige Schwingungsfrequenz heißt Lense-Thirring-Frequenz. Dieser Lense-Thirring-Effekt wurde bereits 1918 von den beiden österreichischen Physikern Joseph Lense (1890 – 1985) und Hans Thirring (1888 – 1976) prognostiziert. Erst im Jahr 2004 ist es gelungen Frame-Dragging bei der rotierenden Erde experimentell zu belegen (Ciufolini & Pavlis, Nature 2004).

Das Experiment Gravity Probe-B

Der Lense-Thirring-Effekt war neben den Gravitationswellen eine derjenigen Vorhersagen der ART, die nicht direkt im Experiment beobachtet werden konnten. Deshalb wurde im April 2004 ein Satellitenexperiment namens Gravity Probe-B (GP-B) gestartet. Die Hauptaufgabe des Satelliten besteht darin, die Raumzeitkrümmung der Erde und den Lense-Thirring-Effekt mit Gyroskopen nachzuweisen.
Das Messprinzip beruht darauf, dass Kreisel durch die gekrümmte, rotierende Raumzeit der Erde beeinflusst werden und die Lage ihrer Drehachse verändern: sie präzedieren. Deshalb hat GP-B vier Gyroskope und ein Referenzteleskop an Bord. Die Gyroskope sind gerade Hochpräzisionskreisel. Sie bestehen aus heliumgekühlten, rotierenden Kugeln aus geschmolzenem Quarz. Das Referenzteleskop ist exakt auf den SternIM Pegasi (HR8703) ausgerichtet. An den Polen zeigen die Drehachsen der Gyroskope auf den Referenzstern. Damit stellt der Satellit ein ideales Referenzsystem dar, um die Allgemeine Relativitätstheorie zu testen. GP-B umkreist nun die Erde auf einer polaren Umlaufbahn in 400 Meilen Höhe. Nun ist die Erwartung, dass die Kreisel ihre Drehachse um einen winzigen Winkel kippen: Leonard Schiff von der Stanford Universität hatte bereits 1960 die Idee den Lense-Thirring-Effekt mit Gyroskopen auszumessen. Er berechnete, dass die Winkelabweichung eines Gyroskops bei GP-B aufgrund des Lense-Thirring-Effekts nach einem Jahr 42 Millibogensekunden (etwa zwölf Millionstel Grad) betragen müsse. Zum Vergleich: Unter diesem Winkel würde eine etwa 160 Meter durchmessende Fläche auf dem Mond erscheinen. Dieser winzige Effekt wird von der viel stärker ausfallenden geodätischen Präzession überlagert. Die geodätische Präzession wird von der Bewegung der Kreisel in der gekrümmten Raumzeit der Erde verursacht. Als Folge dessen präzedieren die Gyroskope an Bord von GP-B in der Bahnebene mit einer Winkelabweichung von 6.6 Bogensekunden (fast zwei tausendstel Grad) pro Jahr. Diese geodätische Präzession ist seit 1988 experimentell gesichert, denn in diesem Jahr konnte die geodätische Präzession des Erde-Mond-Systems beim Lauf um die Sonne radiointerferometrisch gemessen werden. GP-B ist ein hochempfindlicher Detektor und kann Winkel bis auf etwa eine Millibogensekunde genau auflösen. Damit sollte der Lense-Thirring-Effekt bis auf einen Prozent im Messfehler genau bestimmt werden können. Mit dem Vorgängersatelliten Gravity Probe-A ist es 1976 mittels einer Atomuhr gelungen, die Zeitdilatation der ART zu beweisen, also dass Massen den Ablauf der Zeit verlangsamen.

Laser-Experiment kam zuvor!

Zur Überraschung der Gravitationsforscher konnte das LAGEOS-Experiment dem Projekt GP-B den Rang im Jahr 2004 streitig machen! Das Experiment besteht aus den zwei LAGEOS-Satelliten (LAser GEOdetic Satellites), die Laserlicht reflektieren können. Die Strahlung kann über tausende von Kilometern noch zentimetergenau vermessen werden. Eigentlich dienten die Satelliten ganz anderen wissenschaftlichen Zwecken, doch es stellte sich heraus, dass sie auch als Gyroskop genutzt werden konnten. Denn die Satelliten folgen auf Geodäten der leicht gekrümmten und rotierenden Raumzeit der Erde. Die Verdrillung der Raumzeit konnte damit aus den LAGEOS-Laserdaten aus den Jahren 1993 bis 2003 abgeleitet werden. Ciufolini & Pavlis veröffentlichten im Oktober 2004 in einem Nature-Artikel ihren Fund, dass sie den Lense-Thirring-Effekt auf 99% genau (mit einem Messfehler von maximal ±10%) nachweisen konnten! Die ART prognostiziert für die speziellen Höhen der LAGEOS-Satelliten einen Lense-Thirring-Effekt von 48.2 Millibogensekunden pro Jahr; gemessen wurden 47.9 Millibogensekunden pro Jahr!
Für das Wissenschaftlerteam von GP-B war das sicherlich eine erschütternde Meldung: auch wenn GP-B den Effekt viel genauer vermessen wird, so werden sie nur die zweiten sein.

Weitere Informationen

  • Originalpublikation: Ciufolini & Pavlis: A confirmation of the general relativistic prediction of the Lense-Thirring effect, Nature 431, 958, 2004
  • Web: Homepage von Gravity Probe B: Die englischsprachige Seite bietet eine Fülle an Informationen zum Experiment und zur Allgemeinen Relativitätstheorie
  • Die Autoren
- Dr. Andreas Müller, München

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