Lexikon der Astronomie: primordiale Schwarze Löcher
Bei den primordialen Schwarzen Löchern (engl. primordial black holes, PHB) handelt es sich um eine besonders leichte Form Schwarzer Löcher, die sich möglicherweise im frühen Universum entwickelt haben. Auf diese frühe Entstehung nimmt auch das Attribut primordial Bezug. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen für primordium, dt.: Anfang, Ursprung.
Herkunft primordialer Löcher – nach der Inflation
Primordiale Schwarze Löcher sind nicht durch den Gravitationskollaps eines Sterns entstanden, denn die gab es im frühen Kosmos noch nicht. Darin unterscheiden sich entwicklungsgeschichtlich die PBHs von ihren 'großen Brüdern', den stellaren Schwarzen Löchern und auch von daraus gewachsenen supermassereichen Schwarzen Löchern. Vielmehr nehmen die Kosmologen an, dass hoch komprimierte Gebiete im heißen, dichten 'Urbrei' des frühen Universums in sich zusammenfielen. Das sollte sich kurz nach dem Urknall (engl. big bang) ereignet haben. Denn auch primordiale Schwarze Löcher benötigen überdichte Massenansammlungen, um sich bilden zu können. Der dichte Kosmos kurz nach dem Urknall hat eine Zeit lang dafür gute Bedingungen geliefert. Eine wesentliche Einschränkung kommt dabei von der Inflation: Falls primordiale Löcher vor der Inflationsära entstünden, so würde die danach stattfindende exponentielle Ausdehnung in der Inflationsepoche die PBHs ausgedünnt haben. Wenn also PBHs überhaupt eine Rolle spielen, dann nur diejenigen, die in einer Epoche nach der Inflation entstanden sind. Die Kosmologen nennen das die so genannte post-inflationäre Ära.
Schwups & weg
Seit den 1970er Jahren wird angenommen, dass Schwarze Löcher nicht für alle Zeiten stabil sein können. Mittels Rechnungen, die sowohl die Quantentheorie, als auch die Allgemeine Relativitätstheorie und Thermodynamik berücksichtigen, fand der bekannte Physiker Stephen Hawking 1974, dass von Schwarzen Löchern immer eine diffuse Strahlung ausgeht. Diese Hawking-Strahlung kann als Wärmestrahlung interpretiert werden. Hawkings bisher unbestätigte Hypothese besagt, dass Schwarze Löcher durch diesen ständigen Strahlungsverlust Energie und Masse verlieren. Besonders dramatisch ist dieser Masseverlust bei den leichten Mini-Löchern: Sie verschwinden durch Hawking-Emission nach relativ kurzer Zeit und überdauern deshalb nicht bis ins lokale Universum.
Massen primordialer Löcher
Bereits 1967 konnten Zel'dovich & Novikov eine Gleichung ableiten, die die Lochmasse M in Beziehung setzt zur kosmologischen Epoche, also der kosmischen Zeit t nach dem Urknall, in der sie sich gebildet haben. Sie lautet:
M(t) ~ 1015 (t/10-23 s) g.
Nehmen wir an, das PBH habe sich bereits in der Planck-Ära gebildet, so hätte es eine Masse von 10-5 Gramm, also gerade die Planck-Masse. Diese PBHs sollten jedoch die Inflationsära nicht überlebt haben.
Nehmen wir stattdessen eine Zeit von einer Sekunde nach dem Urknall an, so resultiert bereits eine Masse von 105 Sonnenmassen – an der Schwelle von supermassereichen Schwarzen Löchern!
Nehmen wir an, dass die primordialen Löcher kurz nach der Inflation in der Strahlungsära, also 5 × 10-24 Sekunden nach dem Urknall, entstanden. Dann ist die Masse der primordialen Löcher aus dieser Epoche vergleichbar mit derjenigen eines irdischen Berges ist, etwa eine Milliarde Tonnen oder 1015 g. Das ist die kanonische Masse der primordialen Schwarzen Löcher (Bekenstein 2004).
Teilchenspektrum primordialer Löcher
Ein Schwarzes Loch, das eine Milliarde Tonnen wiegt, hätte einen Schwarzschild-Radius von nur 10-13 Zentimetern oder einem Femtometer (Kernphysikerjargon: 'ein Fermi'). Eine so winzige Länge ist typisch für den subatomaren Bereich und unterhalb der klassischen Größen von Neutron oder Proton! Aufgrund der kleinen Massen ist die Hawking-Temperatur der PBHs relativ hoch, etwa 100 Milliarden Kelvin! Das entspricht einer thermischen Energie von nur 10 MeV, so dass ein primordiales Loch nur Photonen und Neutrinos, aber keine Nukleonen, die mit etwa 1000 MeV Masse viel schwerer sind, im Spektrum der Hawking-Strahlung emittieren könnte.
Lebensdauer primordialer Löcher
Die Lebensdauer der PBHs lässt sich somit abschätzen, indem man annimmt, dass das Loch gegebener Masse beständig Energie und Masse durch die Emission leichter Teilchen verliert. Mathematisch folgt die Lebensdauer aus der Strahlungsleistung eines Wärmestrahlers, wenn man als Oberfläche des Strahlers die Horizontfläche des Loches (siehe dazu Eintrag Bekenstein-Hawking-Entropie) und als Temperatur des Strahlers die Hawking-Temperatur annimmt. Die Lebensdauer als Funktion der Lochmasse ist dann gegeben durch:
τ(M) ~ 1064 (M/Msol)3 Jahre,
wobei Msol die Sonnenmasse von 1.99 × 1030 kg ist.
Das führt auf eine Lebenszeit von etwa 1.3 Mrd. Jahren für die eine Milliarde Tonne wiegenden PBHs. Die Lebensdauer steigt allerdings mit der dritten Potenz der Lochmasse. Ein deutlich leichteres Loch wäre damit schon früher zerstrahlt. An diesen Rechnungen sieht man, dass PBHs von maximal der Masse eines Bergs schon innerhalb des Alters unseres Universums vollständig zerstrahlt wären.
Nachweis primordialer Löcher schwierig
Das Verdampfen vollzieht sich in der letzten Phase explosionsartig, so dass primordiale Schwarze Löcher Signaturen im Muster der kosmischen Hintergrundstrahlung und kosmischen Strahlung hinterlassen haben sollten. Primordiale Schwarze Löcher, die gerade in unserer gegenwärtigen Epoche zerstrahlen, sollten zum Hintergrund der Gammastrahlung beitragen. Es wurde auch diskutiert, dass vielleicht einige Gammastrahlenausbrüche auf explodierende, primordiale Löcher zurückgingen (Cline et al. 1997, Belyanin et al. 1997). Für all diese Szenarien gibt es bislang keine Bestätigungen aus astronomischen Beobachtungen, sondern weitaus bessere, konventionelle Erklärungen. In der scientific community gelten primordiale Schwarze Löcher als sehr hypothetisch.
kosmologische Rolle primordialer Löcher?
Ihre Rolle in der Entwicklung des Kosmos im Rahmen der Kosmologie ist nach wie vor nicht klar. Sie könnten eine Rolle bei der Strukturbildung, also der Entstehung von Sternen und Galaxien gespielt haben. Es ist zumindest denkbar, dass die primordialen Schwarzen Löcher die 'Saatkörner' von Sternen und Galaxien waren. Freilich wären die Details zu klären, wie aus subatomaren Löchern makroskopische Objekte wie die Sterne werden. Die kosmologische Rolle Schwarzer Löcher wäre in diesem Szenario allerdings gewichtig, sorgten sie doch für die Entstehung der Welteninseln, in denen sich schließlich Planeten und das Leben bildete. Aber die Kosmologen wissen bislang nicht, ob es sich so abgespielt hat.
Das Potenzial theoretischer Forschung
Nach der Lektüre dieses Eintrags könnte man stutzig werden und sich fragen, was es überhaupt bringt, sich mit so etwas Spekulativem wie primordialen Schwarzen Löchern zu beschäftigen. Immerhin könnte sich irgendwann herausstellen, dass primordiale Schwarze Löcher definitiv nie existiert haben!
Dieser berechtigen Kritik kann man etwas entgegenstellen, dass für alle Theorien Gültigkeit hat: fundamentale Erkenntnis. Der theoretische Astrophysiker Bernard Carr von der Universität London nennt die 1974 entdeckte Hawking-Strahlung als eine der wichtigsten Entdeckungen in der Physik des 20. Jahrhunderts. Er begründet dies damit, dass es Hawking gelang drei bis dato getrennte Bereiche der Physik – Quantentheorie, Allgemeine Relativitätstheorie und Thermodynamik – zu verknüpfen, was mit profunden, neuen Erkenntnissen über die Natur verbunden war. Carr rechtfertigt deshalb Grundlagenforschung und formuliert in u.g. Papier pointiert:
Thus the discovery illustrates that studying something may be useful even it does not exist!
Literaturtipps
- Publikation: Jacob D. Bekenstein, Black Holes: Physics and Astrophysics – Stellar-mass, supermassive and primordial black holes, 2004
- Publikation: Bernard J. Carr, Primordial Black Holes as a Probe of Cosmology and High Energy Physics, 2003
- Web-Essays von Andreas Müller: Alles graue Theorie? sowie Brauchen wir Grundlagenforschung?
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