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Kompaktlexikon der Biologie: Schmerz

Schmerz, Dolor, ein unangenehmes Sinnesempfinden und meist unlustbetontes Gefühlserlebnis, das auftritt, wenn Körpergewebe so stark gereizt wird, dass eine Schädigung droht oder auftritt. Sinn des S. ist also in erster Linie der Schutz vor Schädigung. Je nach Lokalisation werden visceraler und somatischer S. unterschieden. In Abhängigkeit von der Dauer wird er als akuter oder chronischer S. bezeichnet, wobei letztere auch rein psychische Ursachen haben können und dadurch zu einem eigenen Krankheitsbild werden. Aber auch bei einem durch konkrete Schädigung verursachten S. spielt die Psyche eine große Rolle für das subjektive Schmerzempfinden. Dies zeigt sich einerseits darin, dass z.B. in Ekstase, durch Yoga, Meditation oder Hypnose das Schmerzempfinden vom Bewusstsein abgeschirmt werden kann, andererseits darin, dass chronischer S. zu einer Änderung der Gesamtpersönlichkeit führen kann.

Visceraler S. äußert sich als dumpfe, in der Tiefe empfundene Schmerzempfindung der Eingeweide. Beim somatischen Schmerz unterscheidet man Tiefen- und Oberflächenschmerz. Beim Tiefenschmerz handelt es sich ebenfalls um dumpfe Schmerzempfindungen, die meist schlecht lokalisierbar sind und in die Umgebung ausstrahlen. Diese betreffen Bindegewebe, Muskeln, Knochen und Gelenke. Zu ihnen gehört die wohl häufigste Schmerzform des Menschen, der Kopfschmerz. Tiefenschmerzen gehen mit motorischer Hemmung, Schonstellung (z.B. bei Knochenbrüchen) und passivem Zusammensinken einher. Der von der Haut ausgehende Oberflächenschmerz ist eine helle, gut lokalisierbare Empfindung, die nach Aufhören des Reizes schnell abklingt (erster S.). Sie löst entsprechend gerichtete Reaktionen aus, wie Abwehr oder Flucht. Bei hoher Reizintensität mit einer Dauer von mehr als 0,5 oder 1 s folgt eine zweite S.-Phase von dumpfem, brennendem Charakter, die langsam abklingt und schwer lokalisierbar ist (zweiter S.).

S. entstehen durch viele Arten von Reizen, sobald diese eine gewisse Intensität (Schmerzschwelle) überschreiten. Für die Wahrnehmung dieser Reize sind spezielle Rezeptoren, die Nozizeptoren, verantwortlich. Auch wenn die S.-Empfindung durch Wärme bzw. Hitze oder Druck ausgelöst wird, läuft die S.-Wahrnehmung über die Nozizeptoren. Auf der Haut liegen wesentlich mehr Schmerzpunkte als Druck- (Verhältnis 9:1) oder Kälte- bzw. Wärmepunkte (10:1). So befinden sich auf 1 cm2 Haut bis zu 200 Schmerzpunkte. In der Haut wurden bisher rein mechanosensitive, rein thermosensitive sowie mechano- und thermosensitive Schmerzrezeptoren gefunden. Die Nozizeptoren, die beide Qualitäten erfassen, scheinen häufiger zu sein als die beiden anderen Typen. In den Hohlorganen der Eingeweide sind mechanosensitive Nozizeptoren zu finden. Sie reagieren z.T. auf passive Dehnung und zum Teil auf aktive Kontraktion der glatten Muskulatur. Auch fehlende Durchblutung (Ischämie) und bestimmte Gase oder Staubpartikel in der Lunge können zu Schmerzempfindungen führen. In der Skelettmuskulatur kommen chemo- und mechanosensitive Rezeptoren sowie eine Kombination von beiden vor. Die Nozizeptoren sind freie Nervenendigungen mit dünnen markhaltigen oder marklosen Nervenfasern, die auch unterschiedliche Schmerzqualitäten weiterleiten. An den hellen S.-Empfindungen sind die markhaltigen Nervenfasern beteiligt, an den schwer erträglichen dumpfen, brennenden S. die marklosen. Für durch Hitze verursachte S. ist zunächst die Denaturierung der Gewebeproteine an den Nervenendigungen verantwortlich. Diesem kurz andauernden hellen S. folgt nach einigen Sekunden eine lang andauernde Schmerzwelle, die nicht allein auf der langsameren Leitungsgeschwindigkeit der marklosen Nervenfasern beruht, sondern auch auf der verzögerten Bildung von so genannten Schmerzstoffen. Diese körpereigenen Stoffe werden bei Schädigungen des Gewebes freigesetzt und lösen den Schmerzreiz an den freien Nervenendigungen aus. So wirken winzige Flüssigkeitsmengen aus Brandblasen der Haut stark Schmerz erzeugend. Bekannte Schmerzstoffe sind Acetylcholin, Histamin, Serotonin und Plasmakinine (in Brandblasen und in durch Entzündungen abgesonderten Flüssigkeiten). Lokale Erhöhungen der Konzentration von H+- und K+-Ionen rufen ebenfalls S.-Empfindungen hervor. Im Gehirn werden Substanzen gebildet, die spezifisch an den Rezeptoren der Gehirnzentren, die für die S.-Empfindungen wichtig sind, angreifen. Diese Stoffe, die Endorphine, wirken bei S.-Empfindungen lindernd, sie werden auch als körpereigene Opiate bezeichnet. Sie sind Bestandteil eines endogenen S. hemmenden Systems, das in die S.-Weiterleitung (im Stammhirn und Rückenmark) eingreift. U.a. bestehen Beziehungen zur Formatio reticularis, zum Thalamus opticus und zum limbischen System. Das letztere, das seinerseits Schmerzinformationen vom Thalamus opticus erhält, spielt eine wichtige Rolle bei der Empfindung, Bewertung und Verarbeitung von S. In Stresssituationen wird das endogene S. hemmende System aktiviert, was die vorübergehende Schmerzfreiheit, z.B. nach schweren Unfällen, zu erklären vermag.

Eine Gewöhnung an einen Schmerzreiz und damit eine Verminderung der S.-Empfindung bei länger andauerndem Reiz ist nicht möglich. Die einzelnen Körperteile sind unterschiedlich schmerzempfindlich. Knochenhaut, Gelenke, Zähne (Pulpa) und Nerven sind sehr empfindlich, die kompakten Teile des Knochens, der Zahnschmelz oder die Gehirnrinde dagegen überhaupt nicht; die S.-Empfindung ist unabhängig von der Gefährlichkeit der Schädigung. Die S.-Intensität ist zudem von der subjektiven Einstellung zum S. abhängig bzw. von der Bedeutung, die der Schädigung beigemessen wird. Außerdem wird das Ausmaß des S. immer an der bisherigen Schmerzerfahrung gemessen. Durch Ablenkung und Gleichgültigkeit kann die Schmerzempfindung gesenkt, durch Erwartung, Spannung und Angst hingegen gesteigert werden. Die Wirkung von Suggestion (seelische Beeinflussung) und Tabletten ohne Wirkstoffe (so genannte Placebos) findet hier ihre Erklärung. Bei der Entstehung von chronischem S., vor allem des Bewegungsapparats, spielt oft ein sich bildender Teufelskreis eine wichtige Rolle. Aus überschießender Muskelerregung (Hypertonus der Muskulatur mit Hartspann) resultiert bei anhaltender Erregung der Nozizeptoren eine verminderte Sauerstoffversorgung des Gewebes und letztlich eine Gewebeschädigung. Da die Muskelinnervation meist multisegmental ist, kann die S.-Reaktion zudem auf andere Segmente übergreifen und sich so bei langer Krankheitsdauer ausbreiten, bis der S. unter Umständen generalisiert ist und weiterhin andauert, obwohl die ursprüngliche S. auslösende Schädigung längst ausgeschaltet ist. Zur Aufrechterhaltung des S. trägt auch bei, dass Reize vorerregte Bahnen bevorzugen und in häufig erregten Synapsen langsamer abklingen.

So können auch S.-Empfindungen auftreten, obwohl die S.-Rezeptoren nicht mehr vorhanden sind. Beinamputierte Menschen empfinden z.B. manchmal S. in der nicht mehr vorhandenen Extremität (so genannter Phantomschmerz). Das Phantomglied wird dabei fast immer in einer verkrampften und versteiften Haltung erlebt. Oft kann man nachweisen, dass diese S. völlig unabhängig von sensiblen Einflüssen der amputierten Extremität sind. Sie entstehen zentral, d.h., es liegen ihnen Verarbeitungsprozesse im Gehirn zugrunde. Auch die übertragenen oder projizierten S., bei denen S. innerer Organe (z.B. Gallenkoliken) auf Bereichen der Körperoberfläche (den so genannten Head-Zonen) lokalisiert werden können, haben ihre Ursache in den neuronalen Verschaltungen und Fehlinterpretationen. Nervenfasern, die u.a. die S.-Erregungen von den Eingeweiden zum Zentralnervensystem leiten, erhalten ebenfalls Information von bestimmten Hautarealen (die oftmals stärker innerviert sind), sodass diese auch erregt werden und zur S.-Empfindung führen können.

Die Juckempfindung ist wahrscheinlich eine besondere Form der S.-Empfindung. Einige Juckreize führen bei stärkerer Intensität zur S.-Empfindung, und die Unterbrechung von Schmerzleitungen wird von dem Ausfall der Juckempfindung begleitet. Diese Empfindung lässt sich aber nur in der äußeren Epidermis hervorrufen; für ihre Auslösung ist wahrscheinlich die Freisetzung von Histamin verantwortlich.

Die Beurteilung, bei welchen Tieren ein Schmerzsinn entwickelt ist, fällt um so schwerer, je weiter ein Tier verwandtschaftlich vom Menschen entfernt ist. Bei Säugetieren ist schon aus den Verhaltensweisen, mit denen die Tiere auf Schmerzreize reagieren, ein Sinn für Schmerzempfindungen zu erkennen. Aber schon bei niederen Wirbeltieren ist ein Schmerzsinn nicht nachgewiesen. Bei Säugetieren sind bestimmte Teile des Gehirns für die Verarbeitung von Schmerzreizen verantwortlich. Für die schnelle Verarbeitung von entsprechender Information ist besonders der Thalamus wichtig. Über ihn erhält die Hirnrinde ihre Informationen, und über schnell leitende Nervenfasern werden unwillkürliche Reaktionen und Bewegungen ausgelöst. Niedere Wirbeltiere besitzen zwar Nervenendigungen und Nervenzellen, die durch schädigende Einwirkungen erregt werden, doch sind Thalamus und andere für die Schmerzverarbeitung wichtige Gehirnareale kaum oder nicht ausgebildet. Daraus kann zumindest geschlossen werden, dass diese Tiere für Verletzungen und starke Reize weniger empfindlich sind als Säugetiere. Wirbellose scheinen keinen Schmerzsinn zu besitzen. Käfer mit einem zerquetschten Bein benutzen dieses weiterhin genauso wie die gesunden. Heupferde nagen weiter an einem Halm, obwohl ihr Hinterleib bereits abgefressen ist. Andererseits reagieren Insekten auf Hitzeeinwirkung, elektrische Schocks oder chemische Substanzen mit Flucht, vermeiden also schädigende Einflüsse.

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Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
Dr. Barbara Dinkelaker
Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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