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Lexikon der Biologie: Deduktion und Induktion

ESSAY

Gerhard Vollmer

Deduktion und Induktion

Allgemeines

Deduktion und Induktion sind Schlußverfahren, die in allen Wissenschaften – und somit auch in der Biologie – eine wichtige Rolle spielen. Die Wortbildungen de-ductio (Wegführung) und in-ductio (Hinführung) legen dabei eine gewisse Symmetrie zwischen Deduktion und Induktion nahe. Tatsächlich wird vielfach behauptet, Deduktion führe vom Allgemeinen zum Besonderen, Induktion dagegen vom Besonderen zum Allgemeinen. Diese Auffassung ist auf jeden Fall zu eng. Während jedoch die Natur der deduktiven Schlüsse durch die Logik hinreichend geklärt ist, sind Existenz und Berechtigung induktiver Verfahren bis heute in der Wissenschaftstheorie umstritten.

Deduktion

Logik ist die Lehre von den gültigen Schlüssen. Schlüsse sind normierte Begründungen, die von einer oder mehreren Prämissen zu einer Konklusion führen. Ein Schluß ist gültig, wenn unter der Voraussetzung, daß alle Prämissen wahr sind, auch die Konklusion wahr ist. Manche Schlüsse lassen sich nur mit Hilfe von Sprach- oder Sachkenntnissen als gültig erkennen. Es gibt aber auch Schlüsse, die schon aufgrund ihrer logischen Struktur gültig sind. Solche Schlüsse ( vgl. Infobox ) heißen formal gültig, logisch korrekt, deduktiv zwingend oder einfach deduktiv.
Ist ein Schluß formal gültig, so sind auch alle strukturgleichen Schlüsse gültig. Bei deduktiven Schlüssen kommt es also nur auf die Form, nicht auf den Inhalt der Aussagen an. Deduktion ist dann ein Schlußverfahren, bei dem ausschließlich deduktive, d. h. formal gültige, Schlüsse verwendet werden.
Deduktion in der Wissenschaft. Es ist Aufgabe der Logik herauszufinden, welche Bestandteile die logische Struktur einer Aussage, eines Schlusses oder eines Beweises bestimmen. Es sind dies vor allem die aussagenlogischen Junktoren "nicht", "und", "oder", "wenn–so", "genau dann, wenn", die prädikatenlogischen Quantoren "für alle" und "es gibt" und die Folgerungsbeziehung "also". Wichtige deduktive Schlüsse sind der Modus ponens (Abtrennungsregel) und der Modus tollens (Kontraposition; vgl. Infobox ). Deduktive Schlüsse spielen in der Wissenschaft eine unverzichtbare Rolle. Der Modus ponens ermöglicht es, aus Annahmen (Hypothesen, Prinzipien, Theorien) Folgerungen zu ziehen, die dann in der Erfahrung geprüft werden. Der Modus tollens erlaubt es, Hypothesen (A) zu verwerfen, wenn ihre Konsequenzen (B) nicht mit der Erfahrung in Einklang stehen. Dagegen liefert die empirische Bestätigung von B noch keinen Beweis für A. Insbesondere kann keine Aussage über ein Einzelereignis ein allgemeines Gesetz beweisen. So kommt es, daß wir wissenschaftliche Hypothesen und Theorien zwar unter Umständen als falsch, niemals aber als wahr erweisen können. Diese Asymmetrie von Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit ist verantwortlich für den hypothetischen Charakter allen menschlichen Wissens, auch der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis.

Induktion

Deduktive Schlüsse sind wahrheitsbewahrend: Bei wahren Prämissen ist auch die Konklusion wahr. Sie führen jedoch niemals über den Gehalt der Prämissen hinaus. Es liegt deshalb nahe, nach gehaltserweiternden Schlußweisen zu suchen. Natürlich sollten auch sie nach Möglichkeit wahrheitsbewahrend sein. Solche wahrheitsbewahrenden Erweiterungsschlüsse könnte man dann tatsächlich induktive Schlüsse nennen. Sie sollten z. B. von endlich vielen Beobachtungen (der Vergangenheit) auf den nächsten Einzelfall (a), auf alle zukünftigen Fälle (b) oder auf alle Fälle (c) – vergangene und zukünftige, beobachtete und nicht beobachtete – führen.
Beispiele:
 Alle bisher beobachteten Schwäne sind weiß.
 (a) Also wird der nächste beobachtete Schwan ebenfalls weiß sein.
 (b) Also werden alle in Zukunft beobachteten Schwäne weiß sein.
 (c) Also sind alle Schwäne weiß.

Sie würden es erlauben, entweder neue Wahrheiten zu entdecken oder als wahr vermutete Aussagen zu rechtfertigen oder ihnen wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben. Solche "induktiv" gewonnenen oder gesicherten Aussagen könnten dann wieder deduktiv einer empirischen (Empirie) Überprüfung unterzogen werden. Seit Aristoteles glaubt man, daß die Erfahrungswissenschaften (Wissenschaftstheorie und Biologie) tatsächlich in einem derartigen Wechselspiel von Induktion und Deduktion ihre Erkenntnisse gewinnen. F. Bacon hat die Möglichkeit und die Notwendigkeit induktiver Verfahrensweisen so begeistert vertreten, daß die empirischen Wissenschaften bald als "induktive Wissenschaften" bezeichnet wurden. Im Anschluß an M. Hartmann sprechen auch viele Biologen von einer "exakten Induktion", durch die z. B. die Geltung der Galileischen Fallgesetze sichergestellt sei.

Gibt es wahrheitsbewahrende Erweiterungsschlüsse?
Zunächst einmal sollten uns mißlungene Verallgemeinerungen skeptisch stimmen: Nicht alle Schwäne sind weiß – in Australien lebt auch eine schwarze Schwanenart; die Sonne geht nicht jeden Tag auf und unter – nämlich nicht jenseits der Polarkreise.
Wie könnte man ein induktives Verfahren überhaupt rechtfertigen? Deduktive Mittel reichen dazu offenbar nicht aus. Vielleicht sind wir versucht, ein übergreifendes synthetisches Prinzip heranzuziehen, etwa ein Uniformitätsprinzip, das die Gleichförmigkeit der Natur garantiert; ein Kausalprinzip, wonach auf gleiche Ursachen notwendig gleiche Wirkungen folgen; ein Metagesetz, das auch die zukünftige Geltung bisher wirksamer Naturgesetze verbürgt. Wie aber ließe sich die Geltung eines solchen Prinzips erweisen? Offenbar geraten wir hier unweigerlich in einen Zirkel, in einen infiniten Regreß oder zu einem dogmatischen Abbruch des Verfahrens, also in die dreifache Sackgasse aller Letztbegründungsversuche.
Damit ist das Induktionsproblem – soweit es ein logisches Problem ist – gelöst: Induktive Verfahrensweisen lassen sich nicht rechtfertigen; wahrheitsbewahrende Erweiterungsschlüsse, z. B. "exakte Induktion", gibt es nicht. Zu dieser Einsicht kam bereits D. Hume, und K.R. Popper hat sie immer wieder betont und mit Mitteln der modernen Logik erhärtet.Induktive Wahrscheinlichkeit. Könnte man induktiv gewonnenen Aussagen statt Wahrheit oder Sicherheit wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit zuschreiben? Induktive Schlüsse wären dann zwar nicht wahrheitsbewahrend, würden aber – bei wahren Prämissen – doch zu Konklusionen von (möglichst) hoher Wahrscheinlichkeit führen.
Beispiele:
 Alle bisher beobachteten Schwäne sind weiß.
 Also ist es sehr wahrscheinlich, daß
 (a') der nächste beobachtete Schwan ebenfalls weiß sein wird;
 (b') alle in Zukunft beobachteten Schwäne weiß sein werden;
 (c') alle Schwäne weiß sind.

Aber auch dieser Vorschlag leistet nicht das Gewünschte. Es ist nicht gelungen, für Hypothesen ein annehmbares Wahrscheinlichkeitsmaß anzugeben; insbesondere haben Naturgesetze – verglichen mit den unendlich vielen Alternativgesetzen, die ebenfalls mit allen empirischen Daten verträglich wären – grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit Null. Ferner brauchen auch empirische Wahrscheinlichkeiten (Häufigkeiten) der Vergangenheit in der Zukunft nicht zu gelten. Und schließlich lassen sich Aussagen, die theoretische Begriffe enthalten, auf keine Weise induktiv gewinnen oder stützen. So scheitert auch der Versuch, induktive Verfahren probabilistisch zu deuten oder wahrscheinlichkeitstheoretisch zu rechtfertigen.

Weitere Aspekte des Induktionsproblems.
Neben der logischen hat das Induktionsproblem auch eine biologisch-psychologische und eine methodologisch-pragmatische Seite. Wie nämlich kommt es, daß wir in Alltag und Wissenschaft regelmäßig, ja fast zwangsläufig, von der Vergangenheit auf die Zukunft "schließen", also von Erfahrungen zu Erwartungen übergehen? Dieses unser Verhalten läßt sich zwar nicht logisch rechtfertigen, aber doch biologisch-psychologisch erklären. Eine solche Erklärung liefert die Evolutionäre Erkenntnistheorie (Erkenntnistheorie und Biologie): Bisher war die Natur vergleichsweise konstant. So hat sich die Erwartung, die Zukunft werde der Vergangenheit ähnlich sein, bisher bewährt; dadurch waren lernfähige Lebewesen anderen überlegen. Das erklärt, warum viele Organismen – z. B. über bedingte Reflexe oder über das kausale Denken – von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen und warum wir trotz aller Logik und Wissenschaftstheorie (Wissenschaftstheorie und Biologie) unsere Erwartungen weiterhin an den Erfahrungen der Vergangenheit ausrichten. Aber natürlich können diese Erwartungen auch scheitern. Das Aussterben zahlreicher Arten zeigt, wie sehr und wie folgenreich Konstanzerwartungen in die Irre führen können.
Trotzdem ist diese Konstanzerwartung nicht irrational. Für unsere ("induktiv" gewonnenen) Prognosen und Erwartungen gibt es zwar keine logische, wohl aber eine pragmatische Rechtfertigung. Welche Alternative hätten wir denn schon? Wir könnten natürlich annehmen, die Zukunft werde anders sein als die Vergangenheit. Da es jedoch zu allen Erfahrungen der Vergangenheit unendlich viele Alternativen gibt, wüßten wir damit immer noch nicht, was wir erwarten sollten. Wir wären dann völlig handlungsunfähig. Es bleibt uns deshalb gar kein anderer Weg, als die Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren.

Induktion in der Wissenschaft?
Das Vorgehen der Wissenschaft ist kein Wechselspiel von Deduktion und Induktion. Vielmehr folgen wir durchweg dem hypothetisch-deduktiven Verfahren, der Methode von Versuch und Irrtumsbeseitigung: Wir prägen probeweise neue Begriffe, formulieren kühne Hypothesen und versuchen, sie zu kritisieren, insbesondere an ihren (deduktiven!) Folgerungen zu überprüfen und, falls sie sich als falsch erweisen, zu verbessern. So hoffen wir, uns durch laufende Fehlerkorrektur allmählich der Wahrheit zu nähern. Natürlich kann niemand gehindert werden, das (kreative!) Formulieren neuer Hypothesen und die (deduktive!) Beseitigung erkannter Fehler nun doch "Induktion" zu nennen; er wird jedoch dadurch nur Verwirrung stiften.
Diese (Auf-)Lösung des Induktionsproblems führt allerdings zu Folge-Problemen, die W. Stegmüller sorgfältig herausgearbeitet hat: Wann kann ein vermutetes Naturgesetz als "gut bestätigt", als "ausreichend gestützt", als "bewährt" angesehen werden? Und wie lauten bei Unkenntnis der Zukunft die Normen für rationales Verhalten? Diese Probleme sind bisher nicht befriedigend gelöst. Biophilosophie, deduktive Methodik, induktive Methodik.

Lit.: Hempel, C.G.: Philosophie der Naturwissenschaften. München 1974. Popper, K.R.: Objektive Erkenntnis. Teil I. Hamburg 41984. Stegmüller, W.: Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten. Darmstadt 1975.

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