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Lexikon der Biologie: Genetik

Genetikw [von griech. genetē = Geburt], Erbbiologie, Erblehre, Vererbungslehre, als Teilgebiet der allgemeinen Biologie die Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten und materiellen Grundlagen der Ausbildung von genetisch bedingten Merkmalen und der Übertragung der Erbanlagen von den Eltern auf die Nachkommen sowie möglicher Variationserscheinungen (Variation). Zur klassischen Genetik sind neben cytologischen Untersuchungen der Chromosomen (Farbtafel) als Träger der Erbanlagen, ihrem Verhalten bei der Kern- und Zellteilung (Cytokinese) und ihren Anomalien (Cytogenetik) die Erforschung der formalen Gesetzmäßigkeiten der Erbgänge (Erbgang) von Merkmalen vor allem bei Höheren Organismen (formale Genetik) sowie die Ermittlung der Häufigkeit, Verbreitung und Veränderung von Erbanlagen in Populationen(Populationsgenetik) zu rechnen. Begründet wurde die klassische Genetik um 1865 von G. Mendel, der bei Kreuzungsexperimenten (Kreuzung) mit Erbsenpflanzen (Erbse) die Regeln der Vererbung herausfand (Mendelsche Regeln, Farbtafel). Mendel untersuchte mit Hilfe der Kombinationsstatistik das Auftreten der vorher definierten Merkmale im Erbgang, ohne jedoch eine Theorie der Erbanlagen zu entwickeln. Seine Versuchsergebnisse und die daraus resultierenden Erkenntnisse wurden in ihrer Wichtigkeit erst nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln durch C.E. Correns, E. von Tschermak und H. de Vries um 1900 erkannt. Durch die von A.F.L. Weismann 1885 gewonnenen Einsichten über die Bedeutung der Chromosomen (von ihm noch als „Idanten“ bezeichnet) und der Notwendigkeit einer Reduktionsteilung (Meiose, Farbtafel) vor der Befruchtung sowie durch die genauen Beobachtungen der Vorgänge bei der Mitose (Kernteilung) von W. Flemming und W. Roux (1882/83) wurden die Zusammenhänge der Vererbung deutlicher. So konnte letztlich 1902–1904 mittels der Chromosomentheorie der Vererbung von W.S. Sutton und T. Boveri ein kausales Verständnis der bereits 40 Jahre vorher eruierten Gesetzmäßigkeiten erlangt werden. H. de Vries und T.H. Morgan brachten mittels Untersuchungen bezüglich der möglichen Variationen bei der Übertragung von Genen ab 1901 mehr Licht in das Phänomen der Mutation. 1905 schlug W. Bateson den Begriff Genetik vor, womit die Erforschung von Vererbung und Variation einen eigenen Namen bekam. W.L. Johannsen betitelte 4 Jahre später die Erbanlagen als Gene (Gen) und charakterisierte darauffolgend den Genotypus (Genotyp; die Summe der Gene) als ursächlich für die Ausprägung des Phänotypus (Phänotyp; die Summe der über Gene bestimmten Merkmale). Im Jahre 1926 eröffnete H.J. Muller mit seinen Röntgenstrahlen-Versuchen (Röntgenstrahlen) zur Induktion von Mutationen an der Taufliege Drosophila melanogaster den wissenschaftlichen Zweig der Strahlengenetik. Einen gewichtigen Meilenstein der Vererbungslehre setzte O.T. Avery, als er 1944 erkannte, daß die Desoxyribonucleinsäure (DNS, DNA) die genetische Substanz darstellt, aus der die Gene aufgebaut sind. Die Struktur der DNA konnte schließlich 1953 von J.D. Watson und F.H.C. Crick als Doppelhelix beschrieben werden ( ä Desoxyribonucleinsäuren III ). Durch die Entdeckung der wichtigen Rolle der DNA wurde der damalige Wissensstand über die Genetik rapide erweitert und die Entschlüsselung des genetischen Codes 1961/62 von M.W. Nirenberg, H. Matthaei, H.G. Khorana und S. Ochoa erst möglich gemacht. – Die in den 1940er Jahren begründete molekulare Genetik (biochemische Genetik) behandelt die grundlegenden Phänomene der Vererbung auf der Ebene von (Makro-)Molekülen (DNA), die Träger der genetischen Information sind. Forschungsschwerpunkte waren bzw. sind die Untersuchung der molekularen Mechanismen von Replikation, Rekombination und Expression (Transkription, Translation, Genexpression). Weiterhin stehen hier die Feinstrukturanalyse von Genen, die Sequenzanalyse von DNA, RNA (Ribonucleinsäuren) und Proteinen sowie die Veränderung von DNA-Sequenzen durch Mutation im experimentellen Vordergrund. Anfänglich beschäftigte sich die molekulare Genetik vorrangig mit parasexuellen Vorgängen (Parasexualität) der Viren und Bakterien(Bakteriengenetik). Erst später in den 1970er Jahren nahmen die Forschungen bezüglich der Eukaryoten stark zu; dies gilt insbesondere für die Humangenetik. (Eine empirische humangenetische Forschung begann bereits mit der Arbeit von F. Galton am Ende des 19. Jahrhunderts. Auch prägte dieser den Begriff Eugenik (Erbhygiene) – eine „pseudowissenschaftliche“ Forschungsrichtung und ein gesellschaftspolitisch motiviertes Programm, mit denen Möglichkeiten zur „Verbesserung des menschlichen Erbguts“ gesucht wurden und die im Dritten Reich zu trauriger Popularität gelangten, aber sich auch in der Sowjetunion auf die Entwicklung der Biologie verhängnisvoll auswirken sollten [ vgl. Infobox ].) – Zur Jahrtausendwende (2000/2001) gelang es, das menschliche Genom fast vollständig zu sequenzieren (Genomprojekt), wodurch ein beschleunigter Fortschritt im Bereich der Heilung von Erbkrankheiten (wie Sichelzellenanämie, Galactosämie oder Phenylketonurie; Gentherapie) und Krebs sowie in der Entwicklung neuartiger, genbasierter Medikamente erhofft wird. Durch diesen Erkenntnis- und Methodenfortschritt besonders auf dem Gebiet der molekularen Genetik ist in zunehmendem Maße auch die gezielte Manipulation von Genen möglich geworden, wodurch die Anwendung der Genetik immer mehr mit ethischen Problemen konfrontiert wird (Bioethik, Gentechnologie). – Die Vielfältigkeit der angewandten Genetik entspricht den obengenannten Inhalten der klassischen und molekularen Genetik. Genannt seien hier die Züchtung von wirtschaftlich ertragreicheren Pflanzen (Pflanzenzüchtung) und Tieren (Tierzüchtung) nach den klassischen Methoden der Auslesezüchtung, die Erzeugung transgener Organismen (transgene Pflanzen, transgene Tiere), die Erbdiagnose (Gentest), die genetische Beratung, der genetische Fingerabdruck (DNA-fingerprinting, forensische Gentechnik). – Daten zur Entwicklung der Genetik: vgl. Tab.Biologie (Tab.), Biochemie (Geschichte der), Biophysik, Cytologie (Tab.), Entwicklungsbiologie (Geschichte der), Erbkrankheiten (Tab.), Evolution, Genomik, Immungenetik, reverse Genetik, Somazell-Genetik, Verhaltensgenetik.

G.St./B.Ew./S.Gä./U.K.

Lit.:Bresch, C., Hausmann, R.: Klassische und Molekulare Genetik. Berlin, Heidelberg, New York 31972. Brewbaker, J.L.: Angewandte Genetik. Stuttgart 1967. Brown, T.A.: Moderne Genetik. Eine Einführung. Heidelberg 1993. Cook, L.M., Jain, S.: Genetic and ecological diversity. London 1996. Günther, E.: Grundriß der Genetik. Stuttgart 31978. Hagemann, R.: Allgemeine Genetik. Heidelberg 42000. Hennig, W.: Genetik. Berlin 1995. Heß, D.: Biochemische Genetik. Berlin, Heidelberg, New York 1968. Joset, F., Guespin-Michel, J.: Prokaryotic genetics. London 1993. Jungermann, K., Möhler, H.: Biochemie. Berlin, Heidelberg, New York 1980. Kaudewitz, F.: Molekular- und Mikroben-Genetik. Berlin, Heidelberg, New York 1973. Knippers, R.: Molekulare Genetik. Stuttgart 31982. Kollmann, A.: Biologie, Einführung in die Genetik. Frankfurt a.M. 1979. Kull, U., Knodel, H.: Genetik und Molekularbiologie. Stuttgart 21980. Leibenguth, F.: Züchtungsgenetik. Stuttgart 1982. Lenz, W.: Medizinische Genetik. Stuttgart 51981. Lewin, B.: Molekularbiologie der Gene. Heidelberg – Berlin 61998. Murken, J., Cleve, H. (Hrsg.): Humangenetik. Stuttgart 1988. Rieger, R., Michaelis, A., Green, M.: Glossar of genetics – classical and molecular. Berlin 1991. Seyffert, W. (Hrsg.): Lehrbuch der Genetik. Stuttgart 1998. Singer, M., Berg, P.: Gene und Genome. Heidelberg 1992. Smith, M.: Evolutionsgenetik. Stuttgart 1992. Suzuki, D.T., Griffiths, A.J.F., Miller, J.H., Lewontin, R.C.: Genetik. Weinheim 1991. Vogel, G., Angermann, H.: Taschenatlas der Biologie, Band 3; Genetik und Evolution, Systematik. München 1990.

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