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Lexikon der Chemie: Biochemie

Biochemie, die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der molekularen Grundlagen des Lebens befaßt. Unter Nutzung chem., physikalischer und mathematischer Verfahren untersucht die B. den Aufbau, die Funktion und das Zusammenwirken der spezifischen, in der belebten Materie vorkommenden Biomoleküle sowie deren Zusammenwirken für die Aufrechterhaltung des lebenden Zustandes. Die Besonderheit biochem. Vorgänge besteht darin, daß lebende Organismen durch Komplexität und einen hohen Ordnungszustand gekennzeichnet sind und zur exakten Selbstreplikation befähigt sind. Da alle biologischen Phänomene molekular determiniert sind, spielt die B. eine wichtige Rolle beim Erkennen von Naturgesetzen sowie für die praktische Nutzung dieser Erkenntnisse. Lebende Organismen sind aus thermodynamischer Sicht "offene Systeme", die mit der Umgebung Materie und Energie austauschen. Sie befinden sich in einem Fließgleichgewicht (engl. "steady state"), d. h., die Geschwindigkeit des Zustroms von Materie und Energie ist gleich der Geschwindigkeit des Austritts aus dem System. Es bilden sich stationäre Fließgleichgewichtskonzentrationen aus, die nicht den Gleichgewichtskonzentrationen im thermodynamischen Sinne entsprechen. Jede lebende Zelle ist praktisch eine isotherme chem. Maschine, die der Umgebung Energie entzieht und diese in chem. Energie in Form von Adenosintriphosphat (ATP) umwandelt. Die so gespeicherte Energie wird für Biosynthesen von Zellbestandteilen, für den aktiven Transport von Zellkomponenten, für osmotische und mechanische Arbeit (Kontraktion und Fortbewegung) genutzt. Sämtliche chem. Reaktionen in lebenden Zellen werden durch Enzyme katalysiert. Die vielen enzymkatalysierten Reaktionen verlaufen nicht unabhängig voneinander, sondern sind in Form von Reaktionssequenzen oder Stoffwechselbahnen (engl. "pathways") – mit bis zu 20 und mehr Reaktionsschritten – miteinander verknüpft. Die der Energiegewinnung dienenden Stoffwechselbahnen, z. B. der Abbau von Glucose zu Pyruvat oder Lactat (Glycolyse) oder der Abbau der Fettsäuren durch β-Oxidation zu Acetyl-Coenzym A, werden katabolische Bahnen genannt, im Gegensatz zu anabolischen Bahnen, die Biosyntheseaufgaben erfüllen (Glucoseneusynthese, Fettsäurebiosynthese u. a.). Daneben gibt es noch amphibolische Bahnen, die sowohl anabolische als auch katabolische Funktionen erfüllen, und anaplerotische Sequenzen, die essentielle Zwischenprodukte nachliefern, wenn diese in andere Stoffwechselbahnen geflossen sind. Ringförmig angeordnete Stoffwechselbahnen werden als biochem. Kreisprozesse (Cyclen) bezeichnet, z. B. der Citronensäurecyclus (Tricarbonsäurecyclus) oder der Glyoxylatcyclus. Insgesamt ermöglichen die zu einem komplizierten Netzwerk verknüpften Stoffwechselbahnen eine Kanalisation von Stoffwechselströmen in bestimmte Richtungen mit der Übertragung von chem. Energie von energieliefernden Abbauprozessen zu energieverbrauchenden Syntheseprozessen. Eine solche Reaktionskopplung mit Netzwerkcharakter ermöglicht eine sinnvolle Stoffwechselregulation. Die Selbstregulation zellulärer Reaktionen ist ein Ausdruck maximaler Effektivität und molekularer Ökonomie, die durch die verschiedenen Kontrollmechanismen, z. B. Rückkopplungshemmung und Anpassung der Enzymbiosynthese an die metabolische Situation, verwirklicht wird. Dieses komplizierte Netz von Regel- und Kontrollmechanismen gehorcht unterschiedlichen Prinzipien und vollzieht sich auf unterschiedlichen Niveaus. Während einzellige Lebewesen ihre Anpassung auf dem Niveau des Zellstoffwechsels vollziehen, kommen bei höher entwickelten Organismen hormonale und nervale Steuerungen hinzu, die einen Zellverband erst zu einem Organ machen und die Wechselbeziehungen zwischen den Organen ermöglichen. Schließlich ist auch die Fähigkeit lebender Organismen, sich selbst mit hoher Genauigkeit zu reproduzieren, molekular determiniert. Als Ergebnis der strukturellen Komplementarität wird in den lebenden Zellen die genetische Information erhalten. Die in der DNA eindimensional verschlüsselte genetische Information wird schließlich durch die Proteinbiosynthese (Translation) in die dreidimensionale Struktur makromolekularer und supramolekularer Bausteine der lebenden Organismen übersetzt. Zellwechselwirkungen in Geweben und Organen, Muskelkontraktion, Nervenfunktion von der einfachen Kommunikation zwischen Zellen bis zur Integration (Gedächtnis, Verhalten, Denken) runden die Zielstellungen biochem. Forschung ab.

Die Vielfalt der biologischen Objekte und Objekttypen hat zwangsläufig zu verschiedenen Arbeitsrichtungen innerhalb der B. geführt. Trotz dieser Differenziertheit bildet die B. aufgrund der gemeinsamen Betrachtungsweise des biologischen Objektes und des eingesetzten Methodenspektrums eine Einheit. Darüber hinaus ist ein großer Teil der Biomoleküle in allen Lebewesen einheitlich, und auch viele Prozesse des Stoffwechsels, insbesondere der gesamte Grundstoffwechsel, sind in allen Lebewesen weitgehend übereinstimmend. Trotz der Vielfalt lebender Organismen, die mit über 1,5 Mill. Arten angegeben wird und sich in ihrer Kompliziertheit vom Darmbakterium Escherichia coli bis zum Menschen erstreckt, heben sich die Grenzen der Organismenreiche dann auf, wenn man die Phänomene des lebenden Zustandes auf die molekulare Ebene projiziert.

Allgemein wird die B. in deskriptive, funktionelle und angewandte B. unterteilt.

Die deskriptive B. ist weitgehend mit der Naturstoffchemie identisch und befaßt sich mit der Chemie der Biomoleküle.

Von der funktionellen B. werden die biologischen Funktionen als chem. oder auch physikochem. Prozesse in allgemeiner Form oder auch speziell für bestimmte Organismen untersucht. Hierzu zählen z. B. die Zellbiochemie, die sich mit dem Zwischen- oder Intermediärstoffwechsel beschäftigt, die Enzymologie als Wissenschaftszweig der biologischen Katalyse und die Molekularbiologie, die sich weitgehend mit der Biosynthese der informationstragenden Biopolymeren, den Nucleinsäuren und Proteinen, befaßt. Organismenspezifische Richtungen sind die B. der Mikroorganismen, die B. der Pflanzen sowie die B. der Tiere und die B. des Menschen (physiologische Chemie oder chem. Physiologie im engeren Sinne). Alle diese Spezialgebiete haben enge Beziehungen zu übergeordneten Wissenschaftsgebieten: z. B. die B. der Mikroorganismen zur Mikrobiologie, die B. der Pflanzen zur Pflanzenphysiologie und die B. der Tiere und des Menschen zur Tier- bzw. Humanphysiologie.

In der angewandten B. unterscheidet man verschiedene Spezialdisziplinen, die in enger Beziehung zur Landwirtschaft, Medizin und Industrie stehen. Im Bereich der Landwirtschaft haben sich die Agrobiochemie und die B. der Nutztiere entwickelt. Während die Agrobiochemie enge Bindungen zur Agrochemie, Bodenmikrobiologie, Phytopathologie und Entomologie aufweist, ist die B. der Nutztiere z. B. von Bedeutung für die Beeinflussung der Stoffwechsel- und Fortpflanzungsvorgänge bei Hochleistungstieren. Innerhalb der Humanmedizin hat sich die B. schon frühzeitig entwickelt. Schon seit geraumer Zeit existiert eine klinische B. (Pathobiochemie), die krankhafte Veränderungen biochem. Abläufe und Strukturen im menschlichen Organismus erforscht, und noch länger eine klinisch-chem. Laboratoriumsdiagnostik, die krankhafte Veränderungen der Zusammensetzungen von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungsprodukten mittels chem. Methoden erfaßt und dadurch die diagnostische Arbeit des Arztes nachdrücklich unterstützt. Schließlich hat sich in der Industrie eine industrielle oder technische B. (Verfahrensbiochemie, biochem. Verfahrenstechnik, Bioverfahrenstechnik) entwickelt, die biochem. Prinzipien für Produktionsprozesse nutzt. In enger Beziehung mit der technischen Mikrobiologie hat sich die Biotechnologie als eine wichtige Produktivkraft entwickelt, die gezielte Stoffwandlungen und Synthesen auf biochem. Basis ermöglicht. Die Gärungsindustrie hat bereits eine lange Produktionstradition und liefert Produkte wie Ethanol, Isopropanol, Butanol, Glycerin, Aceton und organische Säuren (Citronensäure, Milchsäure). Auch essentielle Aminosäuren und bestimmte Enzyme für die Nahrungsgüterwirtschaft, die pharmazeutische Industrie und die Waschmittelindustrie werden im großen Maßstab produziert.

Die technische Anwendung von Mikroorganismen, von Zell- und Gewebekulturen, aber auch von Enzymen unterschiedlicher Spezifität für Stoffwandlungsprozesse zeigt die Richtung der weiteren Entwicklung an.

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