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Lexikon der Chemie: kombinatorische Chemie

kombinatorische Chemie, kombinatorische Synthese niedermolekularer organischer Verbindungen für den Aufbau von Verbindungsbibliotheken zum Zwecke der Leitstruktursuche und -optimierung für Pharmaka, Komplexbildner, Supraleiter, Farbstoffe, neue Katalysatoren und andere interessierende Zielprodukte.

Prinzip. Während die traditionelle organische Chemie eine Substanz nach der anderen synthetisiert, gelingt es mit der k. C., viele Substanzen mit definierter Struktur gleichzeitig herzustellen. Dabei steht nicht mehr eine definierte Zielstruktur im Blickfeld, sondern eine Gruppe von Verbindungen, d. h. es werden anstelle der Bildung eines Produktes AB aus zwei Edukten A und B strukturchemisch differierende Edukte vom Typ A (A1-Ax) mit solchen vom Typ B (B1-Bx) nach den Prinzipien der Kombinatorik umgesetzt, wobei jeder Baustein vom Typ A mit jedem vom Typ B reagiert. Die Durchführung gelingt sowohl parallel, in separaten Behältnissen bzw. Kompartimenten, als auch simultan in einer Mischung. Ist z. B. x = 10, so resultieren 100 Produkte, während bei entsprechender Erweiterung auf mehrstufige Synthesen, bei denen in jeder Reaktion alle möglichen Kombinationen erzeugt werden, eine große Palette von Produkten entsteht, die man als Produktmatrix oder Produktbibliotheken bezeichnete. Eine dreistufige Synthese mit je x = 10 Edukten der Typen A, B, C und D liefert schon 10000 Produkte. In Abhängigkeit von der Herstellung unterscheidet man bei kombinatorisch hergestellten Verbindungsbibliotheken solche, die aus Einzelsubstanzen bestehen, oder definiert zusammengesetzte Mischungen bilden. Die Bibliotheksgröße wird in mehrstufigen kombinatorischen Synthesen linear durch die Zahl der eingesetzten Edukte und exponentiell durch die Zahl der Reaktionsschritte determiniert. Das in der k. C. praktizierte Konzept wird praktisch in der Natur in der Weise verifiziert, daß aus einer erzeugten Vielfalt ähnlicher Strukturen anschließend eine Selektion erfolgt.

Vorgehensweise. Die Suche nach einem Wirkstoff beginnt in der Regel mit einer Leitstruktur. Zur Leitstruktursuche bedient man sich durchsatzstarker in-vitro-Primärtests. In der medizinischen Chemie werden solchen Testsystemen (Assays) dem jeweiligen Krankheitsbild zugrundeliegende Schlüsselmechanismen zugeordnet, wofür als molekulare Sonden Rezeptoren oder Enzyme dienen. In relativ kurzer Zeit können dabei 100000 und mehr Testsubstanzen geprüft werden. Die bei einer Trefferquote unter 1 % resultierenden Primärbefunde (Hits) werden chemisch und biologisch einer Evaluierung unterworfen. Die sich dabei weiter drastisch reduzierende Anzahl positiver Kandidaten wird dann der Leitstrukturoptimierung zugeführt. Nicht die Quantität, sondern vielmehr die strukturelle Diversität (Verschiedenartigkeit) und Qualität stehen im Blickpunkt dieser weiteren Optimierung. Im Idealfall sollte eine möglichst effiziente Stammverbindung zur Steigerung der Wirkspezifität und Wirkhöhe systematisch modifiziert werden, die über Struktur-Wirkungs-Beziehungen zu Kandidaten für toxikologische und klinische Untersuchungen und schließlich zu einem Arzneistoff führen. Die medizinische Chemie benötigt dafür in der Regel acht- bis zehntausend synthetische Verbindungen mit der notwendigen Charakterisierung und Testung, wobei sich Kosten von etwa 8000 Mark pro Testsubstanz ergeben. Wegen der unbefriedigenden Trefferquote bildet die k. C. eine pragmatische Alternative für die parallele Generierung einer großen Zahl von Molekülen unterschiedlicher Strukturen mit weniger Synthesestufen. Will man z. B. drei Aminosäuren zu den möglichen 27 Tripeptiden kombinieren, so läßt sich die kombinatorische Synthese auf neun separate Schritte reduzieren, wobei sich die drei wiederholenden Arbeitsgänge (Mischen, Synthetisieren und Separieren) leicht automatisieren lassen. Im Gegensatz dazu werden für die lineare Synthese 81 Synthesestufen benötigt. Die k. C. hat sich in den 80er Jahren in der Peptidchemie entwickelt. Durch die multiple Peptidsynthese gelang der Aufbau von Peptidbibliotheken und unter Anwendung spezifischer Synthesetechniken und auch die Darstellung von Polynucleotidbibliotheken. Der Vorteil der Wirkstoffindung mit der kombinatorischen Synthese liegt darin, daß ohne Kenntnis der Identität der individuellen Substanzen einer Bibliothek durch die Entwicklung eines mechanismusorientierten Hochdurchsatz-Screenings (engl. high-throughput-screening), basierend auf spezifischen Rezeptoren, Ionenkanälen oder Enzymen, die im Substanzpool enthaltene aktivste Verbindung angezeigt wird. Entsprechend automatisierte Testsysteme ermöglichen das Screening von Tausenden von Substanzen pro Tag, wobei sogar mit sehr geringen Substanzmengen die in-vitro-Aktivität zuverlässig bestimmt werden kann.

Identifizierung. Das Herausfinden der Hits erfordert intelligente Ansätze einer indirekten Strukturzuordnung, wofür sowohl für trägergebundene als auch für lösliche Screeningsubstanzen Identifizierungsverfahren entwickelt wurden. Bei durch Parallelsynthesen hergestellten Bibliotheken aus Einzelverbindungen ist das Auffinden der Struktur aktiver Verbindungen nicht problematisch, da der Syntheseort mit der aufzubauenden Struktur verknüpft ist. Beispiele hierfür sind photolithographische Synthesen auf funktionalisierten Glasoberflächen oder die Synthese von Benzodiazepinderivaten an einer Polyethylen-Pinmatrix. Bei Testung von Bibliotheken in trägergebundener Form, wird die aktive, trägergebundene Substanz aussortiert, und nach der Ablösung vom Träger läßt sich massenspektrometrisch in der Regel die Struktur einengen oder direkt bestimmen. Für eine nachträgliche Identifizierung wurden auch verschiedene Reportersysteme beschrieben, die eine Strukturaufklärung über Codemoleküle ermöglichen. Damit ist es möglich, die chemischen Syntheseschritte auf jeder Stufe zurückzuverfolgen, wodurch deduktiv auf die Struktur des Hits geschlossen werden kann. Codierungssysteme sind beispielsweise oligomere Peptid- oder Nucleotidsequenzen, die parallel zum Aufbau der Substanzbibliothek synthetisiert werden. Die Codeidentifizierung erfolgt durch Sequenzierungstechniken, die im Falle der Nucleotidsequenzen je nach den Erfordernissen auch nach Amplifikation durch PCR (Polymerase-Kettenreaktion) vorgenommen werden. Für einen binären, nichtsequentiellen Code können auch Halogenaromaten eingesetzt werden, die man jeweils vor der Anknüpfung der einzelnen Synthesebausteine in geringen Konzentrationen mit dem Träger verknüpft; zur Codeentzifferung werden sie oxidativ abgespalten, silyliert und gaschromatographisch bestimmt. Man kann aber auch eine Matrixcodierung mit Fluorophoren vornehmen, wodurch sich eine Sortierung mit einem Zellsortierer vornehmen läßt. Bei nichtchemischen Codes erfolgt die Aufzeichnung der entsprechenden Syntheseschritte beispielsweise in einem Speicherchip, der durch Hochfrequenz-Signale beschrieben und dechiffriert werden kann.

Anwendung. Die Anwendung der kombinatorischen Synthese für den Aufbau von Peptid- und Polynucleotidbibliotheken ermöglicht eine Generierung vieler neuer Strukturen und Ansätze, ist aber mit einigen Nachteilen derartiger biopolymerer Strukturen für die Arzneistoffentwicklung belastet. Peptide unterliegen leicht einem proteolytischen Abbau, besitzen geringe Bioverfügbarkeit und aufgrund der repetitiven Monomereinheiten ist die Diversität doch eingeschränkt. Da auch die Übersetzung einer Peptidleitstruktur in ein nichtpeptidartiges Pharmakon nicht einfach zu realisieren ist, hat sich der Trend von den Peptiden weg zu nichtrepetitiven niedermolekularen organischen Substanzbibliotheken entwickelt. Die Abwandlung der Peptid- oder Nucleinsäuregrundstruktur führte beispielsweise zu Peptoiden und Peptidnucleinsäuren.

Voraussetzungen. Die Durchführung der Synthesen in der k. C. ist an bestimmte Voraussetzungen und eine exakte Planung geknüpft. So muß das Targetmolekül nacheinander aus Einzelbausteinen unter möglichst vielfältigen Bindungsknüpfungen aufgebaut werden, wobei jede neue Verknüpfung über C-C- oder C-Heteroatom-Bindungen strukturunabhängig mit hoher Ausbeute und Selektivität gewährleistet sein muß. Man benötigt Bausteine mit einer großen Strukturvielfalt. Die Diversität der Zielmoleküle muß sich in möglichst vielen räumlichen Anordnungen der Gruppierungen, die mit dem biologischen Zielmolekül interagieren, widerspiegeln. Eine entscheidende Voraussetzung für eine kombinatorische Synthese ist eine möglichst durchgängige Automatisierbarkeit. Die Entscheidung für das Format einer Substanzbibliothek aus Einzelverbindungen oder Substanzmischungen ist sowohl für die Synthese als auch für das biologische Screening von Bedeutung. Ohne Zweifel lassen sich mit Mischungen in kürzerer Zeit viel mehr Verbindungen synthetisieren und testen. Problematisch ist, ob in solchen Mischungen alle Substanzen in annähernd äquimolaren Mengen vorliegen. Der zeitliche Vorteil bei der Synthese von Mischungen ist dann nicht mehr gegeben, wenn die Dekonvolution (Entfaltung) einer Substanzbibliothek eine Synthese von Subbibliotheken geringerer Komplexität oder sogar von Einzelverbindungen erfordert. Bibliotheken mit mehr als 10000 Verbindungen lassen sich effizient nur als Mischungen herstellen, während Bibliotheken von Einzelsubstanzen in der Regel weniger als 1000 Verbindungen enthalten. In jedem Fall bestimmt die konkrete Problemstellung, welches Format einer Bibliothek Berücksichtigung finden soll.

Probleme. Kombinatorische Synthesen können sowohl in Lösung als auch an fester Phase durchgeführt werden. Während in der Peptid- und Oligonucleotidchemie eindeutig die Festphasensynthese dominiert, ist die wünschenswerte Anwendung auf niedermolekulare organische Verbindungen noch nicht so weit entwickelt. Die Vorteile der Synthese an fester Phase entsprechen der von Merrifield entwickelten Festphasen-Peptidsynthese. Für die kombinatorische Synthese niedermolekularer organischer Verbindungen ist trotz der bisher beschriebenen Verfahren nach wie vor ein hoher Entwicklungsaufwand erforderlich. Nicht in allen Fällen ist es vorteilhaft, die bei Festphasensynthesen anfallenden Produkte auch trägergebunden zu testen. So können unerwünschte Interaktionen mit dem Träger Testergebnisse beeinflussen oder verfälschen. In Lösung ist die kombinatorische Synthese für alle organischen Reaktionen nutzbar. Die Anpassung an die für Synthesen an fester Phase erforderlichen Reaktionsbedingungen entfällt ebenso wie dabei notwendigen Schritte zur Anknüpfung und Abspaltung an die polymere Matrix. Von Nachteil ist die schwierige Automatisierung der Aufarbeitungs- und Reinigungsschritte.

Ausblick. Die k. C. hat mit dem neuen Synthesepotential die moderne Wirkstoffsuche entscheidend befruchtet. Das aus der Peptidchemie entwickelte Konzept ist auf dem besten Wege, sich zu einem erfolgreichen Standardwerkzeug der Wirkstoffchemie zu entwickeln. Die kombinatorische Synthese niedermolekularer organischer Verbindungen hat zwangsläufig noch nicht die Perfektion der Peptidsynthese erreicht. Um Bibliotheken hohen Anspruchs aufbauen zu können, besitzt eine intelligente, durch Molecular Modelling unterstützte Auswahl der Bausteine eine eminente Bedeutung. Die Perspektiven der k. C. werden sich nicht in der Wirkstoffsuche und Pharmakaentwicklung erschöpfen. Vielmehr wird jegliche Suche und Optimierung von Verbindungen mit neuen Eigenschaften, wie z. B. Katalysatoren, Farbstoffe, Supraleiter, Komplexbildner, Liganden nach den Prinzipien der k. C. erfolgen. Trotz aller Vorzüge wird die kombinatorische Synthese die konventionelle Synthese organischer Verbindungen nicht substituieren, sondern lediglich ergänzen.

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