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Lexikon der Chemie: Kristallchemie

Kristallchemie, chemische Kristallographie, die Lehre vom Zusammenhang zwischen der chem. Zusammensetzung, dem strukturellen Aufbau und den Eigenschaften kristalliner Stoffe. Die K. ist ein Teilgebiet der modernen Kristallographie und steht in enger Beziehung zur Chemie und Physik. Das Fundament der modernen K. bilden gesicherte Kenntnisse über die geometrische Anordnung der Atome im Kristall und die zwischen ihnen bestehende Wechselwirkung. Mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse kann der strukturelle Aufbau der kristallinen Materie heute experimentell mit großer Genauigkeit bestimmt werden. Gesicherte Aussagen über die den Zusammenhalt des Kristallgitters bewirkenden Gitterkräfte liefert die Theorie der chem. Bindung.

Als Kristallbausteine können Atome, Ionen oder Moleküle auftreten. Die vier verschiedenen Arten von Gitterkräften – Atombindung, Ionenbindung und metallische Bindung sowie zwischenmolekulare Wechselwirkungen (van-der-Waalssche Kräfte) – verleihen den Kristallen, in denen sie auftreten, charakteristische Eigenschaften und liefern deshalb eine geeignete Grundlage zur Klassifikation von Kristallsubstanzen. Danach unterscheidet man zwischen Ionen-, Metall-, kovalenten und Molekülkristallen (Gittertyp). Diese Abgrenzung ist jedoch nicht immer scharf und eindeutig, da die genannten Gitterkräfte den Grenztypen der chem. Bindung entsprechen, die realen Verhältnisse aber meist als Kombinationen dieser idealisierten Typen betrachtet werden müssen und dadurch in fast allen Kristallen kompliziertere Bindungsverhältnisse vorliegen. So nimmt z. B. in der Reihe der Alkalihalogenide der Ionencharakter mit fallender Ordnungszahl des Alkalimetalls und mit steigender Ordnungszahl des Halogens zugunsten eines kovalenten Bindungsanteils ab. Die kovalente Si-O-Bindung in Silicaten bzw. P-O-Bindung in Phosphaten weist einen beträchtlichen Ionencharakter auf. In elementarem Bismut liegt ein Übergangstyp zwischen metallischer und kovalenter Bindung vor.

Die moderne K. hat für viele klassische Vorstellungen und Begriffe, z. B. der Polymorphie, der Isomorphie, der Diadochie und der Isotypie, die ursprünglich rein morphologisch begründet und abgeleitet wurden, die strukturchemische Erklärung geliefert. Vor allem aber hat sie sich von einer anfänglich rein beschreibenden Wissenschaft durch das Auffinden allgemeiner Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten zu einer Disziplin entwickelt, die es gestattet, die strukturelle Vielfalt der kristallinen Stoffe zu systematisieren und die Korrelation zwischen der Struktur einerseits und den chem. und physikalischen Eigenschaften andererseits zu erkennen und für die praktische Anwendung zu nutzen.

In vielen Fällen hat es sich bewährt, in Kristallstrukturen die Atome und Ionen als starre Kugeln aufzufassen und ihnen aus den experimentell ermittelten Partikelabständen abgeleitete Atom- und Ionenradien zuzuordnen. Darauf basiert die Anwendung des Modells der dichten Kugelpackung für die Interpretation der Strukturen der meisten Metalle. Auf ähnliche Weise ist eine anschauliche strukturelle Beschreibung vieler aus Atom-Ionen aufgebauter Ionenkristalle möglich. Für die auftretenden Koordinationszahlen und -geometrien sind hier die stöchiometrische Zusammensetzung der Verbindungen und die Größenverhältnisse der Ionen die strukturbestimmenden Faktoren. Für Ionensubstanzen mit mehratomigen Ionen, wie z. B. CO32-, SO42-, BF4- oder SiF62-, ist bewiesen, daß diese Ionen als komplexe Baueinheiten in unterschiedlichen Verbindungen die gleiche Struktur besitzen. Für die Verknüpfung von Koordinationspolyedern zu Ring-, Ketten- und Schichtstrukturen und schließlich zu räumlich verknüpften Gebilden bilden die Silicate ein kristallchemisch intensiv untersuchtes Beispiel. Die K. der Komplexverbindungen hat mit ihren Ergebnissen hinsichtlich der Koordinationsgeometrie und -symmetrie der Übergangselemente maßgeblich zum Ausbau der Ligandenfeldtheorie beigetragen.

Die Disziplin der organischen K. befindet sich gegenwärtig noch stark in der Entwicklung. Die Kristallstruktur organischer Verbindungen wird weitgehend durch die Struktur der Einzelmoleküle bestimmt. Gleichermaßen für annähernd isometrische wie auch für flach gebaute und langgestreckte Moleküle wird aber eine Anordnung im Kristall bevorzugt, die eine größtmögliche Zahl von interatomaren Wechselwirkungen zuläßt und zu möglichst hohen Werten für die Packungsdichte führt. Von großem Einfluß auf die Kristallstruktur sowohl anorganischer Verbindungen (z. B. Salzhydrate) als auch organischer Verbindungen (hier besonders bei Vorliegen bestimmter funktioneller Gruppen wie
-OH und -NH) ist die Ausbildung von Wasserstoffbrücken; diese sind deshalb ein besonders aktueller Untersuchungsgegenstand der K. Ein gesondertes Gebiet der K. ist auch die Untersuchung von Einschlußverbindungen. Die Aufklärung ihres Bauprinzips ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern hat auch unmittelbar praktische Bedeutung, da Zeolithe und ähnliche Materialien mit Hohlräumen und Kanälen von definierter Größe in der Katalyse und für Verfahren der Stofftrennung (Molekularsiebe, Ionenaustauscher) breite Anwendung finden. Schließlich sei auch noch darauf verwiesen, daß eine enge Beziehung zwischen K. und Festkörperchemie besteht, da ein tieferes Verständnis von Festkörperreaktionen Kenntnisse der Struktur der festen Ausgangsstoffe und Endprodukte voraussetzt.

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