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Lexikon der Ernährung: Anorexia nervosa

Anorexia nervosa, Magersucht, Pubertätsmagersucht, eine psychogene Essstörung. Sie äußert sich in selbstverursachtem deutlichem Gewichtsverlust bzw. fehlender altersentsprechender Gewichtzunahme und geht mit der Überzeugung einher, trotz Untergewicht zu dick zu sein (Körperschemastörung). Charakteristisch ist auch die fehlende Krankheitseinsicht. Am häufigsten sind Mädchen in der Pubertät und junge Frauen betroffen (95–97 % der Erkrankten sind Frauen, doppelter Häufigkeitsgipfel mit 14 und 18 Jahren). Die Prävalenz liegt bei Frauen insgesamt bei 0,3 %, bei den 14- bis 35-jährigen Frauen bei 5 %. Etwa die Hälfte der Magersüchtigen entwickeln während der Erkrankung Heißhungeranfälle, bei denen innerhalb kurzer Zeit große Mengen meist kalorienreicher Nahrungsmittel gegessen werden (Purging-Typ). Aus Angst vor Gewichtszunahme wird die Nahrung nach einem Essanfall erbrochen oder durch hohe Abführmitteldosierungen wieder ausgeschieden. Dagegen treten beim Nicht-Purging-Typ (restriktiver Typ) keine Heißhungeranfälle mit selbstinduziertem Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch auf, der Gewichtsverlust wird allein durch konsequentes Fasten (bzw. Nahrungsverweigerung) und extreme körperliche Bewegung erreicht. Bei etwa der Hälfte der an Bulimia nervosa Erkrankten bestand zuvor eine A. n.
Die Diagnose erfolgt entsprechend der Leitlinien nach DSM-IV bzw. ICD-10 (Tab.).
Folgen der A. n. sind Abbau von Skelettmuskeln und Muskulatur innerer Organe (z. B. Herzmuskelatrophie), Elektrolytstörungen durch Mangelernährung und Erbrechen und infolgedessen Reizleitungsstörungen bis zum Herzstillstand. Aufgrund endokriner Störungen (Östrogenmangel, erhöhter Cortisolspiegel) kommt es schon relativ früh im Krankheitsverlauf zu Amenorrhö, außerdem zur Osteoporose (Alimentärpsathyrose) und Insulinresistenz. Die Mortalität liegt bei mittelfristig angelegten Studien (5–8 Jahre) bei 5 % bei Langzeitstudien (20–35 Jahre) bei 15–18 %. Todesursachen sind hauptsächlich Suizidhandlungen und Folgen der Abmagerung (s. a. den Essay Essstörungen).
Die Ätiologie der A. n. ist noch nicht vollständig geklärt. Auf der Basis grundlegender psychologischer Theorien sind unterschiedliche Erklärungsansätze entwickelt worden: Beispielsweise wird die A. n. in der Psychoanalyse als Fixierung der Persönlichkeitsentwicklung auf die orale Phase angesehen. Jeder Triebwunsch und die ganze genitale Entwicklungsphase wird abgewehrt. Als Ursache werden Störungen der Eltern-Kind-Beziehung angesehen: Durch übertriebene Fürsorge oder unbewusste Ablehnung des Kindes durch dominante Bezugspersonen wird die Identitätsentwicklung des Kindes gehemmt. In der systemischen Therapie werden dagegen Kommunikations- bzw. Interaktionsstörungen innerhalb der Familie für die Krankheitsentstehung verantwortlich gemacht. Die A. n. wird nicht als Erkrankung eines Familienmitglieds sondern der ganzen Familie aufgefasst. Demgegenüber wird die A. n. in der Lernpsychologie als gelerntes unerwünschtes Verhalten angesehen, das durch Konditionierung, Modelllernen oder kognitive Lernprozesse erworben wird Ungünstige Erziehungsmaßnahmen (z. B. Zwang und Bestrafung beim Essen), Orientierung an Vorbildern (Me-too-Anorexie) und das gesellschaftliche Schönheitsideal können solche Lernprozesse auslösen. Keine der Theorien kann alleine die Entstehung der A. n. vollständig erklären. Es ist davon auszugehen, dass die Krankheitsentstehung und -aufrechterhaltung ein multifaktorielles Geschehen darstellt, das durch biologische, psychische und soziokulturelle Faktoren bestimmt wird (s. a. anorektischer Teufelskreis u. bulimischer Teufeslreis).
Die A.n. tritt häufig in Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen auf (Komorbidität): Depressive Störungen treten bei bis zu 90 % der in Behandlung befindlichen Patienten auf, bei 15–58 % bleiben sie auch nach Gewichtsnormalisierung weiter bestehen. Zwangsstörungen sind bei Anorektikerinnen häufig bereits prämorbid vorhanden, ein Großteil der Patienten entwickelt im Krankheitsverlauf Zwangssymptome (z. B. zwanghafte Beschäftigung mit dem Essen, Wiegen, extreme sportliche Betätigung). Auch Angststörungen (v. a. soziale Phobien) und Persönlichkeitsstörungen, z. B. Borderline-Syndrom sind bei Patientinnen mit A. n. verbreitet.
Die Therapie der A. n. erfolgt meist multimodal. Sie kann prinzipiell stationär oder ambulant durchgeführt werden. Die stationäre Behandlung kann aus medizinischen Gründen, z. B. extremes Untergewicht (BMI < 14), schwere Infekte, schwerwiegende körperliche Funktionsstörungen oder Suizid-Neigung oder aufgrund psychologischer Kriterien, z. B. schwere Essstörungssymptomatik, psychiatrische Komorbidität oder ein schwieriges soziales Umfeld, indiziert sein. Die Therapie hat im Wesentlichen zwei Schwerpunkte: 1. somatisch orientierte Therapie, in erster Linie gewichtsstabilisierende Maßnahmen, 2. psychotherapeutische Behandlung des zugrunde liegenden Konfliktes und der Körperschemastörung. Die Gewichtsstabilisierung dient zur Prävention und Therapie von Folgeerkrankungen und kann durch Mangelernährung ausgelöste Störungen im Essverhalten (Minnesota-Studie) regulieren. Die Nahrungsmenge sollte sich zunächst am Grundumsatz einer normalgewichtigen Person orientieren und bis zum 1 -fachen des Grundumsatzes gesteigert werden. Generell ungünstig sind Lebensmittel, die voluminös und -energiearm sind, weiterhin Gemüsesorten, die blähend wirken (z. B. Hülsenfrüchte, Kohlsorten), Fleisch-, Fisch- und Wurstwaren mit hohem Anteil an sichtbarem Fett sowie Mayonnaise und fettreiche Backwaren, weiterhin fettarme, proteinreiche Lebensmittel (z. B. Magermilch, Buttermilch, magere Fischsorten etc.) und kohlensäurehaltige Getränke. Wenn Nahrungsfette schlecht vertragen werden, sollten MCT-Fette eingesetzt werden. Die möglicherweise eingeschränkte Glucosetoleranz muss ebenfalls berücksichtigt werden. Bei Lactasemangel sollten Milch und lactosehaltige Lebensmittel gemieden werden, Quark und Käse sind in der Regel verträglich. Auf eine ausreichende Calciumzufuhr ist aufgrund der Osteoporoseneigung zu achten.
Für die psychotherapeutische Behandlung sind verschiedene Methoden entwickelt worden. Große Bedeutung besitzt die kognitive Verhaltenstherapie, die einerseits relativ kurzfristig eine Änderung des Essverhaltens bewirkt und somit die Gewichtsstabilisierung unterstützt, andererseits langfristig die auslösenden zentralen Konflikte bearbeitet. Die Patientinnen lernen, die Faktoren zu erkennen, die ihr gestörtes Essverhalten auslösen und aufrecht erhalten, und alternative Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Weiterhin werden Wahrnehmungsstörungen und kognitive Verzerrungen behandelt, die sich auf Nahrungsaufnahme und Körperform beziehen, z. B. falsche Grundannahmen, Übertreibung und Mängel im Selbstkonzept (s. a. verhaltensmodifizierende Beratung). Die psychodynamische Therapie stellt den zentralen unbewussten Konflikt in den Mittelpunkt der Behandlung. Die Methode eignet sich vor allem bei schweren Störungen des Selbstwertgefühls, Reifungskrisen und psychiatrischer Komorbidität. Familientherapeutisch orientierte Therapieformen beschäftigen sich dagegen mit Interaktions- und Beziehungsstrukturen innerhalb der Familie der essgestörten Patientin, die das Verhalten der Patientin auslösen bzw. aufrechterhalten. Da nicht bei allen Patienten gestörte Familienbeziehungen vorliegen, sollte dieses im Einzelfall unvoreingenommen untersucht werden. Typische Familien anorektischer Patienten zeichnen sich durch starke Norm- und Leistungsorientierung, engen Zusammenhalt, Überbehütung, Harmoniegebot und Konfliktvermeidung sowie extrem enge Beziehungen aus. Die gesamte Familie wird in die Problemlösung einbezogen. Zunächst werden die Funktionen der Krankheit für die Patientin und die Familienmitglieder analysiert und neue Beziehungsmuster aufgebaut und stabilisiert (s. a. systemische Beratung).
Auch die Gestalttherapie und die klientenzentrierte Beratung werden in der Therapie der A. n. eingesetzt.
Die medikamentöse Therapie ist von untergeordneter Bedeutung. Sie beschränkt sich auf eine antidepressive Medikation bei depressiven Störungen, ggf. Calciumsubstitution und hormonelle Substitution.
Die Prognose der A. n. ist umso besser, je früher mit der Behandlung begonnen wird. Durchschnittlich sind ca. 30–40 % der Behandlungen erfolgreich, bei 20 % der Fälle können die körperlichen Symptome bei Weiterbestehen einer behandlungsbedürftigen Erkrankung normalisiert werden und ca. 50 % der Erkrankungen chronifizieren, wenn auch nicht immer eine anorektische Störung nach allen Diagnosekriterien bestehen bleibt.

Anorexia nervosa: Tab. Diagnostik.

Diagnostische Leitlinien nach ICD-10
(International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death)
Diagnostische Kriterien nach DSM IV
(Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
1.Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder Quetelets-Index von 17,5 oder weniger (vgl. Kachexie). Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.

2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:

a)  Vermeidung von hochkalorischen Speisen sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen:

b)  selbst induziertes Erbrechen;

c)  selbst induziertes Abführen;

d)  übertriebene körperliche Aktivitäten;

e)  Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika.

3. Körperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tiefverwurzelte überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.

4. Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen Gonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhö und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehandlung zur Kontrazeption). Erhöhte Wachstumshormon- und Cortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.

5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhö beim Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.

A. Weigerung das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten (z. B. der Gewichtsverlust führt dauerhaft zu einem Körpergewicht von weniger als 85 % des zu erwartenden Gewichts; oder das Ausbleiben einer während der Wachstumsperiode zu erwartenden Gewichtszunahme führt zu einem Körpergewicht von weniger als 85 % des zu erwartenden Gewichts).

B. Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor zu dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts.

C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung, oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen geringen Körpergewichts.

D. Bei postmenarchalen Frauen des Vorliegen einer Amenorrhö, d. h. das Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen (Amenorrhö wird auch dann angenommen, wenn bei einer Frau die Periode nur nach Verabreichung von Hormonen, z. B. Östrogenen, eintritt).

Restriktiver Typus (F50.00):
Während der aktuellen Episode der A. n. hat die Person keine regelmäßigen Fressanfälle gehabt oder kein ,Purging’-Verhalten (d. h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt.

,Binge-Eating / Purging’-Typus (F50.01):
Während der aktuellen Episode des A. n. hat die Person regelmäßig Fressanfälle gehabt und hat ein Purgingverhalten (d. h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt.

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