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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Abraham ben Shmuel Abulafia

Geb. 1240 in Saragossa;

gest. nach 1291 in Barcelona

A. war der Begründer der sog. »ekstatischen« oder »prophetischen Kabbala«, einer Schule, die das letzte Ziel des religiösen Lebens darin erkennt, Gott in einer mystischen Erfahrung zu erleben. Damit stellte er ein eigenes, auch philosophisches Verständnis von Kabbala gegen die sich ebenfalls in Spanien etablierende sog. »theosophische« Kabbala, in deren Zentrum die Lehre der zehn Sefirot steht.

In Saragossa geboren, wuchs A. in Tudela auf, verließ jedoch Spanien 1260 für eine Reise in den Orient, auf der Suche nach dem legendären Fluß Sambatyon, wo der Sage nach die zehn verlorenen jüdischen Stämme bis zum Kommen des Messias leben sollen. Als er in Akko in Galiläa ankam, hörte er von den Kriegen zwischen den Mamelucken und den Mongolen, welche zu jenen verlorenen Stämmen gehören sollten, und so kehrte er nach Europa zurück. In Capua in Italien, wo er sich ca. 1263 aufhielt, studierte er Maimonides’ »Führer der Verwirrten« gemeinsam mit dem Philosophen R. Hillel von Verona. Danach, im Jahr 1270, begann er seine kabbalistischen Studien in Barcelona. Hier hatte er in demselben Jahr seine erste Vision: Er sollte sich als Teil einer großen messianischen Aufgabe auf eine Mission zum Papst begeben, was er später auch tat. Inzwischen unterrichtete er auch über Maimonides’ »Führer der Verwirrten« gemäß seines Verständnisses von Kabbala, und dies gleich in mehreren Ländern: im spanischen Katalonien und Kastilien, im byzantinischen Reich und in Italien und Sizilien.

Hier vor allem etablierte sich A. seit den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts als Begründer der »prophetischen Kabbala«. Schon vorher, seit den siebziger Jahren, begann er, eine große Zahl kabbalistischer Traktate zu verfassen, die den philosophischen Neo-Aristotelismus auf höchst fruchtbare Weise mit der bisherigen Sprachtheorie der jüdischen Mystik, insbesondere derjenigen des frühmittelalterlichen Sefer Jeẓirah (»Buch der Schöpfung«) und der mittelalterlichen Chaside Ashkenaz, verbinden. Zu seinen einflußreichsten Schriften gehören Hajje ha-‘Olam ha-Ba (»Das Leben der kommenden Welt«), Sefer or ha-Sekhel (»Buch des Lichts des Verstandes«) und Imre Shefer (»Herausragende Worte«). Der neoaristotelische Aspekt bildet den metaphysischen und psychologischen Rahmen, der auch das eigentliche Ziel von A.s religiöser Praxis bildet: die prophetische Erfahrung. A. systematisierte dies u.a. in seiner intensiven Auseinandersetzung mit Maimonides’ »Führer der Verwirrten«, der auch eine Lehre der Prophetie enthält und zu dem A. mehrere Kommentare verfaßte, am bekanntesten der mit Sitre Torah (»Geheimnisse der Tora«) betitelte. Gemäß A. kannte Maimonides alle »Geheimnisse« der Bibel, womit er Formen intellektueller Spiritualität wie eben die Prophetie meinte. Den »Führer der Verwirrten« erachtete er dabei als einen ersten und wichtigen Schritt in der Entschlüsselung dieser »Geheimnisse«, während seine Meta-Kommentare zu Maimonides die endgültige Offenbarung des esoterischen Wissens der Bibel sowie des »Führers des Verwirrten« versprechen.

Der linguistische Aspekt wiederum, der hauptsächlich aus jüdischen mystischen Quellen wie eben dem Sefer Jeẓirah stammt, besteht in den Techniken, um diese Erfahrung zu erlangen: die Rezitation von göttlichen Namen nach bestimmten musikalischen Mustern, die Kombination ihrer Buchstaben, Atemtechniken, Bewegungen des Kopfes und der Hände etc. In seinem Sefer OẓarEden Ganuz beschreibt A. die ekstatische Praxis in ihrer Erfüllung folgendermaßen: »Die Haare auf deinem Kopf werden sich aufstellen. Und dein Blut […] wird in Bewegung geraten bei der Buchstabenkombination des Lebenden, des Redenden, und dein ganzer Körper wird nach rückwärts zu beben beginnen, und Zittern wird alle deine Glieder befallen, und du wirst die Furcht vor Gott spüren, und die Ehrfurcht des Heiligen Namens wird dich umhüllen, […] und dein Körper wird zittern.« Es ist durchaus möglich, daß A. dabei auch auf hinduistische, islamische oder christlichorthodoxe Meditationstechniken zurückgreift. Dabei verstand sich A. auch in einem spezifischen Sinne als Prophet und Messias. Gemäß seiner Theorie des Messianismus nämlich erlangt jeder Mystiker eine Art Selbst-Erlösung. Die mystische Erfahrung vermittels der Umsetzung der genannten Techniken führt zu einem Zustand, der ihm als »prophetisch« oder gar »messianisch« galt. Diese Form der Eschatologie minimiert die ansonsten populären apokalyptischen Elemente, indem hier die Erlösung in das Innere, in das Bewußtsein eines Individuums verlegt ist.

Diese Form der Kabbala verstand A. als der (v.a. in Spanien) verbreiteteren theosophischtheurgischen Form der Kabbala überlegen. Während er jene als »Kabbala der Sefirot« kritisiert, hebt er seine »Kabbala der Namen« hervor, die eine mystische Vereinigung mit Gott durch die Meditation und Rezitation seines Namens erwirkt. In einem Brief an seine Schüler Salomon Jehudah, der unter dem Titel We zot li-Jehudah bekannt ist, macht A. diesen Unterschied sehr deutlich, indem er zunächst die Kabbala der Sefirot geradezu als Rückgang hinter den Monotheismus kritisiert, seien hier doch nicht nur drei, sondern sogar zehn göttliche Aspekte angenommen: »Die Lehrer der Kabbala der Sefirot dachten, daß sie die Gottheit vereinten und den Glauben der Trinität umgehen, doch anstatt dessen haben sie sie verzehnfacht. So wie die Heiden sagen, daß er drei ist und die drei eines, so sagen einige Kabbalisten, daß die Gottheit aus zehn Sefirot besteht und daß diese zehn Eins seien.« Dagegen will die »Kabbala der Namen« »durch die Kombination der Buchstaben einen prophetischen Zustand erreichen«.

Im sizilianischen Messina gründete A. eine Gruppe von Schülern, die zwischen 1281 und 1291 tätig war. Einige dieser Schüler verfaßten ihrerseits kabbalistische Bücher nach dem Typus von A.s Kabbala. Unter ihnen war Nathan ben Sa‘adja Chadad, der Autor des Sefer Shaare Ẓedeq (»Buch der Pforten der Gerechtigkeit«), in dem die ekstatische Kabbala mit neoplatonischen und sufistischen Elementen verbunden war. Die Wirkung von A.s Typus der Kabbala ist aber vor allem in der italienischen Renaissance erkennbar, u.a. bei Jochanan Alemanno. Dabei wurde sie auch – u.a. über Alemanno – an christliche Gelehrte vermittelt. Giovanni Pico della Mirandola etwa kannte einige von A.s Büchern in der lateinischen Übersetzung des Flavius Mithridates, eines zum Christentum konvertierten Juden aus Sizilien. Der Einfluß von A. zeigt sich insbesondere in Picos Conclusiones (1482). Im frühen 16. Jahrhundert wurden zudem einige von Abulafias Büchern ins Italienische übersetzt und in dieser Form von dem augustinischen Kardinal Egidio da Viterbo und von Francesco Zorzi Veneto gelesen. Gleichzeitig wurde A. auch in der weiteren Entwicklung der jüdischen Kabbala rezipiert, insbesondere in den kabbalistischen Kreisen im Palästina des 16. Jahrhunderts. Moshe Cordovero z.B. integrierte A.s Kabbala in seine umfassendere Systematik der Kabbala. Die zahlreichen Manuskripte und Drucke hatten darüber hinaus auch einen Einfluß auf die spätere jüdische Mystik, insbesondere auf den Shabbatianismus und den Chassidismus.

Werke:

  • 12 Bde., hg. A. Gross, Jerusalem 1998–2002.
  • Nathan ben Sa‘adja Chadad, Le Porte della Giustizia (Sha‘are Zedeq), hg. M. Idel, Adelphi Edizioni, 2001. –

Literatur:

  • G. Scholem, Hauptströmungen der jüdischen Mystik, Frankfurt a.M. 1970, 128–170.
  • ders., Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: ders., Judaica 3, Frankfurt a.M. 1970, 7–70.
  • M. Idel, Language, Torah and Hermeneutics in A. A., New York 1989.
  • ders., A. A. und die mystische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1994.

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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