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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Eliezer Schweid

Geb. 7.9.1929 in Jerusalem

Reflexion und Engagement Sch.s gelten der Bestimmung und Förderung des »Judentums als neuer Kultur, einzigartig von seinen historischen Quellen her, aber verwoben mit der modernen Kultur des Westens« (1995). So unverzichtbar Sch. dabei die vergewissernde Bezugnahme auf das religiöse Erbe des klassischen Judentums erscheint, so unmißverständlich sucht er selbst Judentum als nicht primär religiöse, sondern als moderne, plurale, humanistische Kultur zu bestimmen. Als Zionist vertritt er die Überzeugung, ein so verstandenes Judentum könne sich allein im Staat Israel angemessen entfalten und sei auf die moderne hebräische Sprache (Ivrith) als Medium authentischer Selbstreflexion und Selbstdarstellung angewiesen. Folgerichtig ist auch der größte Teil der Schriften Sch.s auf Hebräisch erschienen und in einem anspruchsvollen Stil verfaßt – um den Preis, daß seine Person außerhalb Israels kaum bekannt ist und sein Werk (bisher) kaum rezipiert wurde.

Sch.s inniger Bezug zum Staat Israel spiegelt sich in seinem Lebensweg. Geprägt durch ein zionistisches, nicht frommes, jedoch der religiösen Tradition gegenüber offenes, gebildetes Elternhaus nahm er am Unabhängigkeitskrieg und am Sechs-Tage-Krieg teil, war Mitbegründer eines Kibbuz und lehrt seit 1961 an der Hebräischen Universität Jerusalem als Dozent bzw. Professor im Fach »Jüdisches Denken« bzw. »Philosophie des Judentums« (machshevet jisra’el). Durch seine Publikationen sowie durch seine Mitarbeit in zahlreichen Gremien – etwa zu Erziehungsfragen – nimmt er innerhalb Israels vielfach Einfluß auf Diskussionen über jüdische Identität. Umgekehrt wird seine Philosophie immer wieder von Ereignissen und Problemlagen israelischer Existenz inspiriert. Von prägender Bedeutung für sein Denken war insbesondere der Sechs-Tage-Krieg. Bei Sch.s wissenschaftlichem Werk handelt es sich überwiegend um Studien zur jüdischen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine Aufarbeitung der Wissenschaft des Judentums bei Denkern wie Achad Haam, Chaijm Nachman Bialik, Aaron David Gordon, Abraham Isaak Kook u.a. – auch seine Beteiligung an der Diskussion um Scholems Wiederentdeckung der mystischen Traditionen des Judentums (Kabbala) – zielt dabei weniger auf bloß historische Rekonstruktion als vielmehr auf den Nachweis einer »Transformation« (1995) des traditionellen Judentums in eine neuzeitliche, vielgesichtige jüdische Kultur.

Sein dergestalt geschichtlich fundiertes Verständnis jüdischer Kultur hat zweierlei Anliegen: Einerseits soll die Eigenständigkeit und das kritische Potential des Judentums gegenüber der westlich-weltlichen Spielart moderner Kultur hervorgehoben werden, namentlich gegenüber dem, was er bisweilen ihre »idolatrous social ethic« nennt, d.h. ihre Verabsolutierung bestimmter Lebensstile und Denkarten, andererseits soll die Wahrnehmung der Vielgestaltigkeit des modernen Judentums geschärft, deren Legitimität unterstrichen und so aus den Fesseln orthodoxer Normativität befreit werden. Anders als radikal weltliche Zweige der zionistischen Bewegung sieht Sch. jedoch den Rückbezug auf das religiöse Erbe und dessen Interpretation als unaufgebbar an – u.a. weil es die Tora Israels ist, die eine Absage an Götzendienste, eine moralische Verantwortlichkeit und eine entsprechende Lebensgestaltung begründen hilft, und nicht zuletzt weil in den größten Krisen des jüdischen Volkes allein das Festhalten an dieser Tradition und seiner Literatur dessen Zusammenhalt ermöglicht hat. Sch. versteht formal unter Kultur »die Gesamtheit der materialen und geistigen Schöpfungen […], die durch eine Gemeinschaft […] hervorgebracht und bewahrt werden«. Als die materialen Elemente des Judentums, die insbesondere allen Israelis gemeinsam sind (bzw. sein sollten), bezeichnet er die Verantwortung für das jüdische Volk, Verbundenheit mit dem Land Israel, Kenntnis und Identifikation mit jüdischer Geschichte, Anerkennung gemeinsamer verpflichtender Normen und nicht zuletzt auch Verständigung in der hebräischen Sprache (1981).

Bei aller Betonung eines umfassenden, religiöse Elemente einschließenden Verständnisses jüdischer Kultur ist sich Sch. dessen bewußt, daß dieses Leitbild in der israelischen Gesellschaft keineswegs Konsens ist, sondern faktisch eher die »Entfremdung« von den jüdischen Quellen (so schon seit den fünfziger Jahren) und von den zionistischen Idealen (so in den neunziger Jahren) zu obsiegen droht. Angesichts dieser Einsicht gehört die Beschäftigung mit Wegen und Zielen jüdischer Erziehung in den Schulen zu den Konstanten seines Nachdenkens. Forderungen nach einer stärker berufs- und marktorientierten Schulbildung stellt er sein Plädoyer für einen qualitativ und quantitativ hochwertigen Unterricht in den Fächern des Judentums (Bibel, mündliche Tora, Jüdisches Denken) entgegen, der für die Bildung einer jüdischen Identität unverzichtbar sei. Im Ringen um angemessene schulische Formen zur Bildung einer jüdischen Identität manifestiert sich einmal mehr eine Spannung, die auch die Sch.sche Konzeption von Judentum nicht aufzulösen vermag, nämlich die zwischen der faktischen Pluralität des (israelischen) Judentums und einer mehr oder weniger normativen, alle Spielarten jüdischen Selbstverständnisses umgreifenden Selbstdefinition. Sch.s Idee einer jüdisch-humanistischen Kultur bekommt vor diesem Hintergrund stark appellativen Charakter; als philosophische Theorie läuft sie Gefahr, die empirisch zentrifugalen Selbstverständnisse zu überspringen. Aus der Außenperspektive sei zudem die Anfrage gestattet, ob sich modernes Judentum im Zeitalter der Globalisierung noch (wie es bei Sch. geschieht) definieren kann, ohne ins Gespräch mit Islam und Christentum zu treten, ohne deren (parallel verlaufende?) Transformationsprozesse auszuwerten. Angesichts der Dynamik der israelischen Gesellschaft vermag Sch.s Gedankengebäude schwerlich eine Lösung für die Frage nach einer modernen jüdischen Identität zu bieten, auf jeden Fall aber spiegelt sie in eindrücklicher Weise die geistesgeschichtliche Genese und die gegenwärtige Gestalt dieser Problemlage im Staat Israel wider.

Werke:

  • Israel at the Crossroads, Philadelphia 1973.
  • Das Judentum und die weltliche Kultur (hebr.), Tel Aviv 1981.
  • Was es heißt, Angehöriger des jüdischen Volkes zu sein (hebr.), Tel Aviv 1992.
  • The Idea of Judaism as a Culture (hebr.), Tel Aviv 1995.
  • Zionism in a Post-Modernistic Era (hebr.), Jerusalem 1996. –

Literatur:

  • Y. Amir, E. Sch. – eine Bibliographie. Seine Bücher und eine Auswahl seiner Artikel (hebr.), Jerusalem 1998.
  • B. Schröder, Jüdische Erziehung im modernen Israel. Eine Studie zur Grundlegung vergleichender Religionspädagogik, Leipzig 2000, v.a. 296-320.

Bernd Schröder

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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