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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Erich Gutkind

(engl. auch Eric)

Geb. 1877 in Berlin;

gest. 26.8.1965 in Chatauqua (New York)

Einer sehr reichen, vollkommen assimilierten Familie entstammend, studierte G. mehrere Wissenschaften, um ihr »geheimes Zentrum« zu finden. Er hatte zunächst keinerlei »lebendige Berührung mit Jüdischem« und ist »fast bis an die Schwelle der Konversion zum Katholizismus gelangt« (Scholem). Für eine ›mystisch gestimmte Seele‹, die Scholem G. zuschrieb, waren die konfessionellen Grenzen allerdings von geringer Bedeutung. G. suchte in enger Anlehnung an Rudolf Steiner nicht die Lösung einzelner Probleme, sondern die Lösung des Problematischen generell.

Sein erstes Werk Siderische Geburt. Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat (1910) ist eine hoch weltanschauliche, zwischen Philosophie und Dichtung schwebende Deutung der Welt, die von mystischen Traditionen und der aktuellen Neuromantik geprägt ist. Erschienen ist das Buch unter dem Pseudonym Volker, das sowohl an die Nibelungen erinnert als auch an »das Volk«, die Juden nämlich. In der weltanschaulichen Krise, die der wenige Jahre später entfesselten militärischen vorausging, und in der nicht weniger als Welt und Wirklichkeit insgesamt fragwürdig geworden waren, standen auch die traditionellen Grenzen der Weltanschauungen zur Disposition. Wenn es gleich zu Beginn des Buches heißt: »Wir werden zeigen, wie die Tat der kommenden Zeit nimmermehr darin bestehen kann, das Gehäuse der Welt für uns immer behaglicher zu machen. Nicht behagliches Wohnen, sondern Wanderung und göttliches, grenzenloses Schwingen ist nun unser Sinn.« – dann ist dies sowohl christlich-theosophisch als auch jüdisch zu interpretieren, verstand sich doch das jüdische Volk in besonderer Weise als »wanderndes« Volk. Hier mischte sich Uraltes mit Modernstem. In einem Brief von 1912 heißt es: »Auch Gauguin, Cézanne prachtvoll, und ganz neu und groß war uns Picasso. Ich sah kubistische Köpfe, gigantisch wie die Schöpfung der Urvölker, Physiognomien reduziert auf ihr kristallines Gefüge und auf ihren letzten tiefsten Schöpfungsact.« Auch hier ist die Aussage in verschiedenen Richtungen interpretierbar, und gleichzeitig wird hier die Nähe zu Walter Benjamin (»Kristall des Totalgeschehens«) und Erich Unger deutlich, mit denen G. Kontakt hatte. Die Siderische Geburt zielte in der Grundthese dann auch auf ein anthropologisch-ästhetisches Theorem: »Mit dem Menschen ist das Höchste der biologischen Gestaltung erreicht, es kann keine höhere leibliche Gestalt mehr geben […]. Nicht mehr in biologisch morphologischer Umgestaltung, sondern in völlig anderen, in übernatürlichen, ja überweltlichen Sphären schreitet die Entwicklung weiter, die neuen Reiche sind die Reiche der Fülle und Vollendung, der Freiheit, Harmonie und Göttlichkeit […] in Wesen, die die Scheidewand durchbrechen zwischen Welt und Himmelreich.« Diesen Zustand könne zunächst nur der ›große Mensch‹ erreichen: »Genialität ist nichts als beginnende Gemeinschaft mit Gott.«

Rezipiert wurde das Buch vor allem von Dichtern (z.B. Hugo von Hofmannsthal) und Künstlern (vor allem Wassily Kandinsky).

Schon um die Jahrhundertwende hatte sich G. mit Martin Buber und Gustav Landauer zu einem Bund »Neue Gemeinschaft« zusammengeschlossen, dem um 1910 das Projekt »Orden des Genies« folgte. 1913/14 sollte der »Forte-Kreis«, dem u.a. Martin Buber, Gustav Landauer, Theodor Däubler und Florens Christian Rang angehörten, eine übernationale geistige Neuorientierung für ganz Europa leisten, ein Versuch, der mit dem Ausbrechen der nationalen Gegensätze zu Beginn des Weltkrieges scheiterte. Im Verlauf der Vorbereitungsgespräche trat G. auch in engeren Kontakt mit Walther Rathenau. Ab 1916 war G. aber vor allem mit Walter Benjamin eng befreundet, der einige Zeit bei ihm wohnte, Ende des Jahres wurde er Mitglied der Berliner Zionistischen Vereinigung. 1917 begann G. bei Gershom Scholem Hebräisch zu lernen und wandte sich der ihm verschlossen gebliebenen Welt des Judentums zu. Diese Wendung ließ ihn seine ersten Werke als »überwunden« ansehen, und er verließ seine Orientierung auf das Europäische. Von Beginn seiner Wendung zum Judentum an war für ihn »das Problem des religiösen Rituals« (Scholem) von entscheidender Bedeutung. Dies mußte G. in die Nähe von Oskar Goldberg und Erich Unger führen, und noch 1928 wies Benjamin auf eine »denkwürdige Debatte Gutkind – Unger« hin, von der aber weiter nichts bekannt ist. G., der kurzfristig Leiter des Jüdischen Volksheimes in Berlin war, begann sich als Zionist zu verstehen. Er war aber weder Kulturzionist der Richtung von Martin Buber oder Hugo Bergman noch politischer Zionist, er blieb seinen Grundanschauungen treu: »Erez Jisrael ist nicht Israels Bett, sondern Israels Leuchtturm. Ist nicht bloßes ›Siedlungsgelände‹. […] Erez Jisrael kann nur zionistisch verstanden werden. Als tief geheimnisvolle Beziehung des jüdischen Menschen auf diesen Boden, der als einziger fähig ist, in seiner Seele immer wieder erneuernd die Ur-Situation, unseren Ur-Ausgangspunkt herzustellen, der in den tiefsten Schichten des Unterbewußtseins lebt« (Für eindeutigen Zionismus, in: Jüdische Rundschau, August 1927). Er kämpfte gegen jede Bürgerlichkeit und für die Errichtung eines geistigen Zentrums.

1933 wanderte G. über London in die USA aus, wo er in New York als Schriftsteller lebte und Vorträge hielt. Noch in England erschien das Buch The Absolute Collective (1937), in dem er die Welt als Trümmerfeld und das durch den Tod beendbare Leben als Durchgangsort, nicht als Maßstab darstellt. Die »absolute Gemeinschaft« ist die mit Gott: »The People is always assembled around God; it is the absolute gathering together. The People is the supreme assembly in which every creature is gathered into man, and every human being is gathered into the absolute unity around God.« Die Philosophie könne sich nur an den Trümmern der Realität orientieren, die philosophischen Ideen seien erschöpft und könnten nur noch unterschiedlich kombiniert werden (World Conquest, in: Purpose, 1932). Nur das wahre Ritual könne die zerbrochenen Teile – und nur die reinen – wieder zusammenfügen. Nicht zuletzt diese Vorstellung der Wiederherstellung zeigt, daß er in der Auseinandersetzung mit der europäischen Philosophie ausdrücklich auf kabbalistische Vorstellungen und Begriffe Bezug nahm. Dieses Buch trug ihm die Bewunderung und Freundschaft Henry Millers ein, der einen Aufsatz darüber schrieb. In den USA erschien 1952 als sein letztes Buch Choose Life, The Biblical Call to Revolt, in dem er nochmals die Verlorenheit der bürgerlich-kapitalistischen Welt beschrieb und ihr die jetzt theophanisch gedachte Begegnung mit Gott gegenüberstellte. Die beiden letzten Kapitel sind betitelt The Redemption of Action und Now!, worin der Bogen zur Siderischen Geburt und der Taufe der Tat zurückgeschlagen wird und die messianische Dringlichkeit seines Zionismus bezeugt ist. In dem nach seinem Tode herausgegebenen Buch The Body of God, First Steps Toward an Anti-Theology (1969) wurden Auszüge aus seinen Notizbüchern, Vorlesungen und Aufsätze gesammelt. In den Notizen heißt es: »Nothing else but the Ritual can overtake the raging techniques.« Und: »God is not dead but uninvolved, and because of that an ultra-radical revolution is needed.«

Werke:

  • Volker: Siderische Geburt, Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat, Berlin 1910 (2. Aufl. 1914).
  • The Absolute Collective, A Philosophical Attempt to Overcome our Broken State, London 1937.
  • Choose Life, The Biblical Call to Revolt, New York 1952.
  • The Body of God, First Steps Toward an Anti-Theology, h.g. L.B. Gutkind u.a., New York 1969. –

Literatur:

  • Ch. Holste, Der Forte-Kreis (1910–1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992.
  • G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Fassung, Frankfurt a.M. 1994.
  • L. Jäger, Messianische Kritik. Studien zu Leben und Werk von Florens Christian Rang, Wien 1998.

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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