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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Ernst Bloch

Geb. 8.7.1885 in Ludwigshafen;

gest. 4.8.1977 in Tübingen

B. wurde 1885 als Sohn eines assimilierten jüdischen Eisenbahnbeamten in Ludwigshafen geboren. Er legte 1905 das Abitur ab und promovierte nach einem Studium der Philosophie, Physik und Musik in München und Würzburg im Jahre 1908 mit einer erkenntnistheoretischen Arbeit. Nach Aufenthalten in Berlin, wo er am Privatkolloquium Georg Simmels teilnahm und Margarete Susman kennenlernte und einem Aufenthalt in Budapest, wo er mit Georg Lukács Freundschaft schloß, lebte er seit 1912 in Heidelberg und verkehrte im Umkreis Max Webers. B. heiratete 1913 Else von Stritzky; zwischen 1914 und 1917 entsteht sein erstes Werk Der Geist der Utopie. Aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg reist B. 1917 in die Schweiz aus, von wo er 1919 nach Deutschland zurückkehrt. Nach dem Tod seiner ersten Frau und der Heirat mit Linda Oppenheimer hält sich B. von 1924 bis 1926 häufig im Ausland auf, um bei einem längeren Aufenthalt in Berlin die engere Bekanntschaft von Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, von Bertolt Brecht und Kurt Weill zu machen. 1933 erscheinen Spuren und die Textsammlung Erbschaft dieser Zeit, die sich mit Kultur und Politik der zwanziger Jahre auseinandersetzen. Der Emigration in die Schweiz im Jahre 1933 folgt 1934 die dritte Heirat in Wien mit Karola Piotrowska. Ein unstetes Emigrantenleben brachte B. über Paris, wo er sich antifaschistisch engagierte, zunächst nach Prag, wo er als regelmäßiger Mitarbeiter der dort erscheinenden Weltbühne wirkte, dann 1938 in die USA; hier lebte er bis 1940 in New York, 1940/41 in New Hampshire und von 1942 bis 1949 in Cambridge. In diesen Jahren entstanden sowohl das Manuskript zum Prinzip Hoffnung als auch die Studie Naturrecht und menschliche Würde. 1948 wurde B. auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Leipzig berufen, wohin er 1949 übersiedelte. Der 1955 zum Nationalpreisträger der DDR und zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin gekürte B. gerät aufgrund seines nonkonformistischen Marxismus in zunehmende Konflikte mit der SED und wird, persönlich isoliert, 1957 emeritiert. Nach einem Sommeraufenthalt in Bayreuth 1961 beschließt B. angesichts des Baus der Berliner Mauer, nicht mehr in die DDR zurückzukehren, und nimmt eine Gastprofessur in Tübingen an. B. erhält 1967 den Friedenspreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und sympathisiert 1967 und 1968 mit den revoltierenden Studenten. Mit dem Studentenführer Rudi Dutschke verbindet ihn eine persönliche Freundschaft. 1974 erscheint die ontologische Abhandlung Experimentum Mundi. Ernst B. stirbt am 4. August 1977 an einer Herzschwäche.

Anders als andere dem assimilierten Judentum entstammende, zunächst marxistisch denkende und in die Emigration getriebene Intellektuelle ist B. die Ambivalenz deutsch-jüdischer Existenz kaum je zum Problem geworden. So sehr B.s philosophischer Blick auf die allgemeine menschliche Zukunft ausgerichtet war, so sicher war er sich dieses menschheitlichen Projekts zugleich. Diese Grundhaltung hatte prägende Auswirkungen für den Blick auf die eigene Herkunftsreligion sowie auf die religiösen und politischen Praxen der damaligen Juden. Das Judentum geriet B. in drei auf den ersten Blick auseinanderstrebenden Diskursen zum Inbegriff einer »halbierten Hoffnung«, die erst durch das, was er für den »Christusglauben« hielt, zu einer wirklichen Hoffnung geworden sei. Die drei von B. zum Thema des Judentums entfalteten Diskurse gelten zum einen der unabgegoltenen Vorgeschichte von B.s eigener häretischer Christologie, zum zweiten dem völkischen und rassistischen Antisemitismus sowie drittens der politischen Utopie des Zionismus. Allen drei Diskursen eignet ein gemeinsames Motiv: Indem das Judentum als vorläufige Hülle des richtigen, erfüllten Lebens erscheint, gerät es zum Paradigma des gegenwärtigen Alltags, dem der eine oder andere Hoffnungsschimmer zu entnehmen ist. Im Umkehrschluß wird damit das existierende Judentum auch zur Chiffre eines Überkommenen, das die Entfaltung des historisch Neuen und Weitertreibenden behindert. B.s Blick auf das Judentum ist somit – von Motiven der Philosophie des Deutschen Idealismus gespeist – durch und durch christlich: Indem das Judentum zur Chiffre einer andauernden Gegenwart wird, erweist sich sein geschichts- (nicht sein lebensphilosophischer Ansatz) als christlich, und zwar nicht nur im übertragenen Sinne. Jesus – so B. im Geist der Utopie (1923) – sei die Seelenwanderung Gottes gewesen, Ausdruck eines Gottes, den die menschlichen Seelen gesetzt hätten, Gott und sein Sohn schießen zum Inbegriff eines mystischen Atheismus zusammen: »Die Subjekte sind das einzige, das in allem äußeren und oberen Dunkel nicht ausgelöscht werden kann, und daß der Heiland lebt und wieder kommen will, dies ist nach wie vor unangreifbar verbürgt; aber er und Gott selber haben wie alles Objektive die eigene Kraft, zu kommen, und scheinend zu wirken, eingebüßt […]. Derart gibt es nur eine einzige Rettung, und das ist die sich empörende, sich über allem Fremden suchende Verbindung zwischen dem moralischen Ich […] und dem schweigenden, uns verlassenden, vor seiner Verwandlung zum Heiligen Geist zögernden Gott, als die Rufe, Gebete und die tiefe Ernennungskraft des heroisch-mystischen ›Atheismus‹ selber« (Geist der Utopie). Der Geist der Utopie mit seinem mystischen A-Theismus erschien im Jahre 1923 und ist keineswegs als Vorstufe, sondern als Kern des späteren Werks zu verstehen, das sich aus diesen Gedanken entfaltet hat – so sehr, daß auch und gerade in B.s letztem Werk, dem Experimentum Mundi von 1975, die Auseinandersetzung mit Jesus und dem Judentum noch einmal ausdrücklich aufgenommen wird. Während hier dem Judentum noch einmal die Artikulation von Exodus, Ziel und Nähe zugeschrieben wird, stellt das Christentum die Religion einer sich erfüllenden Apokalypse dar. Indem B. bereits im Geist der Utopie in Form eines mythologiegeschichtlichen Exkurses jene Gestalt, die er als »Christus« bezeichnet, in die Tradition des Exodus und der Astralmythen stellt, und dabei die Gültigkeit reiner Auf- und Untergangsmythen bestreitet, kann er einem gnostischen Christentum das Wort reden, das in der Erkenntnis eines in seiner Menschlichkeit zu sich findenden Gottes die Hoffnung auf einstige Erlösung verbürgt.

Der Christus, den B. im Geist der Utopie predigt, ist ein Rebell gegen den von der jüdischen Bibel beglaubigten Schöpfergott, in dessen Wort, daß alles gut sei, er schlechthin Konservatives wittert. Das Wort von der Güte der Schöpfung würde jene der Welt immanente Befreiungs- und Änderungsdynamik der Welt, die B. zur Grundlage seiner Ontologie der Hoffnung erklärt, systematisch überflüssig machen. Der jüdische Philosoph Ernst B. sieht sich so im Prinzip Hoffnung an der Seite des später zum Ketzer erklärten Kirchenvaters Marcion, den schon der liberale Kirchengeschichtler Adolf von Harnack zum Inbegriff des wahren Christentums ernannt hatte. Marcion hatte um des einen wahren, kommenden und rettenden Gottes willen den in der Bibel gepriesenen Schöpfer von Himmel und Erde zum demiurgischen Lügengott erklärt. B. folgt in dieser Argumentation Adolf von Harnack, ohne indessen die antijudaistische Grundhaltung dieses ansonsten liberalen Geistes mittragen zu wollen. B.s gnostischer Gott ist nämlich bereits in der jüdischen Bibel zugegen: »Marcion stellt den stärksten Begriff Anti-Jahwe dar, zugunsten Christi als des totalen Novum oder Paradoxes in Jahwes Welt. Indem Marcion freilich die Brücke zum Alten Testament abbricht, steht er selbst auf dieser Brücke […]. Anders gesagt: Marcion kommt nicht nur von Paulus, er kommt ebenso von Moses her, der wahre oder fremde Gott dämmert im Exodusgott« (Das Prinzip Hoffnung). Gleichwohl: jener Menschensohn, der nach häretischer, von B. akzeptierter Lehre weniger die Herablassung Gottes zu den Menschen, sondern die Vergöttlichung des Menschen erfüllt, gilt ihm als das schlechthin Neue, als Inbegriff jedes Neuen, das jemals in der Geschichte der Menschheit erschien: »Das Neue aber war der« – und nun läßt B. im Prinzip Hoffnung die folgenden fünf Worte gesperrt drukken – »neue Gott, der schlechthin fremde«, von dem bis zu Christus niemals eine Kunde zu den Menschen kam.

Für B. standen am Anfang nicht Himmel und Erde, sondern nach kabbalistischer Lehre der Mensch, in und durch den hindurch sich ein erneuernder, befreiter Kosmos vollzieht, der am Ende eine Differenz von Gott und Mensch nicht mehr kennt. In B.s theurgischer Philosophie steht Gott nicht am Anfang, sondern am Ende. Doch dieser Gott, der am Ende steht, ist kein anderer, als eine zu sich selbst gekommene Menschheit. Die messianische Bedeutung der Wiederkunft Christi besteht in nichts anderem als im Aufdecken des Angesichts Gottes als Inbegriff einer befreiten Menschheit. Der Geist der Utopie endet entsprechend mit der Beschwörung eines ohnmächtigen Gottes, der seine Stärke ausschließlich durch die Menschheit, genauer gesagt durch eine gerechte Menschheit gewinnt: »Denn wir sind mächtig, nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten – da besteht Gott durch sie.« Diese Theologie ist bewußt metaphysisch und ontologisch konzipiert, und keineswegs nur moralischexistentiell. Als Leser der Bibel, des Alten und des Neuen Testaments, erweist sich B. somit als ein gnostischer Christ, dem die Freiheit des Handelns, wie sie etwa die rabbinische Ethik voraussetzt, ebenso fremd ist wie paulinisch-lutherisches Sündenbewußtsein. Indem er eine prozessuale Theologie postuliert und Gott – wie viele Mystiker vor ihm – im Menschen werden läßt und darüber hinaus unter Berufung auf jene biblischen Verheißungen, die einen neuen Himmel und eine neue Erde versprechen, den befreienden Gott Israels, der zugleich als der Schöpfer der ganzen Welt bekannt wird, ablehnt, um ihn in Kontrast zu einem erst ankommenden, künftigen Gott zu setzen, ist er von Grundüberzeugungen des rabbinischen Judentums ebenso weit entfernt wie von der Kabbala, deren Gott bei allen Spekulationen gerade kein anderer als der Schöpfer war. Als mystisch-atheistischer Theologe ist B. eindeutig einer antijudaistischen Lesart der Bibel verpflichtet, so daß es kaum verwundert, wenn er in jenen Schriften, in denen er sich mit dem völkisch-arischen Christentum auseinandersetzt, antisemitischen Doktrinen zum Teil recht gibt.

Daß ein mystischer Christ Gottes Weisung, der Tora, nicht viel abgewinnen kann, war zu vermuten, daß das jedoch in bester christlich-lutherischer Tradition im Tonfall äußerster Ablehnung geschieht, erstaunt. Der B. der Weimarer Zeit jedenfalls verachtet orthodoxes und liberales Judentum gleichermaßen: »Wir schweigen von dem verdorrten jüdischen Gesetz, dem nicht nur die lax gewordenen Juden entfliehen« (Erbschaft dieser Zeit, 1929). In diesem Kontext karikiert er die Juden seiner Zeit mit beinahe den gleichen Worten, mit denen nationalistische Publizisten wie Ernst Jünger oder antimodernistische, bibeltreue Christen ihrer Judenfeindschaft Ausdruck verliehen. B.s Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus trägt selbst antisemitische Züge und dürfte kaum anders zu erklären sein denn aus einer damaligen Nähe zur sozialdemagogischen Politik der KPD, die unter Aufnahme antisemitischer Motive den ergebnislosen Versuch unternommen hatte, völkische Intellektuelle und antisemitische Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen: »Der jüdische Bourgeois, der leere Intellektuelle stehen auf einem andern Blatt, auf einem, das er mit lauter Ariern teilt, weil es nicht zur Rasse, sondern zum Hauptbuch des Kapitalismus gehört: aber ›Fremdheit‹ zum Juden, zur jüdischen Substanz ab ovo? […] Was viele Juden als Drohnen sind: es besteht kein Anlaß, sie zu schonen, doch auch keiner, sie anders als die arischen Ausbeuter matt zu setzen. Was viele Juden der Großstadt intellektuell geworden sind, dies platt kluge, Abstrakte, zu nichts Verpflichtende: es besteht ebenso wenig Anlaß, diese Art Intelligenz zu dulden, doch erst recht keiner, den Kapitalismus als Grundgehalt zu übersehen, der auch hier sich aussingt und den Schaden Josefs mit dem Schaden Teuts recht gut vereint« (Erbschaft dieser Zeit). Umgekehrt unternimmt er jedoch den Versuch, wie seinerzeit Benjamin Disraeli, gerade unter Hinweis auf die Juden auch noch der völkischen Rassenlehre ein Gutes abzugewinnen, und sei es auch nur mit dem Ziel, die Hetzpropaganda der Nationalsozialisten ad absurdum zu führen, mehr noch: B. fordert die Juden auf, »Rassestolz« zu zeigen und ist bereit, sie zu verachten, so sie dies unterlassen. Das »Mischvolk«, so B. über die Deutschen, überhebe sich, »als wäre die jüdische Großmutter eine Geschlechtskrankheit« (Erbschaft dieser Zeit), wohingegen doch wirkliche »Rasse« die andere zu ehren habe.

Unter diesen Voraussetzungen konnte die Kritik des völkischen »Deutschen Christentums« nur mißlingen. Immerhin hält er 1933 dem Judentum zugute, daß es die Blasphemie eines Verrats an der Idee des himmlischen Jerusalem nicht mitmacht und damit einer wesentlichen Perspektive des arischen Neuheidentums widersteht. Sei es doch die jüdische Bibel gewesen, die einmal ein Deutschland genährt habe, das von Meister Eckhart bis zu Gustav Mahler gereicht habe. Tatsächlich ist es die Gestalt Gustav Mahlers, an dem ihm endlich auch die existentielle Problematik des Antisemitismus aufgegangen ist. Dabei zögert B. nicht, Mahler einen Willen zum Selbstmißverständnis vorzuhalten. Dieser Musiker, der als deutscher Meister gelten wolle, präsentiere im besten Sinne das, was Richard Wagner abfällig als »Judentum in der Musik« bezeichnet habe. Schon im Geist der Utopie hatte B. Wagners Verdikt über Giacomo Meyerbeer übernommen, wendet es aber zeitgemäß auf Richard Strauß an, dem er als Komponisten Gesinnungslosigkeit vorhält. Wahres Judentum wird demgegenüber im Werk Mahlers deutlich: »Es ist so, als ob hier das Blut vertauscht wäre. Mahler ist deutsch, oder will wenigstens als deutscher Meister gelten, was ihm freilich nicht gelingt, denn das ist wahrhaftig Judentum in der Musik, jüdisches Weh und jüdische Inbrunst« (Geist der Utopie). Doch erweist sich auch dieses jüdische Genie endlich als Ausdruck jenes gnostischen Sehnens, das B. zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat – die Artikulation einer Sehnsucht, in der er die innerste Wahrheit des Judentums erkennt: »Das Herz bricht auf vor dem Ewig, ewig, vor dem Urlicht tief innen; wie ein ferner Bote kam dieser Künstler in seine leere, matte, skeptische Zeit, erhaben in der Gesinnung, unerhört in der Kraft und männlichen Glut seines Pathos, und wahrhaft nahe daran, das letzte Geheimnis über Welt und Gräbern zu spenden« (Geist der Utopie). Die gnostische Theologie, wie sie vor allem im Johanneischen Christentum entfaltet wird, kennt die Idee eines abgesandten Stellvertreters Christi, eines »Parakleten« – für B. ist es Gustav Mahler, in dem seinen äußeren Umhüllungen zum Trotz der göttliche Funke glüht und in dem sich das artikuliert, was als Versprechen der Auferstehung der Toten vernehmbar wird. Wo es um solch letzte Dinge geht, scheint sich die Problematik des von B. tradierten kulturellen Antisemitismus aufzulösen.

Wo es angesichts des Zweiten Weltkrieges um die Beurteilung der Leidensgeschichte der Juden ging, war B. allerdings bereit, es ganz und gar ernst zu nehmen, wenn auch – ebenso erstaunlich wie letzten Endes konsequent in diesem Werk – kein Platz für die Erinnerung an die Massenvernichtung ist. »Es gibt kein Leid«, beginnt ein Abschnitt im Prinzip Hoffnung über den Zionismus, »das dem jüdischen zu vergleichen wäre.« Seine Darstellung des bürgerlichen Zionismus hält nicht nur dem Frühsozialisten Moses Hess Rassedenken vor, sondern folgt insgesamt der von ihm akzeptierten kommunistischen Kritik am Zionismus. Daß ausgerechnet B., der noch in den unscheinbarsten geographischen Utopien Spuren eines großartigen Menschheitstraums sah, mit dem naiven Theodor Herzl imperialismuskritisch abrechnet, liegt auf derselben Linie wie ein Vergleich Herzls mit Marx, der nur zuungunsten des Ersteren ausgehen kann. Das einschlägige Kapitel im zweiten Band des Prinzip Hoffnung, 1955 in Westdeutschland erschienen, liest sich in seiner Beurteilung des Zionismus und der israelischen Politik, bei aller möglichen Kritikwürdigkeit, doch maßlos und dürfte der überzeugten Rücksichtnahme des Philosophen auf die Außenpolitik der Sowjetunion zuzurechnen sein: »Doch all dies hat nur befördert, daß der Staat Israel, durch die Flucht vor dem Faschismus bevölkert, selber ein faschistischer geworden ist. Und an diesem bitteren Ende, dem auch bei Herzl noch nicht an der Wiege gesungenen, wurde Israel sogar der – noch nicht einmal gut gehaltene – Köter des amerikanischen Imperialismus in Vorderasien.« In der Auseinandersetzung mit dem Zionismus erneuert er seine Bestimmung des Judentums als »gewissen messianischen Affekt« und läßt sich zu dem gewiß dümmsten Satz seines von Irrtümern nicht freien Werks verführen: »Ubi Lenin, ibi Jerusalem« (Das Prinzip Hoffnung). Immerhin sah er in dem »Lokalberg in Palästina« ein Symbol, dessen Gegeninstanz, der Nationalsozialismus, wiederum von dessen Gegeninstanz, der Sowjetunion, die universalistischen Hoffnungen der Propheten geerbt hatte, gerettet. »In summa, diese partiale Bewegung könnte aufhören, ohne daß eine jüdische Komponente selber aufhörte, sei es als Volk, sei es – in wahrhaft bedeutend wahrerer Weise – als Zeuge und Zeugnis messianischer Gesinnung; Zionismus mündet im Sozialismus, oder er mündet überhaupt nicht« (Das Prinzip Hoffnung).

Es war kein geringerer als Gershom Scholem, der in seinem Nachruf auf B. auf den mystischkabbalistischen Glauben hinwies, der hinter der Maske des Marxisten stecke. Indes ist Scholem nur bedingt recht zu geben: daß B. die großen Mystiker nicht nur beerbte, sondern ihre Reihe fortsetzte, ist nicht zu bezweifeln. Daß das Schicksal der Welt schließlich den Menschen und ihrem guten Willen überantwortet ist und ohne sie eine Heilung der Welt ebenso wenig möglich ist wie eine Rückkehr Gottes aus dem Exil, war die Überzeugung der lurianischen Kabbala. Nie aber und zu keiner Zeit vermaß sich jüdische Mystik, die Differenz zwischen Gott und den Menschen einzuziehen. Indem aber der Gedanke von Gottes Werden in den Menschen B.s Philosophie von allem Anfang an durchzog, beglaubigte er die Wahrheit der christlichen, nicht der jüdischen Mystik. So dürfte kein anderes Fazit bleiben, als daß B. ein jüdischer Denker, weniger aber ein Denker, wenn auch ein Interpret, des Judentums war.

Werke:

  • Der Geist der Utopie, Frankfurt a.M. 1973.
  • Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M. 1962.
  • Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1976.
  • Experimentum Mundi, Frankfurt a.M. 1975. –

Literatur:

  • P. Zudeick, Der Hintern des Teufels. E.B. – Leben und Werk, Baden-Baden 1985.
  • B. Schmidt (Hg.), Materialien zu E.B.s »Prinzip Hoffnung«, Frankfurt a.M. 1978.
  • ders., Seminar: Zur Philosophie E.B., Franfurt A.M. 1983.

Micha Brumlik

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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