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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Ignaz Maybaum

Geb. 2.3.1897 in Wien;

gest. 12.3.1976 in London

»Unser Schicksal, zu dem wir erwählt sind, heißt: in der Welt ohne Machtbasis existieren.« In dieser Formulierung, die Erwählung Israels, jüdische Existenz im Exil und die Erfahrung geschichtlicher Ohnmacht miteinander verbindet, verdichtet sich die für M. charakteristische Theologie der »Mission Israels« inmitten einer von Macht, Gewalt und Nationalismus beherrschten Geschichte. Erstmals gegen Ende der Weimarer Republik unter dem Eindruck einer tiefen Krise des liberalen Judentums formuliert, bilden diese Motive zugleich Grundelemente seiner Deutung des Judentums nach den historischen Umbrüchen der Shoah und der Staatsgründung Israels. M. stammte aus einer traditionellen jüdischen Familie in Wien, wechselte aber in jungen Jahren von einem orthodoxen Rabbinerseminar zur Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, wo er insbesondere von J. Guttmann beeinflußt wurde und mit dem Denken Hermann Cohens, Martin Bubers und Franz Rosenzweigs in Berührung kam. Nach seiner Ordination wirkte er als Rabbiner in Bingen, später in Frankfurt an der Oder und in Berlin. In dieser Zeit entwickelte M. in Anlehnung an Rosenzweigs religionsphilosophische Deutung der Sendung des Judentums im Exil eine grundlegende Kritik jüdischer Wirklichkeit in der europäischen Diaspora. Da ihm jüdischer Liberalismus wie Zionismus die spirituelle Dimension des Judentums zu untergraben und der Säkularisierung der abendländisch-christlichen Welt allzu stark Tribut zu zollen schienen, forderte er 1935 in seinem Werk Parteibefreites Judentum eine lebendige jüdische Identität, eine Überwindung der »seichten Gartenlaubenlyrik« der Reformsynagogen und der »Protestantisierung« des liberalen Judentums, das sich einseitig auf ethische Lehren anstatt auf die »Realität des jüdischen Menschen« konzentriere. In Anlehnung an Ideen des Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt a.M. entwarf M. ein – auf dem Rabbiner als zentrale Figur beruhendes – Bildungsprogramm, das die jüdische Tradition nicht »wie ein Museumsstück« ehrfürchtig archivieren, sondern mit Leben erfüllen und so die dem Judentum entfremdeten Juden neu zur Tora und zu ihrer religiösen Existenz als »Licht unter den Völkern« zurückrufen sollte. Obgleich Mitglied der zionistischen Jugendbewegung und dem Aufbau Palästinas verpflichtet, warnte M. vor einer Politisierung des Judentums: »Wir sind ein Volk, aber das Volk, das am Sinai geboren wurde.« Als solches ist Israel »Gottes Knecht«, der durch Assimilation an den modernen Nationalismus seine prophetische Funktion preisgäbe: »Das normalisierte, dem Gefahrenbereich der Welt entrückte, wirtschaftlich, geistig und herrschaftlich autarke jüdische Volk ist eine Utopie, eine von denen, die nicht Geschichte schaffen, sondern Geschichte auflösen.«

1939 emigrierte M., offenbar nach einer kurzen Inhaftierung in einem KZ, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach London, wo er an der orthodoxen Hampstead Synagogue jüdische Flüchtlinge aus Deutschland betreute. Seine Mutter, zwei Schwestern und weitere Verwandte wurden in Theresienstadt ermordet. Von 1947 bis 1963 war er Rabbiner an der Londoner Edgeware Reform Synagogue, wo er jedoch als Gelehrter und Intellektueller einen schweren Stand hatte. An dem von ihm 1956 mitbegründeten liberalen Leo Baeck College fand er dagegen bis zu seinem Tod eine Wirkungsstätte, die es ihm ermöglichte, als Dozent für Homiletik und Vergleichende Religionswissenschaft seine theologische Interpretation jüdischer Existenz im 20. Jahrhundert zu entfalten. Im Zentrum seines Denkens stand, auch wenn er den Staat Israel als notwendige Folge der Shoah anerkannte, weiterhin die »Mission Israels« in der Diaspora, die ihm entgegen den Untergangsweissagungen des »apokalyptischen« Zionismus als eigentlicher Ort einer Wiedergeburt des Judentums erschien: »Wir können das Joch der galut nicht abwerfen. Die galut ist die unerlöste Welt, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt. Der Jude, der treu das Joch der galut trägt, stellt sich dieser Aufgabe: die unerlöste Welt muß durch Gerechtigkeit, Gnade, Wahrheit und Heiligkeit erlöst werden.« In seinen Reflexionen über das Verhältnis der jüdischen Religion zum Christentum und Islam verkörpert das Judentum – als »Volk ohne Macht« – eine Gegenbewegung gegen Nationalismus, Gewalt und Fanatismus, den er nicht nur im Christentum und Islam, sondern auch in der jüdischen Orthodoxie als Gefahr erblickte, die es durch einen Trialog der drei verwandten Religionen zu bannen galt.

Das Motiv der »Mission« des ohnmächtigen Volkes Israels beherrscht auch M.s umstrittene geschichtstheologische Sinngebung der Shoah in The Face of God after Auschwitz. Mit Hilfe des Motivs des kollektiv auf Israel gedeuteten »Gottesknechtes« des Buches Jesaja konstruierte M. eine Geschichte historischer Katastrophen, in denen die Juden immer wieder schuldlos »einen stellvertretenden Tod für die Sünden der Menschheit« erlitten hätten, und postulierte gleichsam eine negative Erwählung zu Leid, Tod und Zerstörung, mit der Gott die nichtjüdische Menschheit zur Einsicht zu bringen versuche. Hätten die ersten beiden Katastrophen – die Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels – die Entstehung der Diaspora bewirkt und damit die Bedingung für Israels Zeugnis in der Welt geschaffen, so offenbare der »dritte churban« (»Zerstörung, Vernichtung«) das Ende der von Nazi-Deutschland symbolisierten Epoche des »Mittelalters«, das M. durch autoritäre Religiosität, Intoleranz und Verfolgung gekennzeichnet sah. Hitler wird in dieser Deutung zum »Werkzeug Gottes«: Die sechs Millionen ermordeten Juden »starben einen unschuldigen Tod«, um die sündige Welt zu bestrafen, zu reinigen und zur Erkenntnis des jüdischen Zeugnisses zu bringen. Diese Form der Geschichtstheologie ist nicht nur deshalb auf Ablehnung gestoßen, weil M. den »jüdischen Sühnetod« mit Hilfe der christlichen Metaphorik des Kreuzestodes zur Sprache brachte (»Das Golgatha der modernen Menschheit heißt Auschwitz. Das Kreuz, der römische Galgen, wurde ersetzt von der Gaskammer«), sondern auch, weil er über die Frage schwieg, welcher noch so große menschheitliche Fortschritt den Preis eines von Gott zugelassenen grauenvollen Völkermordes rechtfertigen könne. M.s Vertrauen auf die Kraft und den Sinn des Martyriums dagegen beruhte auf der Überzeugung, das Überleben von zwei Dritteln der Juden sei ein Wunder, ein Zeichen göttlichen Erbarmens, das die Überlebenden zu neuer priesterlicher Zeugenschaft in einer Welt der Macht, des Unglaubens und der daraus erwachsenden Barbarei verpflichte.

Werke:

  • Parteibefreites Judentum. Lehrende Führung und priesterliche Gemeinschaft, Berlin 1935.
  • The Faith of the Jewish Diaspora, London 1962.
  • The Face of God after Auschwitz, Amsterdam 1965.
  • Creation and Guilt, London 1969.
  • Trialogue between Jew, Christian and Muslim, London 1973.
  • I.M.: A Reader, hg. N. de Lange, Oxford 2001. –

Literatur:

  • D. Marmur, Holocaust as Progress: Reflections on the Thought of I.M., in: N. J. Leddy/M.A. Hinsdale (Hg.), Faith that Transforms, New York 1987, 8–15.
  • C. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, 233–244.
  • A.H. Friedlander, I.M., in: European Judaism 30 (1997), 89–95.

Christian Wiese

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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