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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Jehudah ben Shmuel Halewi

Geb. vor 1075 in Toledo;

gest. 1141 in Palästina

H. war Arzt, Gelehrter und Dichter. Er gehörte der Hochphase der hebräischen Renaissance in Spanien an. Wo er Philosophie studiert hat, ist unbekannt, jedoch spiegelt sich in seinen Schriften eine gewisse Kenntnis der islamischen Philosophie seiner Zeit. Geboren wurde H. in Toledo, das damals dem christlichen Teil Spaniens angehörte, jedoch wohnte er den größten Teil seines Lebens im muslimischen Córdoba. H. hat den theologischen und politischen Konflikt, der im gesamten Mittelmeerraum zwischen Muslimen und Christen um die Heiligen Stätten im Heiligen Land ausgetragen wurde, unmittelbar miterlebt. So zeugen seine Philosophie und Dichtung in ihrer Sehnsucht nach dem Heiligen Land von einer Religiosität, die mit den politisch-religiösen Bewegungen zur Zeit der Kreuzzüge unmittelbar korrelierte. Auch war H. hinsichtlich der Bedeutung das Landes Israel von den Karäern beeinflußt, mit denen er eine intensive theologische Debatte geführt hat und für die die Rückkehr ins Heilige Land ein zentraler theologischer Grundsatz war. Im Jahre 1140 trat H. selbst eine Reise nach Israel an. Er gelangte zunächst nach Ägypten und lebte dort für einige Zeit in Alexandrien und Fusṭāṭ (Kairo). Aus dieser Periode sind einige persönliche Zeugnisse, v.a. Briefe und Gedichte H.s, erhalten. Handschriftliche Fragmente der Kairoer Geniza beweisen, daß H. auf der üblichen Route der damaligen Pilgerer am 14.5.1141 (6. Sivan 4901) von Alexandrien über das Meer nach Akko gereist und von dort aus nach Jerusalem gekommen ist. Fest steht weiterhin, daß er nicht mehr als zwei Monate nach seiner Ankunft in Palästina verstarb. Die bekannte Legende, daß er von einem Reiter überrannt worden sei, als er vor den Mauern Jerusalems betete, läßt sich nicht belegen.

Unter den kulturellen Einwirkungen auf die Philosophie H.s wird von der modernen Forschung vor allem der Einfluß des muslimischen Mystikers al-Ghazālī hervorgehoben. Sowohl al-Ghazālī als auch H. haben in der Philosophie den aristotelischen Rationalismus ihrer Tage grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei entwickelten sie eine eigene Art von ›irrationalem‹ Rationalismus, der sich an dem religiösen Erlebnis, an der je eigenen geschichtlichen Tradition ihrer Religion und Sprache sowie an der religiösen Tat orientierte. Was die Stellung H.s zur neuplatonischen Lehre angeht, ist die Forschung weniger eindeutig. H.s Ablehnung der Emanationslehre spricht aber mehr für eine distanzierte Haltung gegenüber neuplatonischen Grundsätzen (Kuzari IV, 25; V, 14).

Abgesehen von einigen in seinen Gedichten verstreuten religiösen und theologischen Ideen entwickelte H. seine Religionsphilosophie v.a. in seinem philosophischen Hauptwerk, dem Kuzari, das den Titel trägt: »Buch der Widerlegung und des Beweises [zur Verteidigung] der geschmähten Religion« (Kitāb al-Radd wa-’l-Dalīl fī ’l-Dīn al-Dhalīl). Den Rahmen der Handlung dieses einzigartigen theologisch-philosophischen Buches, das schon 1170 von Jehudah ibn Tibbon ins Hebräische übersetzt wurde und unter dem Namen Sefer ha-Kuzari bekannt geworden ist, stellt ein imaginäres Gespräch dar, das sich auf ein historisches Ereignis stützt: die Bekehrung des Chazarenkönigs und einer Großzahl seiner Fürsten und Adligen um 740 zur jüdischen Religion. Einer Korrespondenz zufolge, die im Jahre 960 zwischen Chasdaj ibn Shaprut aus Córdoba und Joseph, dem damaligen König der Chazaren, stattfand, hatte der Chazarenkönig vor seinem Übertritt zum Judentum mit den Weisen der drei monotheistischen Religionen eine Reihe von Religionsgesprächen geführt. Zusätzlich zu diesen drei monotheistischen Weisen hatte H. noch die Figur eines Philosophen hinzugefügt.

Das Buch Kuzari gliedert sich in fünf Traktate. Der erste beginnt mit einer Traumszene, auf die mehrere Dialoge zwischen dem Chazarenkönig und jeweils einem Philosophen, einem Christen, einem Muslim und einem Juden folgen, die mit der Entscheidung des Königs abschließen, zum Judentum übertreten zu wollen. In den folgenden vier Traktaten wird der Leser Zeuge eines katechismusähnlichen Lehrgesprächs zwischen dem König und dem jüdischen Weisen (chaver), in dem ein breites Spektrum theologischer bzw. philosophischer Themen erörtert wird. Im zweiten Traktat geht es zunächst um die Lehre der göttlichen Attribute, dann um die besondere Stellung des Landes Israel, um Fragen der Opfergesetzgebung und den Sinn des Gesetzes überhaupt und schließlich um die Erhabenheit der hebräischen Sprache. Im dritten Traktat unterrichtet der Weise den Chazarenkönig über das jüdische (kontemplative) Ideal des vollkommenen Menschen, über Fragen der politischen Führung des Volkes und schließlich über Sinn und Inhalt des Gebets. Am Ende dieses Traktates finden wir eine Polemik gegen die Karäer, die die Verteidigung der rabbinischen Lehre als notwendigen Bestandteil der jüdischen Tradition zum Inhalt hat.

Im vierten Traktat kommt H. auf die Attributenlehre und die Namensbezeichnungen Gottes zurück, um sich dann erneut der Auseinandersetzung mit den Philosophen, vor allem im Zusammenhang mit Fragen zu deren Konzeption der physikalischen Welt, zuzuwenden. In diesem Kontext findet sich ein kurzer Kommentar zum Sefer Jeẓirah (»Buch der Schöpfung«), in dessen wissenschaftlicher Interpretation H. der frühen östlichen Traditionen der Auslegung dieses Buches bei Sa‘adja Gaon bis Shabbetaj Donnolo gefolgt ist. Am Ende dieses vierten Traktates zitiert H. mehrere Stellen aus der rabbinischen Literatur, um die wissenschaftliche Kenntnis der jüdischen Tradition unter Beweis zu stellen. Im Widerspruch zum theoretischen Wissenschaftsbegriff der Philosophen verteidigt H. den Begriff Wissenschaft in seiner empirischen und praktischen Bedeutung. Die Wissenschaft stehe im Dienst des jüdischen Gesetzes und sei daher im Einklang mit diesem. Es sei die Tora und nicht das Naturgesetz, welche den physikalischen Zusammenhang der Welt garantiere. Im fünften Traktat schließlich geht H. auf die philosophische Herausforderung ein, die bereits seit dem ersten Gespräch zwischen dem König und dem Philosophen im ganzen Werk latent zu spüren war. Im Mittelpunkt steht dabei die philosophische Lehre von der Vereinigung der Seele mit dem aktiven Intellekt als einer immanenten göttlichen Kraft.

Die Lehrgespräche des Kuzari sind zu assoziativ und zu sehr dem mündlichen Gespräch nachgebildet, als daß sie sich einer systematischen Darstellung fügen würden. Es sollen daher an dieser Stelle nur einige zentrale Themen herausgehoben werden. Das konfliktreiche und ambivalente Verhältnis zwischen Philosophie und Religion ist wiederholt Diskussionsgegenstand des Kuzari. Damit zusammenhängend wird die Frage nach dem religiösen Ideal des vollkommenen Menschen gestellt, das von der intellektuellen Vollkommenheit verschieden ist und diese noch übersteigt. Die religiöse Handlung (arab. ‘amal), die Priorität der hebräischen Sprache sowie das biblische Geschichtsbild stehen im Zentrum der theologischen Diskussion. Diese Faktoren wiegen für H. bei der Behandlung theologischer Probleme schwerer als Fragen des ethischen Willens oder der religiösen Gesinnung. Demzufolge leitet H. die theoretischen Grundsätze der Theologie aus der Singularität religiöser Handlungen, aus der hebräischen Sprache sowie der biblischen Geschichte ab und nicht umgekehrt. Mit dieser Orientierung der theoretischen Reflexion an der Eigenart der Sprache, der Geschichte und der Praxis wirft H. die radikale philosophische Frage nach der Möglichkeit einer partikularen, vom kulturellen Kontext bestimmten Philosophie auf, die de facto einer Suspendierung des Ethischen und des Universalen in der Rationalität gleichkommt: »Die gesellschaftlichen und Vernunftgesetze sind die bekannten, die göttlichen aber, welche zum Vorhandensein jener im Volke ›des lebendigen Gottes‹ noch hinzugefügt worden sind, auf dass er es leite, sind nicht bekannt, bis sie von ihm selbst erklärt und zugetheilt werden. Jene gesellschaftlichen und Vernunftgesetze sind es eigentlich wohl auch nicht, und kennt man auch ihren Kern, so kennt man doch nicht ihr Mass. […] Aber Begrenzung und Mass dieser Dinge, soweit sie Allen zu Gute kommen sollen, stehen Gott ganz allein zu. In den göttlichen Handlungen aber kann unser Verstand sich nicht umherbewegen, weil er sie nicht fassen kann, vielmehr hat der Verstand dabei zu gehorchen, wie der Kranke [dem Arzte in] seinen Heilmitteln und Verordnungen zu gehorchen hat« (Kuzari III, 7; Hirschfeld 119; vgl. auch II, 48). Die politischen und theologischen Konsequenzen einer solchen Ontotheologie zeigen sich in der Folge in H.s Aussagen über die Stellung des jüdischen Volkes zu den anderen Völkern, sowie in seinen Erklärungen zu dem fortdauernden Zustand von Israels Exil.

So steht im Zentrum dieser von H. geführten philosophischen und theologischen Argumentation der Begriff des »göttlichen Wortes«, das sich mit dem Begriff einer »göttlichen [prophetischen] Begabung« umschreiben läßt (arab. ’amr ’ilahi; heb. ‘injan elohi). Ähnlich dem philonischen Begriff des Logos bezeichnet ’amr, d.h. das »göttliche Wort«, sowohl eine Eigenschaft Gottes als auch eine göttliche Immanenz in der Welt. Diejenigen, die zu dieser göttlichen Präsenz in der Welt Zugang haben, stehen auf einer qualitativ höheren Stufe. Der Zugang zu dieser göttlichen Immanenz hängt jedoch nach H. von dem kulturspezifischen Kontext des Einzelnen ab, wobei, wie oben angedeutet, die hebräische Sprache, die jüdische Geschichte sowie die jüdisch-religiöse Praxis ontologisch als notwendige Voraussetzungen angesehen werden.

H.s Behauptung eines geschichtsimmanenten qualitativen Unterschieds zwischen Israel und den Völkern der Welt, was die »prophetische Begabung« und potentielle menschliche Gottesnähe angeht, hat unter jüdischen Kritikern zu einer weitreichenden, teils heftigen Diskussion geführt, da diese in H. den prototypischen Vertreter einer ethnischen Kulturtheorie gesehen haben. Shlomo Pines hat jedoch überzeugend gezeigt, daß H. seinen Grundsatz vom »Wort Gottes«, das nur einigen Auserwählten zugänglich sei, vorwiegend der shī‘itischen Theologie und Terminologie entlehnt hat. In shī‘itischen Quellen gibt es die Idee einer pyramidisch angeordneten Ontologie der Welt, an deren Spitze es einige durch besondere Qualitäten ausgezeichnete Menschen gibt, deren besondere Natur ihnen einen unmittelbaren Zugang zu dem »göttlichen Wort« ermöglicht. Diese Wenigen stehen auf einer höheren Seinsstufe in der Pyramide der Schöpfung als die »normalen« Menschen. Das göttliche Wort ist demzufolge eine auf Gott hin gerichtete Ordnung bzw. Inspiration, die den Auserwählten dazu befähigt, mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten. H. hat diesen Begriff der »wenigen Auserwählten« auf »alle«, d.h. auf das ganze jüdische Volk, ausdehnen wollen und hat so einen Begriff geschaffen, dessen egalitäres Motiv von der Wirkungsgeschichte dieses Begriffes vollkommen verdeckt worden ist.

Literarische und historische Zeugnisse deuten auf mehrere Phasen in der Entstehung des Kuzari hin. Der dritte Traktat des Kuzari wird im allgemeinen als der früheste betrachtet. Er entstand etwa 20 Jahre vor der letzten Fassung des Werkes und trug einen anderen Titel (Kitāb al-Khazari). Auch in der Beschreibung der Rolle der Philosophie bestehen Unterschiede zwischen dem ersten und dem fünften Traktat, die nicht allein stilistisch erklärt werden können. So macht der erste Traktat für die Bewertung der Figur des Philosophen Anleihen aus der Lehre Ibn Bājjahs, während im Hintergrund des fünften Traktats eindeutig die Lehre Avicennas, vor allem aus seinen Risalāt al-Nafs (»Traktate über die Seele«), steht. So behauptet der Philosoph im ersten Teil, daß die Philosophen schon zu Lebzeiten zu einer Vereinigung mit dem göttlichen Intellekt in der Lage seien, während im fünften Teil vom Philosophen behauptet wird, daß bei ihm eine solche Vereinigung erst nach dem Tod des Körpers und der Befreiung der Seele aus ihren körperlichen Bindungen vonstatten gehen könne.

Zur Unterstützung der Annahme, daß H. den dritten Traktat als ersten und den fünften als letzten verfaßte, dient die Hypothese, daß H. den Kuzari ursprünglich als anti-karäische Polemik geschrieben hat. In dieser frühen Phase habe er noch an die Kraft der aristotelischen Philosophie geglaubt und habe daher selber noch die Philosophie für seine apologetischen Zwecke eingesetzt. Erst in der späteren Version richtete sich H. nicht nur gegen das Christentum und den Islam, sondern vor allem auch gegen die aristotelische Spekulation selbst. Zeugnis für diesen Sinneswechsel ist vor allem ein Briefwechsel, der in der Kairoer Geniza gefunden wurde. Dort erwähnt H. im Jahre 1125 eine Schrift, die er gegen einen Karäer in Spanien verfaßt habe. Diese kann als die erste Skizze des Buches Kuzari gelten, das in der uns vorliegenden Fassung erst 1140 abgeschlossen wurde.

Der Kuzari stellt im Vergleich zu den anderen Werken der jüdischen mittelalterlichen Religionsphilosophie ein einzigartiges literarisches Dokument dar. Wenn überhaupt, ist es am ehesten mit dem zeitgleich abgefaßten »Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen« des Abälard (Collationes sive Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum) oder aber mit Raymundus Lullus’ »Buch vom Heiden und den drei Weisen« (Libre del gentil e dels tres savis) zu vergleichen. H.s Dialog unterscheidet sich jedoch klar von diesen beiden anderen Werken, da sich H. im Gegensatz zu Abälard und Lullus der Bedeutung des kulturspezifischen Kontexts als elementarer Bedingung des Gesprächs bewußt war. Während sowohl Abälard als auch Lullus bei aller Verschiedenheit der in ihren Dialogen zur Sprache kommenden Positionen die Existenz einer universalen, vernünftigen Sprache voraussetzen, mittels derer die aus verschiedenen Kulturen und Religionen kommenden Weisen miteinander reden – so wählt Lullus den Wald als den Ort des Dialogs, d.h. einen »natürlichen« Ort »außerhalb« der Zivilisation –, spielt der Kuzari in einer »urbanen« Landschaft. Der Heide, vertreten durch den König, repräsentiert eher ein politisches als ein kontemplatives Ideal. Er gelangt zum Religionsgespräch mittels eines prophetischen Traumes. In diesem erfährt er, daß »[s]eine Gesinnung […] dem Schöpfer wohlgefällig [sei], nicht aber [s]eine Handlungsweise«. Der Philosoph, mit dem er sich zuerst ins Gespräch begibt, kann ihm in dieser Hinsicht nicht helfen, da ihm Fragen der religiösen Handlung nichts bedeuten. Der König aber weiß aufgrund seines Traumes, daß es »ohne Zweifel eine Handlungsweise gibt, die durch sich selbst wohlgefällig ist und nicht durch die Gesinnung« (I, 2). Die Rolle der Philosophie wird also von H. als Vermittlungsinstanz zwischen den verschiedenen religiösen Kulturen abgelehnt, sie kann die religiöse Wahrheit nicht ermitteln. Damit verschwindet zugleich die Möglichkeit eines inter-, bzw. metareligiösen Dialogs überhaupt. Die Philosophie, so H., kann den religiösen Diskurs nicht im epistemologischen Sinne entscheiden. Der Dialog des Chazarenkönigs mit dem Philosophen steht für die Aporie der Philosophie selbst.

Auch die Reden der drei anderen Weisen, des Christen, des Muslim und des Juden, zeigen jede für sich hermetisch abgeschlossene geistige Welten auf, zwischen denen es keine Vermittlung gibt. Der Heidenkönig ist bezeichnenderweise der einzige, der mit allen dreien spricht und der sich daher einem inter-religiösen Dialog, wenn auch nur in Frageform, annähert. Diese Annährung hat jedoch ihre Grenzen. Denn um ein religiöses System überhaupt verstehen zu können, muß der König selbst sich zuerst für eine konkrete Religion entscheiden. Er konvertiert deshalb zum Judentum, und zwar nicht am Ende seines Lernprozesses, sondern in einer relativ frühen Phase am Ende des ersten Buches. Obwohl in den verschiedenen Gespächen z.T. die gleichen Themen behandelt werden – etwa die Einheit Gottes, die Schöpfung aus dem Nichts, die Prophetie, Gottes Vorsehung – bedeuten diese gemeinsamen Inhalte nur sekundär etwas für die Ausbildung des religiösen Bewußtseins; H. billigt den theoretischen Inhalten der Theologie nur bedingt einen Einfluß auf die Formung des religiösen Bewußtseins zu. Religiöse Gesinnung ist nicht auf die Ratio bzw. auf rationale Glaubenswahrheiten reduzierbar. Die Theologie kann nur aus der geschichtlichen religiösen Erfahrung deduziert werden und nicht etwa diese aus der Theologie. Es kann also bei H. kein »Diskurs im Wald« stattfinden, noch überhaupt ein vernünftiger inter-kultureller Diskurs.

Jedoch ist H. trotz seiner in sich kohärenten anti-rationalistischen Position und seines radikalen Angriffs auf die Philosophie in seiner Arbeitsmethode und Begrifflichkeit Philosoph. Die Universalität der menschlichen Erfahrung und der menschlichen Vernunft wird geleugnet, stattdessen rücken spezifische Erlebnisinhalte wie Sprache, Schrift, Mythos und Tradition in den Vordergrund. Diese Verlagerung der Wahrheitsfrage auf das konkrete Erlebnismoment zeigt ein nominalistisches Weltbild, einen »Kultur-Nominalismus«, der neben der Welt der physikalischen Erscheinungen eine nicht weniger greifbare reale Welt der kulturellen Tatsachen anerkennt. Daher gibt es für H. im Bereich der Religion nur ein einziges Wahrheitskriterium, nämlich das der Ablehnung der Reduktion der Wahrheit auf das »Universal-Menschliche« dort, wo es um das Verständnis kultureller und religiöser Identität geht. Christ und Muslim scheitern im Kuzari in ihrer Argumentation gerade daran, daß sie ihre eigenen religiösen Wahrheiten entweder auf allgemeine metaphysische Aussagen oder gar auf die jüdische Tradition zurückführen müssen. In seinem Kuzari beschreibt also H. ein Ereignis, das seiner Meinung nach nie wirklich hätte stattfinden können. Seinem philosophisch-theologischen Weltbild zufolge ist es fast unmöglich, die Grenze seiner eigenen Tradition zu überschreiten. Daß er die Geschichte von der Konversion des Chazarenkönigs dennoch erzählt, läßt dieses historische Ereignis im Rahmen von H.s Weltbild ans Wunderbare grenzen.

Das Schillernde der Figuren im Kuzari spiegelt sich in der vielfältigen Wirkungsgeschichte des Buches. Rosenzweigs Interpretation hat H. zum Prototypen einer radikalen anti-idealistischen Strömung innerhalb der jüdischen Philosophie gemacht. Einen interessanten Versuch, H.s Theologie im modernen deutsch-jüdischen Kontext zu entwickeln, finden wir in Isaak Breuers Der neue Kusari. Breuer sieht im Kuzari ein Modell für die religiöse und kulturelle Selbstbestimmung inmitten eines vielschichtigen und konfliktreichen gesellschaftlichen Umfelds. Darüber hinaus inspiriert H. schon seit Heine den jüdisch-nationalen Ethos. Zionisten sehen in ihm den symbolhaften Ausdruck der traditionellen Sehnsucht nach dem Land Israel.

Werke:

  • Das Buch Al-Chazari des Abu-l-Hasan J. H. im arabischen Urtext, hg. H. Hirschfeld, Leipzig 1887 (Nd. Jerusalem 1970).
  • Abu-l-Hasan J. H. Das Buch Al-Chazari, übers. H. Hirschfeld, Breslau 1885 (Nd. Wiesbaden 2000).
  • J. H., Ein Diwan, übers. E. Bernhard, Berlin 1920.
  • J. H. Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte, übers. F. Rosenzweig, Berlin 1926.
  • Sechzig Hymnen und Gedichte des J. H., übers. F. Rosenzweig, Konstanz 1924 (Nd. Den Haag 1983). –

Literatur:

  • E. Berger, Das Problem der Erkenntnis in der Religionsphilosophie J.H.s, Berlin 1916.
  • L. Strauss, The Law of Reason in the Kuzari, in: Persecution and the Art of Writing, Glencoe/Illinois 1952, 95–141.
  • S. Pines, Shī‘ite Terms and Conceptions in H.’s Kuzari, Jerusalem Studies in Arabic and Islam 2 (1980), 165–251.
  • Y. Silman, Philosopher and Prophet: J.H., the Kuzari and the Evolution of his Thought, Albany 1995.
  • R. Jospe, Teaching J.H.: Defining and Shattering Myths in Jewish Philosophy, in: R. Jospe (Hg.), Paradigms in Jewish Philosophy, Madison 1997, 112–128.

Yossef Schwartz

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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