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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Moshe ben Maimon

(Akronym: Rambam; lat. Moses Maimonides)

Geb. 1138 in Córdoba;

gest. 1204 in Fusṭāṭ bei Kairo

Der in Andalusien geborene M. mußte schon als junger Mann (um 1149) vor der religiösen Verfolgung der Almohaden fliehen und mit seiner Familie Spanien verlassen. Zuerst wanderte er nach Nordafrika (Fez) aus, dann nach Israel und Ägypten. Als geistiger und halachischer Führer der jüdischen Gemeinden in Ägypten und darüber hinaus auch der Judenschaft im Osten und im Westen hat er eine Reihe von hebräischen und judeo-arabischen Schriften verfaßt. Sein literarisches Werk umfaßt neben einer Fülle von Briefen über politische, halachische und intellektuelle Fragen einen großen Gesetzeskodex, Mishneh Torah (»Wiederholung der Tora«), auch Ha-Jad ha-Chazaqah (»Die starke Hand«) genannt, einen umfangreichen Kommentar zur Mishnah und mehrere medizinische Traktate. Zu seinen philosophischen Schriften gehören das erste Buch der Mishneh Torah, genannt Sefer ha-Mada‘ (»Das Buch der Erkenntnis«), ein kleiner Traktat über Logik (dessen Echtheit gegenwärtig in der Forschung bestritten wird) mit dem Titel Maqālah fi-Ṣinā‘ at al-Manṭiq (oder in seiner hebräischen Übersetzung durch Moshe ibn Tibbon Millot ha-Higgajon bzw. »Begriffe der Logik«), und das theologisch-philosophische Hauptwerk »Führer der Verwirrten« (arab. Dalālat al-Hā’irīn, hebr. Moreh Nevukhim, lat. Dux Neutrorum), das um 1190 entstanden ist. M. starb 1204 in Alt-Kairo (Fusṭāṭ).

Sein philosophisches Weltbild spiegelt nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein allumfassendes ethisches und politisches System wider, das ihm die Möglichkeit bot, als religiöser Gesetzgeber tätig zu sein. Der Dalālat ist in Form eines Briefes an seinen geliebten Schüler Joseph ben Jehudah ben Shimeon verfaßt. In der Einführung entwirft M. die Figur des idealen Lesers seines Buches: Er soll zuvor die verschiedenen propädeutischen Wissenschaften studiert haben, vor allem Logik und Mathematik, aber auch Astronomie und ein wenig Metaphysik. M. hat selber mit seinem Sefer ha-Mada‘, seinem Traktat zur Logik und in seinen verschiedenen Kommentaren Kompendien dieser propädeutischen Wissenschaften erstellt. Im übrigen verwies dieses Curriculum auf die reiche arabische wissenschaftliche Literatur.

Der Dalālat wendet sich an jüdische Philosophen: »Es ist nun keineswegs die Tendenz dieses Werkes, alle diese [d.h. bestimmte figürlich gebrauchte Worte in den Prophetenbüchern] der großen Menge verständlich zu machen, so wie auch nicht denen, die Anfänger im Studium sind, oder denen, die sich bloß mit dem Studium der Gesetze, nämlich mit ihrer traditionellen Auslegung, befaßt haben; vielmehr ist der Gegenstand dieses Buches […] das Studium des Gesetzes nach der Wahrheit; oder vielmehr hat es zum Zwecke, demjenigen Hinweise zu geben, welcher der Religion kundig, mit dem Gesetz vertraut ist und der dieses tatsächlich zum Gegenstand seines Glaubens macht – ein solcher Mensch ist in seiner Religion und seinem Charakter untadelig und hat die Erkenntnisse der Philosophen studiert und hat gelernt, was sie bedeuten. Die menschliche Vernunft hat ihn angezogen und hat ihn in ihrem Bereich wohnen lassen«.

M. sah sich selbst als treuen Anhänger der philosophischen Tradition Andalusiens, in der er aufgewachsen war und die entschiedener als im Osten die Lehre Platons und der Neuplatoniker zugunsten von Aristoteles und der peripatetischen Schule ablehnte. Er definierte sich selbst existentiell und intellektuell wiederholt als Philosoph – offensichtlich auch noch dort, wo er eindeutig als Religionsführer agierte. Im ersten der drei Teile des Dalālat (Kapitel 71), wo er den Hintergrund seiner jüdischen Philosophie mit einer ursprünglich auf die arabische Theologie des Kalām zurückgehenden rationalen Theologie ins Verhältnis setzt, sagt M.: »Das Wenige allerdings, was man im Kalām über die Lehre von der Einheit Gottes und dem was damit zusammenhängt, bei einigen der Geonim und bei den Karäern findet, besteht aus Gedanken, welche diese den arabischen Dialektikern entlehnt haben. Sie sind unbedeutend gegenüber dem, was die Araber darüber geschrieben haben […]. Hingegen hielten die Spanier, die Andalusier unseres Glaubens, durchaus an den Lehren der [peripatetischen] Philosophen fest und neigten sich, insoweit diese den Grundlehren unserer Religion nicht widerstreiten, deren Ansichten zu.« Einige Namen seiner muslimischen Lehrer hat M. selber in seinem Dalālat (II, 9) erwähnt: »Darüber [d.h. die Reihenfolge der Planetenschalen im ptolemäischen Modell] hat schon Ibn Aflaḥ aus Sevilla, mit dessen Sohn ich verkehrte, ein sehr berühmtes Buch geschrieben. Noch später beschäftigte sich der ausgezeichnete Philosoph Abū Bakr ibn al-Ṣā’igh (Ibn Bājjah), von dessen Schülern mich einer unterrichtete, sehr eifrig mit diesem Gegenstande […]«.

Die möglichen Adressaten seines Werks unterteilte M. in drei Gruppen (ganz ähnlich wie Averroes in seinem Kitāb faṣl al-Maqāl, der hierin von al-Fārābī und Ibn Bājjah beeinflußt war): die Ungebildeten, die politischen Herrscher – dieser Schicht sind auch die philosophisch ungebildeten Rabbiner oder Religionslehrer zuzurechnen – und die philosophische Elite. Nur an letztere Gruppe hat sich M. mit seinem philosophischen Werk gerichtet (mehr zu M.s Selbsteinschätzung als Philosoph und der religiösen Schicht findet sich in den Briefen an seine Schüler Shmuel ibn Tibbon und Joseph ben Shimeon). M.s Denken zeichnet sich durch einen souveränen Zugang zu den verschiedenen Kulturen aus, zwischen denen er sich frei bewegte. In einem bekannten Brief M.s an den Übersetzer des Dalālat ins Hebräische, Shmuel ibn Tibbon, listet er die nützlichen und die zu meidenden philosophischen Quellen auf: Platons Schriften seien oft in Metaphern formuliert und deshalb schwer zu verstehen; man könne auf sie verzichten, zumal die Schriften von Aristoteles allumfassend seien. Auch auf die vor-aristotelischen Philosophen könne verzichtet werden. Um die Werke von Aristoteles jedoch ganz zu verstehen, brauche man die Kommentare seiner Exegeten, nämlich die des Alexander von Aphrodisias, Themistius und Averroes. Al-Fārābī übertreffe alle anderen Philosophen auf dem Gebiet der Logik und sei unverzichtbar. Die Lehre Avicennas enthalte zwar einige wichtige Elemente, müsse jedoch vorsichtig und selektiv gelesen werden. Auch Ibn Bājjah sei ein großer Philosoph. Dagegen hat M. die Namen aller anderen Philosophen mit eher kritischen Kommentaren versehen. Die Lektüre von christlichen Autoren wie Jaḥjā ibn Adī lohne nicht, wie auch der Werke von al-Rāzī, der nur Arzt (und nicht auch Philosoph) gewesen sei. Die philosophischen Werke Isaak Israelis belächelte M. als »Phantastereien, Luftgespinste und Nichtigkeiten«. Israelis Kompetenz läßt er nur im medizinischen Bereich gelten. Interessant ist, daß M. einen Autor wie Sa‘adja ben Joseph al-Fajjūmi (Sa‘adja Gaon), der ihn beeinflußte, nie erwähnt; möglicherweise tat er dies, weil Sa‘adja Gaon ein Vertreter der Theologie des jüdischen Kalām war, den er ablehnte. Erstaunlicherweise hat M. auch den der Tradition der jüdischen Philosophie Andalusiens angehörenden Abraham ibn Da’ud, der als Aristoteliker auf verschiedenen Gebieten ähnliche Meinungen wie er selbst vertrat, namentlich nicht erwähnt. Möglicherweise schloß er ihn in sein Urteil über die philosophische Tradition Andalusiens mit ein, wenn er sagte, daß »sie in vielen Punkten mit unseren in dem vorliegenden Werk ausgesprochenen Ansichten im Einklang steht«.

M. unterscheidet weder zwischen philosophischer und theologischer Erkenntnis noch zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Wissenschaft. Es gab für ihn nur einen einzigen Wahrheitsbegriff und nur eine einzige menschliche Erkenntnisweise, und zwar die philosophische. Im Dalālat werden philosophische Inhalte, nämlich zur Physik, Metaphysik und Ethik, in Form eines esoterischen Geheimwissens für die intellektuelle Elite, zum Kern des jüdischen Glaubens erklärt. Die intellektuelle Vollkommenheit, also die Annäherung an Gott, steht nach dieser Lehre nur den Philosophen offen, während die Masse dazu keinen Zugang finden kann. Sie partizipiert allenfalls für den Fall, daß sie unter dem wahren Gesetz eines weisen Philosophen-Propheten leben darf und damit in einer idealen politischen Ordnung, die ihren körperlichen und seelischen Bedürfnissen entspricht. Hierin deutet sich das rationalistische Dilemma von M.s Offenbarungstheologie an. Dort, wo M. die Offenbarung Gottes am Berg Sinai beschrieb (II, 33), mußte er zwischen der Offenbarung, die Moses als Prophet, Philosoph und Gesetzgeber erfuhr, und derjenigen des Volkes Israel unterscheiden: »Es ist mir evident, daß bei der Offenbarung auf dem Berge Sinai nicht alles, was Moses zuteil wurde, ganz Israel zuteil wurde. Vielmehr erging die Rede an Moses allein.« Nur ersterer, der »Ehrwürdigste unter allen Geborenen«, konnte die unbestimmte und unheimliche Sprache Gottes in eine verständliche Rede übersetzen. Das Volk durfte nicht mit auf den Berg steigen und mußte sich mit den Worten von Moses begnügen. Gleichzeitig erklärte M. aber in Anlehnung an rabbinische Quellen, daß auch das Volk die ersten zwei Gebote erhalten habe, und zwar unabhängig von Moses. Damit war ein theologisch-politisches Postulat verbunden: »[…] weil diese beiden Grundlehren, nämlich das Dasein und die Einheit Gottes, in Wahrheit durch die menschliche Forschung erkannt werden können«, stellen sie eine natürliche, allgemein-zugängliche und universale Erkenntnis dar. Hierdurch entstand eine Verbindung aus platonischem politischem Denken mit jüdischem Messianismus. M. hatte damit eine Utopie formuliert, die für das Denken des Spätmittelalters sehr wichtig werden sollte. Jedoch ist diese messianische Utopie der jedermann zugänglichen universalen Erkenntnis der Existenz Gottes mit zentralen Aspekten seiner religiösen Spekulation verbunden, nämlich der extremen wissenschaftlich-philosophischen Umdeutung der Einheit und Einfachheit Gottes. Damit entstand eine starke Diskrepanz zwischen dem literarischen Inhalt der Offenbarung in der Heiligen Schrift, zumal wie sie die ungebildete Menge verstand, und der wahren Natur Gottes, die nach M. auch der wahre Inhalt der Schrift sei. Diese Diskrepanz ist der Grund für die zwei bekanntesten Charakteristika der maimonidischen Philosophie: die Esoterik und die Hermeneutik.

Die Esoterik M.s besteht in der Kunst, eine Doppeldeutigkeit im Text zu schaffen, die eine ontologische Zweiteilung reflektiert: Gott und Welt konstituieren zwei voneinander vollkommen getrennte Bereiche der Realität. Diese ontologische Differenz wurde von M. eng mit der Exegese der Bibel verbunden, weswegen der Dalālat ein exegetisches Werk genannt werden kann. In seiner Einführung erklärt M., sein Werk habe ein doppeltes Ziel: Es diene erstens dazu, »die Bedeutung gewisser Worte zu erläutern, die in den Büchern der Prophetie vorkommen«, und zweitens, »die sehr dunklen Gleichnisse zu erklären, die in den Prophetenbüchern vorkommen«. Manchmal seien diese Worte oder Gleichnisse mehrdeutig, würden aber beim ungebildeten Leser nur in einer ihrer Bedeutungen aufgefaßt; manchmal seien sie metaphorisch und würden nicht in ihrem tieferen, sondern nur in ihrem buchstäblichen Sinn aufgefaßt. Diese falsche Lektüre der Heiligen Schriften verursache ein verhängnisvolles Mißverständnis in bezug auf Gott. Er werde körperlich vorgestellt, wodurch seine vollkommene Einheit verneint werde: »Wer an die Körperlichkeit Gottes glaubt, den hat nicht die Forschung seines Verstandes dazu gebracht, sondern der Umstand, daß er der wörtlichen Auffassung des Schriftwortes folgte« (I, 53). Das Hauptziel aller religiösen Gesetze sei es aber, den Götzendienst zu bekämpfen. So handhabt M. als Philosoph einen doppelten Sprachakt, der den zweistufigen Bau des geschaffenen Seins wie auch die doppelte Rationalität des (durch den Philosophen Moses gegebenen) Gesetzes widerspiegelt.

Aus der lexikographischen Diskussion biblischer Stellen im ersten Teil des Dalālat, in denen über die Natur Gottes gehandelt wird, entwickelt sich am Ende dieses Teils eine systematische Diskussion des Gottesnamens. Als guter Aristoteliker leugnet M. den Sinn der Tautologie im Bereich des Wissens. Das wissenschaftliche Wissen ist informativ. Jede wissenschaftliche Aussage soll etwas Neues über die Welt mitteilen. Steht das Sprechen über Gott unter diesen strengen Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses, dann darf eine Aussage über Gott nicht tautologisch sein. Selbst wenn über Gott ausgesagte Eigenschaften sein Wesen erfaßten, wäre doch die Rede über Gott tautologisch: »Wäre nämlich die Eigenschaft das Wesen des mit ihr Dargestellten, dann wäre sie nur eine Tautologie, etwa wie wenn man sagte: ›Der Mensch ist ein Mensch‹, oder eine Worterklärung, wie wenn man sagte: ›Der Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen‹«. Vielmehr enthält jeder Satz, der auf Gott angewandt wird, ein Subjekt und ein Prädikat, welche mit unserer Sprache und mit unserer Erkenntnis nichts gemein haben, so daß jeder Satz über Gott eine reine Tautologie ist von der Art ›Gott ist Gott‹. M.s negative Theologie hat einen ontologischen, einen erkenntnistheoretischen und einen semantischen Aspekt. M. bestimmt das vollkommene Anders-Sein Gottes ontologisch (Gott als das ganz Andere). Epistemologisch behauptet er aber, daß ein solch radikal transzendenter Gott von seinen Geschöpfen niemals anerkannt werden kann. Semantisch formuliert er eine parallele Aussage in seiner Lehre von den Attributen Gottes. Was jenseits der Welt und jenseits der Erkenntnis liegt, liegt notwendigerweise auch jenseits der Sprache. Der biblische Gott kennt jedoch eine Reihe von Attributen, die Eigenschaften von ihm bezeichnen. Wegen der Einheit Gottes aber ist es notwendig, daß ihm außer seiner Einheit und Einfachheit keine weiteren Eigenschaften beigelegt werden. Aus diesem Grund müßten alle jene in der Bibel Gott beigelegten Attribute oder Namen verneint werden: »Die verneinenden Aussagen von Gott sind die wahren Aussagen.«

Um dennoch zur wahren Erkenntnis Gottes zu gelangen, wählt M. als Konsequenz aus den geschilderten Problemen die wissenschaftliche, informative und in negativer Form formulierte Rede über Gott. Schließlich geht er aber auch noch über diese Schlußfolgerung der negativen, wissenschaftlichen Rede hinaus und verweist auf den Akt des Schweigens: »Aber der bemerkenswerteste Ausspruch in dieser Hinsicht [nämlich dem Gotteslob der Philosophen] ist der des Königs David im Psalm: ›Dir wird im Schweigen Lob‹ (Ps. 65,2), nämlich das Schweigen ist für dich ein Lob. Und dies ist ein für diese Angelegenheit sehr wichtiger und beredter Ausdruck. Er will sagen, daß wir in allem, was immer wir sagen mögen, um Gott Größe und Ruhm zuzuerkennen, etwas in Beziehung auf Gott Anstößiges finden. Somit ist es ihm gegenüber geziemender zu schweigen und sich darauf zu beschränken, was die Intellekte erkennen, wozu die Untadeligen gemahnt haben als sie sagten: ›Erwägt es in eurem Herzen auf eurer Lagerstätte und schweiget!‹ (Ps. 4,5).«

Es handelt sich hier um eine besondere Art des Schweigens, nämlich ein Schweigen der äußeren Sprache, in der die inneren Gedanken in ihrer stillen Reinheit wirken, um »das zu berücksichtigen, was die Intellekte erkennen«. In seinem frühen Traktat zur Logik schreibt M. im vierzehnten und letzten Kapitel über die Gewährleistung der begrifflichen Wahrheit mit Hilfe der Logik im Übergang vom inneren zum äußeren Wort: »Die Beziehung zwischen der Wissenschaft der Logik und der Vernunft ist der Beziehung zwischen der Wissenschaft der Grammatik und der Sprache gleich.« M. unterscheidet hier zwischen der inneren, logischen und der äußeren, grammatischen Syntax. Am Ende seines Weges kehre der Philosoph in die innere universelle Syntax der Logik zurück, wo er über Gott und alle göttlichen ewigen Wahrheiten nachdenken kann. Solange er die hörbare menschliche Sprache benutzt, muß er auf ein letztes Wahrheitsmoment verzichten. Erst im Schweigen vereinigen sich Gott und der Philosoph in einem kosmischen Exil. Mit anderen Worten: Nur das Schweigen vermeidet die mythologische Ebene der Sprache.

Nachdem M. vor allem im ersten Teil des Dalālat die negative Hermeneutik des Gottesnamens behandelt hat, werden in den beiden verbleibenden Teilen folgende Themen diskutiert: Metaphysik, Kosmologie (besonders die Frage nach der Ewigkeit der Welt), Prophetie, Theodizee (besonders Gottes Vorsehung), Begründung des Gesetzes und die letzte Vollkommenheit des Menschen. Es besteht eine gewisse Inkohärenz zwischen der radikalen Negativität der Rede über Gott im ersten Teil des Dalālat und dem wissenschaftlichen Optimismus der kosmologischen und metaphysischen Diskussionen in den beiden anderen Teilen des Werkes. Hier vermittelt nämlich eine durch vernünftige (und damit der menschlichen Vernunft erkennbare) Gesetze geleitete und aus der Weisheit Gottes entstandene Natur zwischen Mensch und Gott. Ein Beispiel für diese Synthese aus Philosophie, Wissenschaft und Offenbarung findet sich in M.s unterschiedlichen Deutungen der Engelwesen. Auch hier macht er von zwei sprachlich unterschiedlichen Quellen Gebrauch: zum einen von Aristoteles und der gesamten aristotelischen Kosmologie und Physik, zum anderen von den verschiedenen mythischen Beschreibungen in der biblischen und rabbinischen Literatur. Entscheidend ist M.s wissenschaftliche und metaphysische Identifikation der Engel mit den translunaren himmlischen Sphären. Um eine solche Identifizierung zu ermöglichen, erklärt er, daß die himmlischen Sphären als lebendige Lebewesen und als Intelligenzen im Sinne des Aristoteles zu verstehen seien (II, 4–5). Erst dann geht M. dazu über, die Existenz und Natur der Engel nach der jüdischen Tradition zu analysieren. Mit Hilfe der verschiedenen biblischen Termini für die Engel erklärt er die Natur der unveränderlichen und ewigen kosmischen Kräfte wie auch ihre Beziehungen zu dem kontingenten Leben der sublunaren Welt der Elemente. Auf diese Weise bestimmt er die kosmischen Kräfte als (unkörperliche) Intelligenzen bzw. Seelen der himmlischen Körper und die Beziehung zur sublunaren Welt als die Naturgesetze. Das mythische Weltbild der Dämonen und der in die Welt eingreifenden himmlischen Potenzen verschwindet und wird zum Produkt der Einbildungskraft der Propheten erklärt. An seine Stelle tritt das naturalistische Weltbild der Philosophen. M. erklärt, daß genauso wie unter den Philosophen auch im himmlischen Bereich das rationale Schweigen herrsche. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich bei der Behandlung der übrigen klassischen Themen jüdischer Religiosität: des Wunders, der göttlichen Vorsehung, des jenseitigen Lohns der Seele, der Begründung des Gesetzes etc. Auch in diesen Themenbereichen entwickelt M. seinen kohärenten Naturalismus als leitendes exegetisches Prinzip.

M. hat seine philosophischen, wissenschaftlichen und religiösen Ideen auch in anderen literarischen Formen entwickelt. Er tat dies in Form einer Exegese der rabbinischen Literatur genauso wie in Form seines großen halachischen Kodexes, der Mishneh Torah. Der Unterschied zwischen seinen in einem systematischen, philosophischen Stil geschriebenen Werken wie dem Dalālat und seinen auf traditionelle Weise abgefaßten Texten bedingte allerdings ihre unterschiedliche Rezeption. So wurde M. (dank der hebräischen Übersetzung des Dalālat) in der Provence und in Italien von jüdischen Rationalisten seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts als Philosoph rezipiert. Schon ihre ersten Interpreten brachten sein Werk mit der Lehre des Averroes in Verbindung. Die aschkenasischen Juden hingegen sahen in M. von Anfang an einen Lehrer der Halacha. Hier gipfelte M.s Rezeption in der Behauptung des Jakob Emden, daß der Dalālat eine Fälschung sei.

Der rabbinische Widerstand gegen M. wandte sich nicht nur gegen bestimmte Stellen im Dalālat, sondern betraf dessen rationalistische Methode als Ganzes. Die meisten seiner Gegner aber richteten ihre Angriffe nicht so sehr gegen M. als Person – dazu war seine halachische Autorität zu groß –, sondern gegen seine philosophischen Werke, vor allem gegen den Dalālat und das Sefer ha-Mada‘. Die im 13. und 14. Jahrhundert immer wieder aufflammende Polemik der Traditionalisten gegen die Rationalisten bekämpfte die Nachfolger M.s, die Maimonisten, die M.s Werken eine quasiheilige Autorität verliehen hatten. Der Kompromiß, mit dem der Streit beendet wurde, ist vor allem mit dem Namen des Nachmanides verbunden: Der Bann gegen den philosophischen Teil von M.s halachischem Gesetzeskodex wurde aufgehoben; gleichzeitig wurden strengere Regeln für das Studium des Dalālat festgelegt. Nachmanides behauptete, M. selbst habe in der Einleitung zu diesem Werk eindeutig erklärt, sein Buch solle nicht zu einem weit verbreiteten Schulbuch werden, sondern nur von einzelnen, hochgebildeten Gelehrten gelesen werden.

Kurz nach den hebräischen Übersetzungen des Dalālat durch Jehudah al-Charizi und Shmuel ibn Tibbon folgte eine lateinische Übersetzung, die zwischen 1320 und 1340 entstanden ist. Sie wurde seit Albertus Magnus (um 1200–1280) von den Gelehrten der Hochscholastik intensiv gelesen. In der christlichen Scholastik wurde M. jedoch mehr als Theologe denn als Philosoph rezipiert. Dies verdeutlicht die Tatsache, daß M. weder in den Schriften der Professoren der Artes noch von den Anti-Aristotelikern, sondern von den Magistern der Theologie und zwar hauptsächlich in ihren theologischen Schriften zitiert wurde. Im Kontext dieser theologischen Werke taucht M. aber nicht in dem inneren Diskurs der christlichen Theologie auf, sondern steht eher für die Idee einer an die heidnische Philosophie angrenzenden natürlichen Theologie (scientia divina, nicht aber scientia Dei). So wurde M. innerhalb der scholastischen Wissenschaften zu einem »Philosophen der Theologen«.

Werke:

  • Dalālat al-Ḥā’irīn, hg. S. Munk, Paris 1856–66 (Nd. Osnabrück 1964).
  • Führer der Unschlüssigen, übers. A. Weiss, Leipzig 1923 (Nd. Hamburg 1995).
  • Acht Kapitel: Eine Abhandlung zur jüdische Ethik und Gotteserkenntnis, Arabisch und Deutsch von M. Wolff, Hamburg 1981, 19922.
  • Das Buch der Erkenntnis, hg. E. Goodman-Thau und C. Schulte, Berlin 1994.
  • I. Efros (Hg.), M.’ Treatise on Logic: The Original Arabic and Three Hebrew Translations, New York 1938.
  • Letters and Essays of M.M.: Critical Edition of the Hebrew and Arabic Letters, hg. I. Shilat, Jerusalem 1988.
  • D. Hartman, Crisis and Leadership: Epistles of Maimonides, Philadelphia 1985. –

Literatur:

  • W. Bacher, M. Brann, D. Simonsen (Hg.), M.M.: Sein Leben, seine Werke und sein Einfluss, Leipzig, 1908 (Nd. Hildesheim/New York 1971).
  • L. Strauss, Philosophie und Gesetz, Berlin 1935 (Nd. Stuttgart 1997).
  • ders., How to Begin to Study the Guide of the Perplexed, in: M.M., The Guide of the Perplexed, übers. S. Pines, Chicago 1963, XI-LVI.
  • L. V. Berman, M., the Disciple of Alfarabi, IOS 4 (1974), 154–178.
  • S. Pines, Translator’s Introduction: The Philosophic Sources of the Guide of the perplexed, in: M.M., The Guide of the Perplexed, ebd., LVII-CXXXIV.
  • ders., The Limitation of Human Knowledge According to Al-Farabi, Ibn Bajja and M., in: I. Twersky (Hg.), Studies in Medieval Jewish History and Literature, Cambridge (Mass.) 1979, 82–109.
  • I. Twersky, Introduction to the Code of M., New Haven/London 1980.
  • F. Niewöhner, M.: Aufklärung und Toleranz im Mittelalter, Heidelberg 1988.

Yossef Schwartz

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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