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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Sabattja Josef Wolff

Geb. September 1756 in Berlin;

gest. 28.2.1832 ebenda

Von W.s Leben ist wenig bekannt, nicht einmal das genaue Datum seiner Geburt. Auch in zeitgenössischen Verzeichnissen von Schriftstellern sind die biographischen Einzelheiten spärlich. Seinen Schriften, die Erinnerungen an Salomon Maimon ausgenommen, entnimmt man kaum die Namen seines engeren Bekanntenkreises. W.s Erscheinung aber repräsentiert eine typisch deutschjüdische Geisteshaltung, die für die Glanzzeit der deutsch-jüdischen Symbiose im bürgerlichen Zeitalter repräsentativ sein dürfte. Sie umfaßt einen wissenschaftlichen Beruf (W. war Arzt), eine moralisch-politische Überzeugung von der Notwendigkeit der bürgerlichen Emanzipation der Juden und, wie man sie etwa bei solchen exemplarischen Vertretern der deutsch-jüdischen Kultur wie Heine, Freud oder Kafka findet, eine feinfühlige Begabung dafür, an der eigenen Persönlichkeit die selbstbetrügerischen Tücken der menschlichen Seele, die Exzentrizitäten menschlichen Verhaltens, aufzuzeigen.

Als Vertreter der praktischen Vernunft zeigt sich W. in seiner Tätigkeit als Arzt. Sein medizinisches Hauptwerk, Die Kunst krank zu seyn nebst einem Anhange von Krankenwärtern wie sie sind und wie sie sein sollten (1811), setzt sich für den Begriff der Volksaufklärung ein, vor allem hinsichtlich der persönlichen Verantwortung für den eigenen Gesundheitszustand. »Hätten die Menschen einen aufgeklärten Begriff von ihrer körperlichen Beschaffenheit, von Gesundheit, Krankheit, Arzt und Medizin, so würden sie gewiß […] nicht so leichtsinnig mit sich verfahren.« Ganz im Sinne der empirischen Psychologie der Berliner Aufklärung, wie sie sowohl von jüdischen (Mendelssohn, Herz, Maimon) als auch von deutschen (Moritz, Zimmermann) Intellektuellen vertreten wurde, empfiehlt er die Selbstbeobachtung als therapeutisches Mittel, um Krankheiten vorzubeugen: »Der Mensch, welcher gehörig auf sich acht hat, wird selten des Arztes bedürfen, und derjenige, welcher es nicht thut, wird selten gesund seyn, er mag noch so viele Aerzte brauchen.« Für W. ist die medizinische Volksaufklärung das Gegenstück zu der von ihm verfochtenen, damals zunehmenden Professionalisierung des Arztberufs. Die moderne klinische Auffassung der Medizin verlangt vom Kranken einen ebenso aufgeklärten Begriff sowohl dessen, was es heißt, krank zu sein, als auch eine aufgeklärte Einsicht in den medizinischen Sinn der ärztlichen Behandlung. Als »rationeller Arzt«, der sich an Hufeland, Zimmermann, La Mettrie und Reil orientiert, tadelt W. nicht nur die noch geläufige Voreingenommenheit für Scharlatane und »Mode-Aerzte«, sondern auch ein Gesellschaftssystem, das Unwissenheit, Armut und schlechte Arbeitsverhältnisse immer noch duldet. Aus diesem Grunde möchte er – vor allem in jüdischen Gemeinden – den Krankenwärtern einen gehobenen Begriff ihrer medizinischen Wichtigkeit, folglich ihres Standes, verschaffen.

Mit derselben rationalen Nüchternheit beurteilt W. den jüdischen Reformversuch der späten 1780er Jahre. Er hält ihn für unrealistisch, weil er »den großen Haufen« der Juden nicht betrifft: »Fast scheint es, als haben diese Männer, indem sie diesen Plan entwarfen, dabei nur auf ihresgleichen Rücksicht genommen, die doch bei weitem nur den kleinsten Theil ausmachen. Aber mußte nicht die Nation als ein weit größerer Cirkel betrachtet werden, als der war, worin sie betrachtet wurde?« (Freymüthige Gedanken über die vorgeschlagene Verbesserung der Juden in den Preußischen Staaten, 1792). W. zufolge fördert das traditionelle Judentum mit seinen Zeremonien und Gebräuchen einen hergebrachten, religiösen »Eigensinn«, der die Juden prinzipiell aus der breiteren Gesellschaft ausschließt: »Wenn es also wahr ist, daß größtentheils die Religion es ist, die den Juden hindert, das zu seyn, was er […] seyn könnte, so wird er auch nie das werden, so lange die Hindernisse von dieser Seite nicht wenigstens zum Theil gehoben sind. […] Dabei ists auch nicht zu leugnen, daß man bei der Fortdauer dieser Hindernisse nie etwas von dem Juden fordern oder erwarten könne, was er nicht schon leistete, denn was er leisten kann, leistet er schon jetzt.« Diese Ansicht ist nicht verwunderlich, zumal W. sein »Glaubensbekenntnis« in drei Worten zusammenfaßt: »Ich glaube nichts«, und es mit dem folgenden Verspaar erklärt: »Wer seiner Sach gewiß ist,/Der nicht zu glauben braucht«. Und er fügt noch hinzu: »Im göttlichen Spinoza hab ich Gott erkannt,/In Spinoza’s Gott habe ich Spinoza erkannt« (Tripotage! bey verschiedenen Gelegenheiten […] zubereitet […] im Jahre 1814, 1815). Später noch, in seinem Sendschreiben an Herrn Julius Voß (1819), begreift W., daß die alten, abergläubischen Vorurteile gegen die Juden zur Zeit der sich anbahnenden industriellen Revolution durch einen neuen Antisemitismus ersetzt werden, der den Neid um die finanzielle Macht der Juden zur Grundlage hat.

W.s Schriften zeugen auch von einer scharfen Beobachtungsgabe und einer Vorliebe für moralisch-ironische Vorfälle und Anekdoten sowie für satirisch gefärbte Kommentare über das damals sehr bewegte Tagesgeschehen. Sie verhalfen ihm dazu, in Maimonia oder Rhapsodien zur Charakteristik Salomon Maimons (1813) die letzten Lebensjahre des jüdischen Philosophen und Kantianers auf sympathische Weise zu schildern. Sie drücken sich vornehmlich in mehreren, an Swift und Young orientierten Aphorismen- und Anekdotensammlungen aus, die er auf eigene Kosten veröffentlichen ließ und mit verschiedenen humoristischen Titeln versah, u.a. Streifereien im Gebiete des Ernstes und des Scherzes (1818, 1819; dies eine Anspielung auf eine Aufsatzsammlung Maimons, Streifereien im Gebiete der Philosophie von 1793) oder Ausverkauf meiner schriftstellerischen Arbeiten (1823). Den kritisch-satirischen Impetus dieser Werke charakterisierte er folgendermaßen: »die Satyre [schießt] ihre Pfeile nicht bloß nach schon vorhandenen Gegenständen ab […]: die Dinge die sie verspottet und belächelt, dürfen nicht immer schon dagewesen seyn. Denn es giebt eine gewisse Verderbtheit der Sitten, die sich lange vor ihrem Erscheinen ankündigt; diese Erscheinung selbst zu verhüten ist ja weit leichter und löblicher, als bereits bestehende Fehler auszurotten« (Launen-Pastete, 1816). In diesem diagnostischen Blick mag der spätere, von Freuds Einsichten geschulte Leser Anzeichen einer Psychopathologie des Alltagslebens erkennen, in W.s Witzigkeit selber allerdings das Symptom einer schwierigen Assimilation. Letztere zeugt von einem ironisch-selbstkritischen Bewußtsein, einem distanzierten, wenn nicht ambivalenten Verhältnis zur sozialen Umwelt, das gerade im normalen Leben die Vielfalt der ›menschlichen Komödie‹ erkennt. Leider aber ist die Substanz dieser Schriften, die Alltäglichkeit selber, eine ephemere. Auch war W., der nach eigener Aussage keinen anfeinden wollte, zu gutmütig, um etwa mit einem Börne oder Heine zu wetteifern. Ein paar Generationen später sollte Theodor Lessing diese Art deutsch-jüdischer Haltung als diejenige eines »Luftmenschen« abtun. Dagegen zeigt aber W., daß die sowohl metaphysisch als auch existentiell gefährdete Situation eines jüdischen Intellektuellen, der das religiöse Judentum ablehnt, die Zuflucht zur praktischen, gegenwartsbezogenen Vernunft doch rechtfertigt. Dieselbe Situation mag aber auch erklären, warum eine doch einmalige deutsch-jüdische Gestalt wie diejenige W.s samt ihrer Lebenswelt später vergessen werden konnte.

Weitere Werke: Wieder Juden. Sendschreiben an Herrn Julius Voß, veranlaßt durch die, von ihm mir gewidmete Schrift die Hep Heps, zur Vertheidigung der Christen, Berlin 1819. –

Literatur:

  • Verzeichniss im Jahre 1825 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke, Berlin 1826.
  • Neuer Nekrolog der Deutschen, B.F. Voigt (Hg.), Bd.10, Ilmenau 1834.

Martin L. Davies

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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