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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Salomon Maimon

(eigentl.: Shlomo ben-Jehoshua)

Geb. 1753 in Sukowiburg bei Nieswiecs (Litauen); gest. 22.11.1800 in Nieder-Siegersdorf (Schlesien)

In Leben und Werk repräsentiert M. radikale Aufklärung. In seiner von ihm selbst verfaßten und weit bekannten Lebensgeschichte stellte M. sein Leben als einen Bildungsprozeß dar, der von dem traditionell jüdischen Leben in den »littauischen Wäldern, entblößt von jedem Hülfsmittel zur Erkenntniß der Wahrheit«, nach Berlin zur Aufklärung führte, um die »eifrige Begierde […] die Wahrheit zu erreichen« durch das Studium der Wissenschaften zu stillen (VI, 423–24). Die Lebensgeschichte erschien in zwei Teilen (1792/93): Der erste Teil ist M.s Leben in der jüdischen Lebenswelt vor seiner Niederlassung in Berlin, der zweite seinem Leben in Berlin und seiner zunehmenden Entfernung vom Judentum gewidmet. Den Übergang von der traditionellen Religion zur Aufklärung bezeichnete M. als »geistliche Wiedergeburt« (I, 301). Entsprechend widmete M. der Darstellung der jüdischen Religion und seiner philosophischen Entwicklung breiten Raum, vor allem aber der auszugsweisen Übersetzung des Moreh Nevukhim (»Führer der Verwirrten«) des Maimonides, dem er einen »entscheidenden Einfluß« auf seine »glückliche Verwandlung« (I, 307) zuschrieb und nach dem er sich »Maimon« nannte.

M. erhielt eine traditionell jüdische Bildung, orientiert zunächst am Bibel-, dann am Talmud-Studium. Nach eigenen Angaben konnte er bereits im Alter von elf Jahren »einen vollkommenen Rabbiner abgeben«. In diesem Alter wurde er auch verheiratet und mit vierzehn Jahren Vater. Obwohl von seinem Vater angehalten, ausschließlich den Talmud zu studieren, fand M., der sich selber das deutsche und das lateinische Alphabet beibrachte, Wege, einige (veraltete) wissenschaftliche Werke zu studieren, vor allem aber den Moreh Nevukhim des Maimonides. Er studierte auch Werke der Kabbala, die er bereits im Lichte der Lehren des Maimonides auslegte.

M. sagte von sich, er sei in seiner Jugend »ziemlich religiös« gewesen und hätte auch verschiedene Formen der Askese praktiziert; er sei von diesen Praktiken jedoch unter dem Einfluß des Maimonides abgekommen, der »kein Freund von Schwärmerei und Frömmeln« gewesen sei (I, 185). Dennoch zog es M. zunächst zu der sich damals formierenden Bewegung der Chassidim, namentlich zum Hof des Rabbi Dov Bär von Meseritz (»der große Maggid«). M. wandte sich jedoch enttäuscht bald wieder ab. Er kritisierte die Vernachlässigung des weltlich-wissenschaftlichen Wissens, aber auch die angeblich von den »Oberen« vollbrachten Wunderwerke, für welche sie von ihren Anhängern verehrt wurden und die M. als Taschenspielertricks entlarvte (I, 233f).

1778, im Alter von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, ging M. nach Deutschland, um »Medizin, und bei dieser Gelegenheit auch andere Wissenschaften« zu studieren. Über Königsberg und Stettin gelangte M. nach Berlin, wurde jedoch von den Vertretern der jüdischen Gemeinde wegen seiner »ketzerischen Denkungsart«, die sich in seinem Vorhaben äußerte, den Moreh Nevukhim kommentiert herauszugeben, nicht zugelassen. Nach einem halben Jahr des Herumirrens als Wanderbettler kam M. nach Posen, wo er in Ehren als Gelehrter aufgenommen und die »glücklichste und ehrenvollste Periode« seines Lebens verbrachte. In Posen verfaßte (oder beschloß) M. ein Konvolut von fünf Schriften unter dem Namen Chesheq Shlomo, das noch nicht veröffentlicht oder eingehend studiert wurde, darunter eine Maaseh Livnat ha-Sapir (»Werk leuchtenden Saphirs«), welche eine maimonidische Lektüre der Kabbala unternimmt. M. entfernte sich jedoch bereits »durchs fleißige Studieren des Moreh Nevochim« so weit von den in dieser Gemeinde herrschenden Auffassungen, daß er sich gezwungen sah, wieder nach Berlin zu gehen. Diesmal wurde er zugelassen (etwa März 1780), ließ sich in Berlin nieder, rasierte seinen Bart und legte »deutsche« Kleidung an; vermutlich hörte er um diese Zeit auf, die jüdischen Ritualgesetze zu befolgen. In späteren Jahren meinte er, daß die »sogenannte Harmonie zwischen Glauben und (theoretischer) Vernunft«, die Maimonides stiften wollte, nichts anderes bedeute »als die gänzliche Aufhebung des erstern durch die letztere« (VII, 640). M.s Einstellung zur Religion überhaupt und insbesondere zum Judentum drückte er in der Reflexion über seinen eigenen Lebensweg so aus: »Die melancholische und schwärmerische Religion wurde nach und nach in eine Vernunftreligion verwandelt« (I, 306 f.).

M. verwendete zwei Parameter zur Beurteilung der »philosophischen Systeme der Theologie«, d.h. aller systematischen Philosophien und religiösen Lehren. Der eine Parameter war die Förderung oder Vernachlässigung der Wissenschaften, der andere, ob »Einbildungskraft« und »Schwärmerei« oder der »Verstand« das System ausgestalte. Die Kabbala (ebenso wie die Philosophie Giordano Brunos) wurde z.B. kritisiert, weil sie der schwärmerischen Einbildungskraft und nicht dem Verstand folge und daher die Wissenschaften vernachlässige und sich im »Labyrinth des Hyperphysischen« verirre (I, 216). Der Monotheismus wurde wegen seiner Orientierung am abstrakten Verstand befürwortet, doch wegen der Konzentration auf die »Erste Ursache« bei Vernachlässigung der Wissenschaften kritisiert. Diese Kritik begründete M.s Programm der Aufklärung der Juden durch wissenschaftliche Bildung. Er befürwortete sowohl die (verstandesmäßige) Pflege der Wissenschaften als auch der Metaphysik. Die Philosophen, die diesen beiden Kriterien genügten, wären Maimonides, Leibniz und Kant.

In Berlin studierte M. Wolffs deutsche Metaphysik (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch von allen Dingen überhaupt, 1719), lernte Mendelssohn kennen und pflegte mit ihm einen sehr polemischen philosophischen Diskurs, in dem er vor allem dessen Philosophie und Theologie kritisierte. Bei aller Bewunderung für den Philosophen und den Menschen Mendelssohn meinte M., daß Mendelssohn aus »politischen« Rücksichten ein »philosophischer Heuchler« gewesen sei (I, 470, 497; VII, 629).

Wegen der Planlosigkeit seines Lebens, seiner heterodoxen Ansichten und schließlich seines Lebenswandels, der »den sinnlichen Vergnügungen sehr ergeben« war, verlor M. die Gunst seiner Mäzene und mußte Berlin verlassen. Unterstützt von einem wohlhabenden Juden, begann M. am 23. Juni 1783 sein Studium am Gymnasium Christianäum in Altona und blieb dort bis März 1785. Er vertiefte dort seine Kenntnisse der Mathematik, lernte Latein, Englisch und Französisch und verließ die Schule mit einem ehrenvollen Zeugnis. M.s soziale Stellung blieb prekär. Neben Gelegenheitsanstellungen und -arbeiten suchte er stets Mäzene, die ihn unterhielten. Noch 1791 schrieb er an den Philosophen K. L. Reinhold, daß dieser »Professor einer berühmten Universität« sei »und ich hingegen gar nichts bin«. Als M. wieder in Berlin war, besprach er mit Mendelssohn, Bendavid und anderen Projekte jüdischer Aufklärung, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Das Projekt der jüdischen Aufklärung, das der Kreis um die Zeitschrift Ha-Me‘assef (»Der Sammler«) vertrat, beurteilte M. skeptisch, veröffentlichte jedoch in dieser Zeitschrift mindestens zwei Aufsätze und im angeschlossenen Verlagshaus unter dem Titel Giv‘at ha-Moreh (»Hügel des Führers«, 1791) anonym seinen Kommentar zum ersten Teil des »Führers der Verwirrten«. Seine Auffassung der Aufklärung kam darin deutlich zum Ausdruck, daß er gegen Vorschläge, Aufklärung mittels Werken der Geschichte und der natürlichen Theologie zu verbreiten, ein mathematisches und ein physikalisches Lehrbuch in hebräischer Sprache verfaßte (das noch erhaltene Manuskript trägt den Titel Ta‘alumot Chokhmah bzw. »Geheimnisse der Weisheit«, 1787). M. wurde auch später von jüdischen Mäzenen unterstützt, gehörte aber keiner jüdischen Gemeinde mehr an und verteidigte in einer Kritik an Mendelssohn das Recht eines Juden, aus dem »jüdischen Staat« auszutreten und »bloß als Mitglied eines bürgerlichen Staats« nur noch dessen Gesetze zu befolgen (I, 482–484). In einem posthum veröffentlichten Dialog bezeichnete er sich jedoch als einen »Mann von jüdischer Nation«.

In Berlin studierte M. Kants Kritik der reinen Vernunft. Seinen Kommentar zu diesem Werk schickte Marcus Herz mit einem Begleitbrief an Kant. Dieser erwiderte, daß nicht allein »niemand von meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern daß auch nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen so viel Scharfsinn besitzen möchten, als Herr Maimon« (I, 560). Dieses Manuskript wurde M.s erstes Buch, Versuch über die Transcendentalphilosophie, das 1790 erschien. Aufsätze von M. erschienen im Berlinischen Journal für Aufklärung und in der Deutschen Monatsschrift, dann auch im Magazin für Erfahrungsseelenkunde, dessen letzte beiden Bände M. herausgab (zunächst mit K.Ph. Moritz und nach dessen Tod alleine). Seine weiteren Bücher fanden wenig Beachtung (Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens, 1794; Kritische Untersuchungen etc., 1797). Um die Mitte der neunziger Jahre wurde M. von Graf Adolph Kalckreuth in dessen Haus, zunächst bei Berlin, später in Nieder-Siegersdorf bei Freystadt in Niederschlesien aufgenommen und blieb dort bis zu seinem frühen Tode. Nach späteren Berichten wurde M.s Leichnam von der jüdischen Gemeinde in Glogau geschändet und ohne Ehren bestattet, ein Teil seines Nachlasses auf dem Hof der dortigen Synagoge verbrannt.

Obwohl sich M. vom Judentum trennte, blieb er freilich von seinem früheren Leben geprägt. Dies gilt nicht nur für manche Gewohnheiten und Vorlieben, vielleicht auch für seine Argumentationsform, sondern vor allem auch für den auffälligen unsystematischen Stil seiner Schriften. Manche schlossen daraus, daß M. kein systematischer Denker war. Er selbst charakterisierte sein Denken als systematisch und seine Darstellungsweise als kommentierend. Die literarische Form des Kommentars, in der jahrhundertelang auch systematische Philosophie betrieben worden war, war seit der Renaissance verdrängt worden, erhielt sich aber in der traditionellen jüdischen Kultur, wo M. sie kennengelernt und sich angeeignet hatte. In der Tat sind die meisten von M.s Schriften entweder mehr oder weniger explizit als Kommentare gekennzeichnet (so vor allem sein Kommentar zu Maimonides, aber auch die kommentierten Ausgaben von Pemberton und Bacon und sogar sein Versuch über die Transzendentalphilosophie). Andere Schriften bedienen sich literarischer Formen wie der des Dialogs oder des Briefwechsels, die es ihm ermöglichten, eine Anschauung durch einen Sprecher zu präsentieren und von dem anderen kommentieren zu lassen (so in den Kritischen Untersuchungen und im Briefwechsel mit Reinhold).

M.s erstes Buch, Versuch über die Transcendentalphilosophie (1790), kommentierte Kants Kritik der reinen Vernunft, und zeitlebens blieben Kants Schriften der literarische Gegenstand von M.s Kommentaren, doch war er niemals »Kantianer«. Die Philosophiegeschichtsschreibung beurteilt M.s Denken vornehmlich in der Perspektive der Entwicklung von »Kant zu Hegel« und wurde daher nur einigen Aspekten seines Denkens gerecht. M. schrieb Kant (neben Maimonides und Wolff) zwar einen entscheidenden Einfluß auf sein Denken zu; bezeichnenderweise meinte er aber nicht dessen »kopernikanische Wendung«, sondern die Unterscheidung zwischen formellem Denken und objektiver Erkenntnis. Diesen Unterschied, so wie M. ihn gebrauchte, konnte er schon beim vorkritischen Kant ebenso wie bei Leibniz kennenlernen. Die Unterscheidung besagt, daß nicht jedem widerspruchsfreien Begriff ein realer Gegenstand entsprechen könne, weil Widerspruchsfreiheit kein ausreichendes Kriterium für reale Möglichkeit sei: Ein Objekt könne z.B. nicht gleichzeitig rot und grün sein oder sich gleichzeitig in verschiedene Richtungen bewegen, obgleich die Zuschreibung solcher positiver Prädikate keinen formalen Widerspruch darstelle. Diese Reflexion ist die Grundlage von Kants und M.s Kritik der dogmatischen Metaphysik.

In seinem Versuch über die Transcendentalphilosophie charakterisierte M. seine Philosophie als rationalen Dogmatismus und empirischen Skeptizismus (II, 432). Dies war das Ergebnis seiner Kritik an Kant. Die Kantische Disjunktion zwischen Verstand und Sinnlichkeit führte nämlich dazu, daß die Möglichkeit der Anwendung der Verstandeskategorien auf die Sinnlichkeit erklärt und gerechtfertigt werden mußte, um die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori begreiflich zu machen (dies ist die quid juris-Frage). Die Frage, ob es überhaupt solche synthetischen Urteile a priori gebe, ist Gegenstand der quid facti-Frage. M. erklärte, daß Kants Vermittlungsversuche (»Schematismus«) die Kluft nicht überbrücken können und daß den reinen Verstandesformen keine Realität, d.h. begründete Anwendung auf Sinnlichkeit, zukomme. Die Kluft stellte er als Alternative dar: »Unsere Erkenntnis hat manches reine, und manches reelle, nur zum Unglück ist das Reine nicht reell und das Reelle nicht rein« (I, 576; vgl. II, 430–433).

M. erläuterte das Problem an folgendem Beispiel: Die Begriffe »Ursache« und »Wirkung« seien »Wechselbegriffe«, d.h. korrelative Begriffe. Ihr Zusammenhang sei streng notwendig: »Ursache« impliziere »Wirkung« und umgekehrt. Dies sei der »reine« Teil. Diese Begriffe würden jedoch erst dann »reell« sein, wenn man in der Welt Entitäten (Gegenstände, Vorgänge) ausmachen könne, auf die die Begriffe »Ursache« und »Wirkung« begründeterweise angewandt werden könnten (z.B. »Feuer« und »Erwärmung«) und für welche die genannte Relation gelte. Die Vermittlung zwischen der Verstandesrelation »Ursache-Wirkung« soll nach Kant mit der Wahrnehmung »Feuer-Erwärmung« durch die zeitlich identische Folge beider Paare vermittelt werden. M. wendet jedoch ein, daß die »reelle« Erkenntnis, daß Feuer der Erwärmung vorausgehe und nicht umgekehrt, bloß durch Erfahrung, und das heiße: induktiv, gewonnen werde und daher bloß wahrscheinlich sei. Die Erkenntnis, die begründen könnte, daß »Ursache« und »Wirkung« auf Feuer und Erwärmung angewendet werden dürften, müsse jedoch sein: Erwärmung folge notwendig auf Feuer, aber wie Hume zeigte, könne die Induktion eben dies nicht leisten. Mithin sei die Existenz von synthetischen Urteilen a priori über Erfahrungsgegenstände nicht begründet.

Kants Frage nach der Möglichkeit der Anwendung der Verstandeskategorien auf die von ihnen prinzipiell verschiedene Sinnlichkeit meinte M. durch Rückgriff auf Leibniz lösen zu können. Nach Leibniz seien die Anschauungsformen (Raum und Zeit) nur von der endlichen menschlichen Auffassung unklar aufgefaßte logische Beziehungen und daher prinzipiell gar nicht von anderer Art als die Verstandesformen. Die Gleichartigkeit von Verstand und Sinnlichkeit schließe die von Kant zwischen ihnen aufgerissene Kluft allerdings nur für einen »unendlichen Verstand«, für den es gar keine unklaren (»sinnlichen«) Erkenntnisse gebe.

M. führte als Kriterium für formgerechte synthetische Urteile a priori seinen »Satz der Bestimmbarkeit« ein. Der Satz besagt, daß in jeder reellen Synthese ein Glied das Subjekt sei, das auch außerhalb dieser Synthese gedacht werden könne, und das andere das Prädikat, das nur in dieser Synthese gedacht werden könne (II, 84ff.). Vom Standpunkt des unendlichen Verstandes folge das Prädikat aus dem Begriff des Subjekts (und das Urteil sei analytisch). Der menschliche, endliche Verstand könne jedoch nur in der Mathematik das Prädikat und zwar synthetisch durch die Konstruktion ableiten. So sei z.B. das Urteil: »Ein Dreieck hat drei Winkel« nicht analytisch, weil im Begriff des Dreiecks der Begriff des Winkels nicht enthalten sei, und dennoch a priori, weil das Prädikat aus der Konstruktion des Dreiecks folge. Der endliche Verstand erkenne solche synthetischen Urteile nur unter Zuhilfenahme der Anschauung, gewinne aber so einen Begriff von wahrer Erkenntnis a priori.

M.s Skeptizismus richtete sich also nicht gegen die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt, sondern gegen den Anspruch Kants, daß reelle Erkenntnis – sowohl in der »reinen Mathematik« (die bei Kant, aber nicht bei M. auch die synthetische Geometrie einschließt), als auch in der »reinen Naturwissenschaft« (Kritik der reinen Vernunft B 19–21) – ebenso apodiktisch sei wie die Logik. M. dagegen hielt den Gegensatz zwischen »reinem« Denken und »reeller« Erkenntnis in seiner Schärfe fest, berücksichtigte aber auch in der Erfahrungserkenntnis die Dynamik wissenschaftlicher Entwicklung, daß die induktive Gewißheit sich asymptotisch der apodiktischen annähern läßt: »Das Reine (Formelle) ist die Idee, der man sich im Gebrauche des Reellen immer (durch Induktion) mehr nähert, die man aber nie erreichen kann« (I, 576; IV, 450) – freilich ohne die scharfe Alternative zwischen notwendiger und induktiver Erkenntnis zu schwächen (III, 189–193).

M.s Skepsis bildete nun die Grundlage für seine Bearbeitung weiterer Gebiete der Philosophie. So setze z.B. die Deduktion des Moralprinzips seine Realität voraus, aber da diese, d.h. die Bestimmung der menschlichen Handlungen, durch das Prinzip (und nicht z.B. durch die Begierde) nicht bewiesen sei, sei alle Moraltheorie bloß »hypothetisch« (III, 96ff). An Reinhold schrieb M. »[…] von der Möglichkeit eines uneigennützigen Triebes; von der Wirklichkeit meiner Beziehung gewisser Handlungen auf dasselbe bin ich so gut überzeugt als Sie. Ich weiß aber noch mehr als Sie wissen wollen, daß nämlich diese Beziehung auf den uneigennützigen Trieb Wirkung der Täuschung ist, und will auf kosten der Wahrheit keinen uneigennützigen Trieb erheucheln« (IV, 263). Die Kluft zwischen dem »Dasein des Sittengesetzes in der Vernunft« und den Handlungen in der Welt der Sinnlichkeit läßt sich nicht überbrücken. Und dieselbe skeptische Einstellung leitete M. in allen philosophischen Fragen.

Einzigartig an M.s philosophischem System ist also, daß er beide Denkmöglichkeiten gleichzeitig und nebeneinander entwickelte: einerseits den gewagten »rationalen Dogmatismus« des »unendlichen Verstandes«, an dem der menschliche Verstand Teil hat und in welchem der grundsätzliche Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand nicht existiert und daher auch das »Ding an sich« ein leerer Begriff sei (»Nach mir hingegen ist die Erkenntnis der Dinge an sich nichts anders als die vollständige Erkenntnis der Erscheinungen«, IV, 451), andererseits den »empirischen (später: kritischen) Skeptizismus«, d.h. den Vorbehalt, daß jener rationale Dogmatismus bloß hypothetisch und nicht »reell« sei.

Werke:

  • Gesammelte Werke, 7 Bde., hg. V. Verra, Hildesheim 1971.
  • Giv‘ at Hammoreh, New Edition with Notes and Indexes by S.H. Bergman and N. Rotenstreich, Jerusalem 1965. –

Literatur:

  • L. Bendavid, Ueber S.M., in: National-Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Gewerbe in den preußischen Staaten: nebst einem Korrespondenz-Blatte 1 (1801), 88–104.
  • F. Kuntze, die Philosophie S.M.s, Heidelberg 1912.
  • S. Atlas, From Critical to Speculative Idealism. The Philosophy of S.M. The Hague 1964.
  • S.H. Bergman, The Philosophy of S.M. Translated from the Hebrew by N.J. Jacobs, Jerusalem 1967.
  • A. Engstler, Untersuchungen zum Idealismus S.M.s, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990.
  • J. Bransen: The Antinomy of Thought. Maimonian Scepticism and the Relation between Thoughts and Objects, Dordrecht/Boston/London 1991.
  • G. Freudenthal (Hg.), S.M. Rational Dogmatist, Empirical Skeptic. Critical Assessments, Dordrecht 2003.

Gideon Freudenthal

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Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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