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Lexikon der Mathematik: Arabische Mathematik

Der Begriff Arabische Mathematik bezeichnet diejenige Mathematik, die sich im Gebiet des islamischen Großreiches vom 7. bis zum 15. Jahrhundert entwickelte, so daß auch die Bezeichnung islamische Mathematik üblich ist. Nach der Herausbildung des Islam als monotheistischer Religion auf der arabischen Halbinsel am Anfang des 7. Jahrhunderts entstand aus dem von Muhammad ibn ’Abdallah geschaffenen zentralisierten Staat in den nächsten Jahrhunderten ein Großreich, das den vorderen Orient, große Teile Zentralasiens, Nordafrika und die Pyrenäenhalbinsel umfaßte, sehr bald aber wieder in Teilreiche zerfiel. Im 10. und 11. Jahrhundert erreichte die islamische Wissenschaft ihren Höhepunkt, doch auch danach erlebte sie in einzelnen Teilreichen eine Blütezeit.

In die arabische Mathematik gingen Elemente aus der griechischen, der indischen, der persischen, der mesopotamischen und in geringerem Umfang der chinesischen Mathematik ein. Die arabische Mathematik zeichnete eine deutliche Ausrichtung auf Anwendungen aus, die behandelten Probleme reichten von Fragen des Bauwesens, der Geodäsie, des Handels, des Erbrechts bis hin zu denen der Geographie, der Astronomie und Astrologie, des Staatshaushaltes und der Optik. Ein zweites Charakteristikum war eine stärkere Betonung algebraischer Elemente und der Versuch, entsprechende Beweismethoden zu schaffen.

Die Entwicklung der arabischen Mathematik verlief in mehreren Etappen. Die erste Etappe, die etwa bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts reichte, war durch die Sicherung des wissenschaftlichen Erbes gekennzeichnet. In diesem Bestreben wurden auch zahlreiche noch verfügbare mathematische Schriften aus der griechisch-hellenistischen Antike, aus Persien, Indien und Ägypten gesammelt und ins Arabische übersetzt. Kalif Al-Manūr (um 712–775) baute Bagdad als neue Hauptstadt aus und begann, die systematische Übersetzung der überlieferten Quellen zu fördern. Diese Aktivitäten wurden von seinen Nachfolgern fortgesetzt und teilweise noch verstärkt. Al-Ma’mūn (786–833) gründete 832 nach dem Vorbild der antiken Akademie ein „Haus der Weisheit“, zu dessen vorrangigen Aufgaben die Übersetzungstätigkeit gehörte. Das „Haus der Weisheit“ kann mit einem großen Forschungsinstitut verglichen werden, es besaß u. a. eine Bibliothek und ein astronomisches Observatorium, Kopisten fertigten Abschriften von den Büchern an, und zunehmend widmete man sich teilweise langfristigen Forschungen auf vielen Gebieten der Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie. Auch in anderen Teilen des arabischen Reiches entstanden ähnliche kulturelle, wissenschaftliche Zentren, beispielsweise im spanischen Cordoba.

Die zweite Etappe war dann gekennzeichnet durch die Aufnahme eigenständiger mathematischer Forschungen auf der Basis einer verstärkten Kommentierung der erschlossenen Quellen. Die Errungenschaften der islamischen Mathematiker jener Zeit umfassen die Übernahme des dezimalen Positionssystems und der arithmetischen Rechenmethoden aus der indischen Mathematik, die Ausformung des Systems arithmetischer Operationen, wie es im wesentlichen heute noch von uns benutzt wird, die Einführung der Dezimalbrüche, die Entwicklung von Näherungsverfahren, geometrische Konstruktionen sowie die Übernahme und Weiterentwicklung der Sinustrigonometrie der Inder. Die bedeutendsten Vertreter der islamischen Mathematik dieser Periode waren al-wārizmî (al-Khwārizmī) (um 780–um 850), al-Kindī (?–um 873), ābit ibn Qurra (834/35–901) und al-Māhānī (?–um 880).

Der aus Choresm (Chiva/Usbekistan) stammende al-wārizmî hat mit seiner Schrift zur Algebra einen großen Einfluß auf die weitere Gestaltung der Mathematik ausgeübt. Er behandelte sechs Normalformen von quadratischen Gleichungen, auf die alle quadratischen Gleichungen zurückgeführt werden konnten. Die Angabe mehrerer Normalformen war nötig, da alle Koeffizienten nicht-negativ sein sollten. Die Bezeichnung „al-abr“ (Ergänzung) für eine der von ihm benutzten Operationen wurde später zum Synonym für die gesamte Gleichungslehre und ergab in der latinisierten Form die Bezeichnung „Algebra“. Aus dem Namen al-wārizmî entstand vermutlich der Begriff „Algorithmus“. al-wārizmî benutzte auch als erster arabischer Mathematiker das dezimale Stellenwertsystem mit den indischen Ziffern und erläuterte die Rechenoperationen in diesem System. Aus diesem Grund bezeichnen wir die heute bei uns üblichen Ziffern 0, 1, ⋯, 9 als „arabische Zahlen“ (indischarabisches Zahlensystem).

ābit ibn Qurra hat die begonnene Tradition fortgesetzt, indem er allgemeine geometrische Beweise für die von al-wārizmî eingeführten Lösungsverfahren gab und sie an Zahlenbeispielen erläuterte, er hat damit die typische Vorgehensweise der arabischen Algebraiker deutlich ausgeprägt. Außerdem formulierte er ein Bildungsgesetz für befreundete Zahlen, erweiterte den Zahlbegriff von den natürlichen auf die positiven reellen Zahlen, diskutierte das Parallelenpostulat, wobei er zu impliziten Ansätzen zur nichteuklidischen Geometrie kam, erfand die von Archimedes benutzte Methode zur Bestimmung von Integralen neu und berechnete damit die Volumina einiger Rotationskörper sowie das erste bestimmte Integral. Der auch astronomisch tätige al-Māhanī kommentierte u. a. Buch X der „Elemente“ des Euklid, klassifizierte nicht nur geometrische Irrationalitäten, sondern auch numerische quadratische und biquadratische Irrationalitäten und übertrug wohl erstmals die Euklidische Klassifikation auf kubische Irrationalitäten. Außerdem stellte er eine Regel auf, die dem Cosinussatz der sphärischen Trigonometrie entspricht.

Ab dem 11. Jahrhundert traten astronomische Berechnungen und Fragen der Numerik, speziell Näherungsmethoden, stärker in den Vordergrund. Auch hierbei bildeten die Methoden und Resultate der griechischen Antike den Ausgangspunkt der Betrachtungen. Die Trigonometrie nahm in den Forschungen der islamischen Mathematiker und Astronomen einen hervorragenden Platz ein, stellte sie doch die Verbindung zwischen der Mathematik, der Astronomie, dem Kalenderwesen sowie der Lehre von der Sonnenuhr her, und hatte sich auch bei der Realisierung der umfangreichen geographischen Interessen der islamischen Gelehrten als nützlich erwiesen. Bereits im 8. Jahrhundert übersetzte man eine der indischen „Siddhāntas“ und erschloß damit Teile des Wissens der Inder zur Trigonometrie.

Im 9. Jahrhundert folgten dann Kommentare zum „Almagest“ des Ptolemaios (um 85–um 165), eines der bedeutendsten astronomischen Werke der Antike, das die Astronomie für fast eineinhalb Jahrtausende dominierte, und zur „Sphärik“ des Menelaos. Die islamischen Mathematiker führten die trigonometrischen Verhältnisse Tangens und Cotangens am rechtwinkligen Dreieck ein, übernahmen von den Indern die Verhältnisse Sinus und Cosinus, studierten die Eigenschaften aller vier Verhältnisse und tabellierten sie erstmals im 9. Jahrhundert. Ab ū’l-Wafā’ (940–997/98) definierte dann alle Winkelfunktionen einheitlich am Kreis. Nach und nach behandelte man die verschiedenen Typen ebener und sphärischer Dreiecke und baute die Trigonometrie zu einem geschlossenen Wissensgebiet aus. Nachdem die Trigonometrie lange nur als Hilfsmittel der Astronomie angesehen wurde, gab Naīr ad-Dīn at-ūsī (1201–1274) eine erste vollständige und systematische Darstellung der Trigonometrie als selbständigen Wissenschaftszweig und vollendete den wohl im 12. Jahrhundert einsetzenden Ablösungsprozeß von der Astronomie. Ausgehend von einer klaren Formulierung der Grundbegriffe baute er die Theorie auf und bereicherte sie um wesentliche eigene neue Ergebnisse, z. B. zur Berechnung schiefwinkliger sphärischer Dreiecke aus den drei Seiten bzw. den drei Winkeln. At-Tusis Schrift hat die Entwicklung der Trigonometrie bis zur Renaissance, insbes. Regiomontanus, beeinflußt. Gleichzeitig gehört at-Tusi zu den Schöpfern genauer trigonometrischer Tafeln, weitere ausgezeichnete, sehr genaue Tafelwerke stammen von al-Bīrūni (973–1048), dessen auf acht Dezimale genaue Sinus-Tafel eine Schrittweite von 15’ hatte, und von al-Kāšī. Al-Bīrūnī hatte mit der systematischen Zusammenfassung der trigonometrischen Kenntnisse seiner Vorgänger einen wichtigen Beitrag zur Verselbständigung dieses Wissensgebietes geleistet.

Die trigonometrischen Forschungen förderten zugleich die Arithmetik, insbes. die Beschäftigung mit Irrationalitäten und Brüchen. Neben Rechnungen im dezimalen Positionssystem mit den indischarabischen Ziffern wurden in zahlreichen Texten das Sexagesimalsystem oder verschiedene regionale Zahlsysteme bzw. eine Mischung mehrerer Systeme benutzt. Die arabischen Mathematiker haben erfolgreich die Vorzüge der einzelnen Systeme analysiert und versucht, diese in ein neues System einzubringen.

An Einzelleistungen seien etwa das Erkennen von π als irrationale Größe durch al-Bīrūnī und die Angabe eines einfachen, aber sehr genauen und schnell konvergierenden Iterationsverfahrens zur Lösung kubischer Gleichungen durch al-Kāšī erwähnt. Seit dem 12. Jahrhundert fanden teilweise auch die negativen Zahlen in algebraischen Texten Anerkennung, vermutlich eine Auswirkung von indischen oder chinesischen Einflüssen.

Auf dem Gebiet der Algebra erzielten die islamischen Mathematiker in jener Zeit ebenfalls beträchtliche Erfolge. Herausragend sind dabei die Schaffung einer geometrischen Theorie zur Auflösung kubischer Gleichungen und die Bemühungen um eine Arithmetisierung der Algebra. Nach ersten vorbereitenden Arbeiten seit dem 9. Jahrhundert wurde diese Theorie von dem Perser al-ayyām (1048?–1131?) geschaffen. Er löste die kubischen Gleichungen mit Hilfe von Kegelschnitten und hat vermutlich erstmals behauptet, daß diese Gleichungen nicht mit Zirkel und Lineal lösbar sind. Eine formelmäßige Lösung der kubischen Gleichungen gelang ihm und seinen Nachfolgern nicht, es sollte die erste große Errungenschaft der Renaissance-Mathematiker im 16. Jahrhundert werden. In diesem Zusammenhang muß man berücksichtigen, daß die islamischen Mathematiker nicht zu nennenswerten Ansätzen einer algebraischen Symbolik kamen. Eine Ausnahme bilden die Schriften des in Granada wirkenden al-Qalaādī (1400 oder 1412–1486) und von Ibn Qunfu (?–1407/08), die vermutlich das Ende einer längeren Traditionslinie verkörpern.

Durch die Schriften von al-Karaī (gest. um 1030) und as-Samaw’al (gest. um 1175) begann eine neue Periode der Etablierung der Algebra als eigenständiges mathematisches Teilgebiet. Im Mittelpunkt standen die allmähliche Loslösung von geometrischen Interpretationen und Beweisen und die Definition der arithmetischen Operationen für variable Größen im Bereich der positiven reellen Zahlen sowie der Aufbau eines entsprechenden Kalküls. So erklärte al-Karaī erstmals das Rechnen mit positiven und negativen Potenzen sowie die arithmetischen Operationen für Polynome, wobei er bei der Division den Divisor auf Monome beschränkte. Auf dieser Basis erzielte er neue Einsichten in die Summation endlicher Reihen und die Berechnung von Binominalkoeffizienten. Diese Ideen wurden von as-Samaw’al erfolgreich fortgesetzt. So konnte er die Division zweier Polynome definieren und erstmals sowohl die binomische Formel in allgemeiner Form beschreiben, als auch Zeichenregeln für das Rechnen mit ganzen Zahlen formulieren. Weitere Resultate betreffen die Summation endlicher Reihen, die Lösbarkeit von Gleichungssystemen und Fragen der Beweismethodik. Als weitere wichtige Leistungen arabischer Mathematiker seien noch die zahlreichen Arbeiten zum Parallelenpostulat, teilweise mit ersten Ansätzen zur nichteuklidischen Geometrie, die Berechnung einfacher Integrale, etwa von Rotationskörpern, und jene Arbeiten genannt, die als Überlegungen zur Bestimmung von Grenzwerten bzw. der ersten Ableitung einer Funktion interpretiert werden können.

Die arabischen Mathematiker stellen das entscheidende Bindeglied zwischen der antiken Mathematik (einschließlich Indien und teilweise China) und der Mathematikentwicklung in Westund Mitteleuropa dar. Sie haben dieses mathematische Erbe gesichert und schöpferisch durch viele eigene Leistungen ergänzt. Dabei erfuhr die Mathematik regional eine unterschiedliche Ausprägung. Man unterscheidet allgemein zwischen der ostarabischen und der westarabischen Mathematik. Während die ostarabische Mathematik ein höheres Niveau erreichte als die westarabische, war letztere von ausschlaggebender Bedeutung für die Überlieferung der mathematischen Errungenschaften der Griechen, Inder und der Araber nach Europa.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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