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Lexikon der Mathematik: Axiome der Geometrie

A. Filler

Die axiomatische Methode, d. h. die Begründung einer mathematischen Theorie durch ein Axiomensystem, ist eine sehr wichtige – und die älteste – Möglichkeit, eine Geometrie zu fundieren. Den ersten vollständigen axiomatischen Aufbau der Geometrie gab ca. 325 v. Chr. Euklid von Alexandria in seinem 13-bändigen Werk „Die Elemente“ („Elemente“ des Euklid). Diese enthalten den weltgeschichtlich ersten überlieferten Versuch, die Geometrie (und die Mathematik überhaupt) als theoretisches System darzustellen, indem die damals bekannte Geometrie aus einer Reihe von Grundaussagen auf rein deduktivem Wege aufgebaut wurde (siehe auch Euklidische Geometrie).

Bereits 200 Jahre vor Euklid begründete Hippokrates von Chios Teile der Geometrie auf deduktivem Wege. Jedoch sind von seinen Aufzeichnungen nur Fragmente überliefert.

Obwohl Euklid in seinen „Elementen“ noch versuchte, alle Begriffe zu definieren, ist dies für eine gewisse Zahl von Begriffen nicht möglich. Diese grundlegenden Begriffe (wie z. B. „Punkt“) können nicht definiert werden, denn jede Definition setzt das Vorhandensein bereits erklärter Begriffe voraus. Der Inhalt von Grundbegriffen wird also nur durch die Aussagen, die über sie in den Axiomen getroffen werden, bestimmt. Ebenso ist es nicht möglich, alle geometrischen Aussagen zu beweisen, denn jeder Beweis setzt bereits bekannte Sätze, Aussagen, Zusammenhänge usw. voraus. Eine gewisse Zahl von Aussagen muß also als gültig vorausgesetzt werden. Hierbei handelt es sich um die Axiome. Auf der Grundlage eines vollständigen Axiomensystems können alle weiteren Aussagen der betreffenden Geometrie als Sätze bewiesen werden.

Die Axiome können als besonders plausible Tatsachen der Anschauung entnommen werden, wobei der weitere Aufbau der Geometrie dann streng deduktiv erfolgt und sich dadurch von der Anschauung löst. Die besondere Schwierigkeit eines deduktiven Aufbaus der Elementargeometrie besteht in der Gefahr, bei Beweisen auf scheinbare Selbstverständlichkeiten zurückzugreifen, die jedoch nicht aus den Axiomen abgeleitet wurden. Dieses Problem und die logischen Unzulänglichkeiten des euklidischen Systems führten über Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Mißverständnissen und unkorrekten Beweisen. Andererseits ist es keinesfalls notwendig, als Axiome anschaulich einleuchtende Tatsachen zu verwenden. So kann es durchaus sinnvoll sein, wie z. B. bei der nichteuklidischen Geometrie, auch zunächst widersinnig erscheinende Axiome zu formulieren und die dabei entwickelten Geometrien auf ihre Eigenschaften hin zu untersuchen.

Bei jeder axiomatischen Theorie muß also sowohl zwischen Grundbegriffen und definierten Begriffen als auch zwischen Axiomen und Sätzen unterschieden werden. Dabei ist jedoch keineswegs von vornherein bestimmt, welche Begriffe als Grundbegriffe festgelegt und welche daraus definiert werden. So kann für die Geometrie z. B. sowohl „Kongruenz“ als auch „Bewegung“ als Grundbegriff auftreten und der andere dieser beiden Begriffe daraus definiert werden. Ebenso können Axiome eines Axiomensystems als Sätze eines anderen Axiomensystems auftreten und umgekehrt. Gerade für die Elementargeometrie gibt es eine sehr große Zahl unterschiedlicher aber zueinander äquivalenter Axiomensysteme.

Eines der ersten Axiomensysteme der (euklidischen) Geometrie, das strengen logischen Ansprüchen gerecht wurde, war das Axiomensystem von David Hilbert. Dieses Axiomensystem (vgl. [2]) ist auch heute noch das am weitesten verbreitete geometrische Axiomensystem. Es wurde größter Wert auf die Minimalität der geforderten Eigenschaften gelegt sowie auf den Rückgriff auf die Theorie der reellen Zahlen verzichtet. Aus diesen Gründen ist das Hilbertsche Axiomensystem in Hinblick auf seine „mathematische Eleganz“ besonders interessant. Das Hilbertsche Axiomensystem baut auf den Grundbegriffen Punkt, Gerade und Ebene sowie den ebenfalls undefinierten Relationen Inzidenz, liegt zwischen und Kongruenz auf. Es enthält folgende Axiome der Geometrie des Raumes:

I. Inzidenzaxiome

I1 Zu zwei Punkten existiert genau eine Gerade, die mit diesen beiden Punkten inzidiert.

I2 Mit jeder Geraden inzidieren mindestens zwei Punkte. Es existieren drei Punkte, die nicht mit einer Geraden inzidieren.

I3 Zu je drei nicht auf einer Geraden liegenden Punkten gibt es genau eine Ebene, die mit diesen drei Punkten inzidiert. Jede Ebene inzidiert mit (wenigstens) einem Punkt.

I4 Wenn zwei Punkte einer Geraden g mit einer Ebene ϵ inzidieren, so inzidiert jeder Punkt von g mit ϵ.

I5 Wenn zwei Ebenen mit ein und demselben Punkt inzidieren, so inzidieren sie mit noch mindestens einem weiteren gemeinsamen Punkt.

I6 Es existieren vier Punkte, die nicht mit einer Ebene inzidieren.

Gewöhnlich wird unter Inzidenz das Enthaltensein eines Punktes in einer Geraden bzw. einer Ebene verstanden (Pg bzw. Pϵ). Diese geometrisch einleuchtende Interpretation ist jedoch nicht die einzig mögliche für den Begriff der Inzidenz (Inzidenzstruktur).

II. Anordnungsaxiome

Es sei Z („liegt zwischen“) eine dreistellige Relation auf der Menge der Punkte mit folgenden Eigenschaften:

A1 Wenn (A, B, C) ∈ Z, so sind A, B und C kollinear, und es gilt auch (C, B, A) ∈ Z.

A2 Zu zwei verschiedenen Punkten A und B existiert stets ein Punkt C mit (A, B, C) ∈ Z.

A3 Von drei Punkten liegt höchstens einer zwischen den beiden anderen.

A4 (Pasch-Axiom) Falls eine Gerade durch keinen der Eckpunkte eines Dreiecks verläuft sowie eine offene Seite dieses Dreiecks schneidet, so schneidet diese Gerade noch mindestens eine weitere offene Seite des Dreiecks.

Anstelle der Axiome A1–A3 kann auch folgendes Axiom formuliert werden, falls auf weitergehende Elemente der Mengenlehre zurückgegriffen wird:

Die Menge aller Punkte, die mit einer Geraden inzidieren, ist eine unbegrenzte, total geordnete Menge.

III. Kongruenzaxiome

Es sei(„ist kongruent zu“) eine zweistellige Relation zwischen Punktmengen mit folgenden Eigenschaften:

K1 Für jede beliebige Strecke \(\overline{AB}\)existiert auf jeder Halbgeraden PQ+genau ein Punkt R mit \(\overline{AB}\cong \overline{PR}\).

K2 Die Streckenkongruenz ist transitiv.

K3 Ist B ein Punkt der Strecke \(\overline{AC}\), R ein Punkt der Strecke \(\overline{PQ}\), \(\overline{AB}\)kongruent zu \(\overline{PR}\)und \(\overline{BC}\)kongruent zu \(\overline{RQ}\), dann ist auch \(\overline{AC}\)kongruent zu \(\overline{PQ}\).

K4 (Möglichkeit und Eindeutigkeit der Winkelantragung) Zu jedem Winkel ∠(g, h) und zu jeder Halbgeraden g′ gibt es in jeder Halbebene bzgl. g′ genau eine Halbgerade h mit demselben Scheitel O, so daß die Winkel ∠(g, h) und ∠(g′, h′) zueinander kongruent sind.

K5 Jeder Winkel ist zu sich selbst kongruent.

K6 (Dreieckskongruenzaxiom „sws“) Wenn für zwei Dreiecke \(\overline{ABC}\)und \(\overline{A^{\prime} B^{\prime} C^{\prime} }\)gilt \(\overline{AB}\cong \overline{A^{\prime} B^{\prime} }\), \(\overline{AC}\cong \overline{A^{\prime} C^{\prime} }\)und \(\angle (BAC)\cong \angle (B^{\prime} A^{\prime} C^{\prime} )\), so gilt auch \(\angle (ACB)\cong \angle (A^{\prime} B^{\prime} C^{\prime} )\).

Es ist möglich, die Kongruenzaxiome durch Bewegungsaxiome zu ersetzen, ohne den Aufbau des Hilbertschen Axiomensystems grundlegend zu verändern. Eine solche Axiomatisierung wird vielfach als anschaulicher empfunden. Sollen im Hilbertschen Axiomensystem die Kongruenz- durch Bewegungsaxiome ersetzt werden, so muß der Begriff der Bewegung als Grundbegriff auftreten. Die Kongruenz kann dann als Abbildbarkeit durch eine Bewegung definiert werden, ist also kein Grundbegriff mehr.

IV. Bewegungsaxiome

B1 Jede Bewegung ist eine eineindeutige Abbildung des Raumes auf sich.

B2 Bei Bewegungen werden Geraden in Geraden überführt, die Zwischenrelation bleibt erhalten.

B3 Die Hintereinanderausführung von Bewegungen ist wieder eine Bewegung.

B4 Zu je zwei Fahnen gibt es genau eine Bewegung, welche die eine Fahne auf die andere abbildet.

Dabei wird als Fahne die Struktur bezeichnet, die aus einem Punkt O, einer offenen Halbgerade p mit O als Anfangspunkt und einer offenen Halbebene H, deren Randgerade die Halbgerade p enthält, besteht.

Abbildung 1 zum Lexikonartikel Axiome der Geometrie
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Fahne

Neben dieser Version der Axiomatisierung von Bewegungen gibt es auch die Möglichkeit, Bewegungen als Hintereinanderausführungen von Spiegelungen an Ebenen bzw. Geraden zu definieren und die Kongruenzgeometrie somit auf der Grundlage von Spiegelungsaxiomen aufzubauen. (Ein axiomatischer Aufbau der Geometrie auf der Grundlage des Spiegelungsbegriffs ist u. a. in [3] zu finden.)

V. Parallelenaxiom

PA Zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt P existiert höchstens eine Gerade h, die zu g parallel ist und durch P verläuft. (Das Parallelenaxiom fordert nur die Eindeutigkeit der Parallelen zu einer gegebenen Geraden durch einen gegebenen Punkt, da die Existenz bereits aus den anderen Axiomen folgt.)

Die Frage, ob das Parallelenaxiom tatsächlich von den anderen Axiomen der euklidischen Geometrie unabhängig ist, war bis in das 19. Jahrhundert hinein umstritten. Durch Lobatschewski, Gauß und Bolyai wurde nachgewiesen, daß die Unabhängigkeit des Parallelenaxioms tatsächlich gegeben ist, indem sie eine Geometrie konstruierten, in der alle anderen Axiome der euklidischen Geometrie und die Negation des Parallelenaxioms gelten. Diese Geometrie ist unter den Bezeichnungen Lobatschewski-Geometrie, hyperbolische Geometrie oder einfach nichteuklidische Geometrie bekannt. (Allerdings setzten sich die Mathematiker über Jahrhunderte nicht mit dem Parallelenaxiom in der hier verwendeten Formulierung, sondern mit dem dazu äquivalenten sogenannten fünften Postulat von Euklid, vgl. Euklidische Geometrie, auseinander.)

Neben dem hier vorgestellten, auf David Hilbert zurückgehenden, Axiomensystem und den angedeuteten Variationsmöglichkeiten einzelner Axiomengruppen existiert noch eine Vielzahl anderer Axiomensysteme sowohl für die euklidische Geometrie als auch für nichteuklidische Geometrien. Einen Überblick enthält [1].

Literatur

[1] Filler A.: Euklidische und nichteuklidische Geometrie. B.I. Wissenschaftsverlag Mannheim, 1993.

[2] Hilbert D.: Grundlagen der Geometrie. Teubner Stuttgart, 1899.

[3] Klotzek B.: Geometrie. Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin, 1971.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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