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Lexikon der Mathematik: Mathematik

Der Versuch, das Wesen der Mathematik im Rahmen eines Lexikon-Stichwortes zu definieren, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ursprünglich als die „Kunst des Rechnens und Messens“ bezeichnet, hat sich diese Wissenschaft im Laufe der Geschichte, insbesondere der letzten drei Jahrhunderte, so stark weiterentwickelt und aufgefächert, daß ihr eine wie auch immer geartete Kurzdefinition nicht gerecht wird; die insgesamt sechs Bände dieses Lexikons, angefüllt mit mathematischen Fachbegriffen, mögen Beleg dafür sein. Wir geben daher an dieser Stelle einen Abriß der mathematischen Entwicklung im Laufe der Menschheitsgeschichte, um damit zumindest einen Eindruck von der Vielfalt dieser Wissenschaft zu vermitteln.

Mathematik der Frühzeit

Über die Ursprünge des menschlichen mathematischen Denkens kann man sehr wenig gesicherte Aussagen machen, da es naturgemäß dazu keine Quellen gibt. Es ist versucht worden, aus dem Verhalten von Kleinkindern und aus anthropologischen Studien „wenig zivilisierter Völker“ Rückschlüsse auf das mathematische Verständnis des Menschen der Frühzeit zu ziehen. Als einigermaßen gesichert kann angesehen werden: Das Zahlenverständnis unserer Vorfahren kann als „Zahlengefühl“ bezeichnet werden, d. h., man konnte kleine natürliche Mengen wahrnehmen. Die Fähigkeit, solche Mengen zu „begreifen“ war an die konkrete Menge selbst gebunden, „zwei Augen“ war etwas grundsätzlich anderes als etwa „zwei Hände“.

Der fehlende Zahlenbegriff schloß nicht aus, entscheiden zu können, ob zwei (auch größere) Mengen identisch sind oder nicht. Der entscheidende Schritt hin zum mathematischen Verständnis war das „Zählen“. Es scheint sich aus der Aneinanderreihung von zwei „Zahlwörtern“ für die Einheit und für das Paar entwickelt zu haben. In der Frühphase des mathematischen Denkens ist man wohl nicht über „Vier“ hinausgekommen. Der fehlende Zahlbegriff und die fehlenden Bezeichnungen für größere Zahlen verhinderten paradoxerweise durchaus nicht das „Zählen“ größerer Mengen, ebenso wenig das „Rechnen“. Man hat nur die zu zählende Menge mit einer Vergleichsmenge (Kieselsteine, Kerben in Holz oder Knochen usw.) zu vergleichen. Es wurden Quantitäten verglichen, wobei es letztlich nicht mehr auf die Qualität der verglichenen Gegenstände ankam. Das war der Ursprung des abstrakten Zahlenbegriffs. Daneben (oder danach) mußten Verfahren entwickelt werden, um auch größere Zahlen als Vier konkret bezeichnen zu können. Diese Bezeichnungen haben sich wohl aus dem Zählen mit den Fingern (z. B. 10 = „alle Finger“) oder dem ganzen Körper (z. B. 14 = „rechte Seite des Halses“, Neuguinea) entwickelt. Der ständige Gebrauch solcher konkreter Zahlwörter schliff ihre gegenständliche Bedeutung ab. Die Zahlwörter wurden Schritt für Schritt auf andere, schließlich auf alle Gegenstände übertragen. Damit wurde das Zahlwort zur Mengenbezeichnung. Um Zahlwörter behalten zu können, war eine symbolische Darstellung notwendig. Über konkrete Zahlzeichen (z. B. Kieselsteine) und mündliche Zahlzeichen (z. B. „vier“ = die „Pfoten eines Tieres“) kam man zu schriftlichen Zahlzeichen (Kerben, Bilder, „Ziffern“). Die Entwicklung der Zahlensysteme ist erst in historischer Zeit erfolgt.

Noch sehr viel verschwommener sind unsere Vorstellungen von der Entwicklung geometrischer Kenntnisse in der Frühzeit des Menschen. Man kannte in der Steinzeit einfachste Regeln für das Einhalten des rechten Winkels und das Erzeugen einer geraden Linie. Das Brennen und Bemalen von Töpferwaren, Flechtarbeiten, das Weben und später das Bearbeiten von Metallen, rituelle Malereien, Tänze förderten das Verständnis ebener und räumlicher Beziehungen. Felsmalereien weisen trotz ihrer teilweise hervorragenden künstlerischen Qualität auf die fehlenden Kenntnisse der Perspektive, Ornamente auf ein hochentwickeltes Verständnis für geometrische Muster hin.

Mathematik der Antike

Unter Mathematik der Antike wird die Mathematik im Bereich der griechisch-hellenistischen Antike zwischen 600 v.Chr. und etwa 500 n.Chr. verstanden, die zur gleichen Zeit in anderen Kulturzentren stattfindenden Entwicklungen bleiben außerhalb der Betrachtungen.

Üblicherweise unterteilt man die Mathematik der Antike in mehrere Abschnitte, die je nach der jeweiligen Betrachtungsweise unterschiedlich ausfallen. Die erste Periode wird häufig nach der hervorstechenden Rolle der ionischen Naturphilosophie als die ionische bezeichnet. Sie reicht von Ende des 7. Jahrhunderts v.Chr. bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. Am Anfang stand die im Rahmen der ionischen Naturphilosophie herausgebildete Frage nach dem „Warum“, dem letzten Grund für die beobachteten Erscheinungen, wobei bei der Beantwortung möglichst kein Rückgriff auf mystische Elemente erfolgte. Mathematische Kenntnisse waren noch völlig in die Philosophie integriert. Vertreter dieser ionischen Naturphilosophie, wie Thales von Milet, stellten diese Frage auch an mathematische Sachverhalte. Sie konstatierten einige mathematische Aussagen und formten erste Vorstellungen von Beweisen. Beweisen hatte dabei den elementaren Charakter des Aufzeigens, Verdeutlichens. Eine andere philosophische Richtung, die eleatische Philosophie, stimulierte die Herausbildung wichtiger Grundvorstellungen für eine strenge, systematische Darstellung einer Theorie. Speziell wurde klar festgelegt, was unter einem Postulat, Axiom und einer Definition zu verstehen ist. In der philosophischen Argumentationsweise entstand auch die Struktur des indirekten Beweises. Im Zusammenspiel dieser Ansätze formten die Griechen aus einem umfangreichen, vor allem aus dem Vorderen Orient übernommenen mathematischen Erfahrungswissen eine logisch-deduktiv dargelegte Wissenschaft. Die Mathematik erlangte damit eine derartige Selbständigkeit und Strukturiertheit, daß man von der Etablierung der Mathematik als Wissenschaft spricht.

Obwohl die Leistungen der Mathematiker aus dieser ersten Periode nur aus Sekundärquellen bekannt sind, lassen sich eine ganze Reihe von Resultaten recht genau zuordnen. Ein frühes Beispiel für eine streng aufgebaute Theorie war die Lehre von „gerade“ und „ungerade“, die in der Schule des Pythagoras entstand und einfache Gesetze über gerade und ungerade Zahlen enthielt. Sie gipfelte in dem Satz, daß eine Zahl der Form 2n(1 + 2 + 22 + … + 2n) vollkommen ist. Ausgehend von philosophischen, teilweise noch mystischen Ansichten sahen die Pythagoreer in der Zahl das Wesen aller Dinge und gelangten auf dieser Basis zu beachtlichen mathematischen Ergebnissen. Sie definierten verschiedene Zahlen, wie gerade, ungerade, befreundete und vollkommenen Zahlen sowie Primzahlen und erkannten erste Eigenschaften. Im Rahmen ihrer Musiktheorie studierten sie mehrere Mittelbildungen, u. a. geometrisches, arithmetisches und harmonisches Mittel, und bauten eine Proportionenlehre für natürliche Zahlen auf. Die zweifellos von den Pythagoreern auch erzielten geometrischen Ergebnisse sind weniger gut belegt, doch spricht der nach Pythagoras benannte Lehrsatz, für den wohl einer der Pythagoreer auch einen Beweis lieferte, für die geometrischen Forschungen. Von den Geometern dieser Periode sei Hippokrates von Chios (2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. lebend) hervorgehoben, der als einer der ersten eine systematische Darstellung der Mathematik seiner Zeit in Lehrbuchform unter dem Titel „Elemente“ verfaßte. Berühmt wurde er durch die Bemühungen um die Lösung eines der klassischen Probleme des Altertums, der Quadratur des Kreises, die ihn auf die „Möndchen des Hippokrates“ und die Bestimmung des Flächeninhalts dieser krummlinig begrenzten Flächen führten.

Die drei klassischen Probleme des Altertums umfaßten neben der Verwandlung eines Kreises in ein flächengleiches Quadrat die Teilung eines Winkels in drei Teile und die Konstruktion eines Würfels mit dem zu einem vorgegebenen Würfel doppelten Volumen. Alle drei Probleme sollten nur mit Zirkel und Lineal gelöst werden. Erst nach über zwei Jahrtausenden intensiver Beschäftigung konnte die Unlösbarkeit der Probleme bewiesen werden. Von den Einzelresultaten sei Demokrits Berechnung des Volumens eines Kreiskegels mit Hilfe seiner atomistischen Vorstellungen genannt, wobei er mit der Zerlegung der Körper Grundideen der Integralrechnung andeutete.

Die zweite Phase, die zeitlich bis etwa 300 v.Chr. reicht, war vom Aufstreben des Stadtstaates Athen geprägt und wird deshalb teilweise als Athenische Periode bezeichnet. Die Mathematik war nach wie vor sehr eng mit der Philosophie verknüpft. Platon, der 386 v.Chr. in dem nach dem Heros Akademos benannten Hain eine Philosophenschule gegründet hatte, wählte die Mathematik als Muster für eine Wissenschaft. Durch die enge Kopplung an die Mathematik hat die Platonische Philosophie einen spürbaren Einfluß auf die Mathematikentwicklung ausgeübt, u. a. im Methodischen, in der Ablehnung von praktischen Anwendungen der Mathematik, der Beschränkung der Konstruktionsmittel auf Zirkel und Lineal bei der Lösung geometrischer Aufgaben und in der Interpretation des mathematischen Abstraktionsprozesses. Das wohl folgenreichste Resultat jener Zeit war die Entdeckung inkommensurabler Strecken im Rahmen der pythagoreischen Schule. Dies trifft sowohl für Seite und Diagonale des Quadrats als auch für Seite und Diagonale des Fünfecks zu. Diese Entdeckung erschütterte die Basis der pythagoreischen Lehre, daß alle Erscheinungen der Welt in ganzen Zahlen oder Verhältnissen von diesen ausdrückbar seien. Die Lösung dieses Dilemmas bestand in dem Übergang zu einer geometrischen Lösung der entsprechenden Probleme, die eigentlich algebraischer Art waren, und im Aufbau einer Proportionenlehre für inkommensurable Größen. Mit der Methode der Flächenanlegung fand man ein Verfahren, quadratische Gleichungen und Gleichungssysteme geometrisch zu lösen. In diesem Kontext gelang dann Theodoros von Kyrene der Nachweis, daß \(\sqrt{2},\sqrt{3},\sqrt{5},\ldots \sqrt{17}\) inkommensurabel sind, und Theaitetos schuf daran anknüpfend eine Klassifizierung der quadratischen Irrationalitäten. In arithmetischer Hinsicht war es Eudoxos von Knidos, der die Bewältigung der Inkommensurabilität mit Hilfe einer Erweiterung der Pythagoreischen Proportionenlehre auf diese neuen Größen lieferte. Obwohl die Größenlehre die irrationalen Zahlen einschloß, kam Eudoxos, wie auch andere griechische Mathematiker, nicht zum Begriff der irrationalen Zahl. Im Zusammenhang mit der Größenlehre entwickelte er das später als Exhaustionsmethode bezeichnete Verfahren, das ein sehr frühes recht leistungsfähiges Stück Infinitesimalmathematik darstellt. Zentrales Resultat der Methode war ein Satz, der die beliebig gute Annäherung an eine zu messende Größe konstatierte und dies konstruktiv nachwies. Die Basis dafür bildete der später häufig als Archimedisches Axiom bezeichnete Sachverhalt.

Die nächste, um 300 v.Chr. beginnende Periode stand im Zeichen des Hellenismus. In Alexandria, der von Alexander dem Großen nach der Eroberung Ägyptens 331 v.Chr. gegründeten Stadt, entstand mit dem Museion ein neues wissenschaftliches Zentrum der antiken Welt. Bereits in den Anfangsjahren wirkte dort mit Euklid einer der bedeutendsten Mathematiker der Antike. Mit den „Elementen“ verfaßte er das erfolgreichste Mathematikbuch, das bisher geschrieben wurde („Elemente“ des Euklid). Wenig später begann Archimedes, der wohl bedeutendste Naturwissenschaftler der Antike, der Mathematik seinen Stempel aufzudrücken. Mit der exakten Berechnung des Parabelsegments, bei der er erstmals eine unendliche geometrische Reihe summierte, gelang ihm ein wichtiger Beitrag zur Integralrechnung. Hervorzuheben ist dabei, daß er eine Methode formulierte, mit der er durch mechanisch-physikalische Überlegungen weitere Ergebnisse heuristisch herleiten und anschließend mathematisch exakt beweisen konnte. Die Resultate betrafen die Bestimmung von Volumina, Oberflächen oder Bogenlängen an Rotationsellipsoiden und -hyperboloiden bzw. an der nach ihm benannten Spirale. In der Arithmetik sprach er die unbegrenzte Fortsetzbar- keit der Zahlenreihe aus. In seinen physikalischen Forschungen legte er in der Hydrostatik und Statik erste Grundlagen der mathematischen Physik. Die Geometrie, vor allem die Kegelschnitte, war das Hauptforschungsgebiet von Archimedes’ Zeitgenossen Apollonius von Perge. In der achtteiligen „Co- nica“ formulierte er eine einheitliche Herleitung der Kegelschnitte durch ebene Schnitte an einem Kreiskegel und behandelte Brennpunkte, Asymptoten, Tangenten, und Normalen.

Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten erzielten antike Mathematiker interessante geometrische Resultate, so Ptolemaios zur stereographischen Projektion und zum Parallelenpostulat, Heron zur Flächen- und Volumenberechnung, sowie Nikomedes mit der Konchoide und Diokles mit der Zissoide. Die Trigonometrie wurde in jener Periode durch Ptolemaios bereichert, der in seinem grundlegenden astronomischen Werk „Almagest“ die ebene und sphärische Trigonometrie als Sehnenrechnung entwickelte. Zuvor hatten Hipparchos und Menelaos in Verbindung mit astronomischen Studien wichtige Elemente der Trigonometrie geschaffen. Gegen Ende der Periode erlebten auch Arithmetik und Algebra einen beachtlichen Fortschritt. Nikomachos stellte die Arithmetik als Zahlenlehre systematisch und unabhängig von der Geometrie dar, und Diophantos von Alexandria führte in einer 13-teiligen „Aritmetica“ eine gewisse Symbolik in Form fester Abkürzungen für niedrige Potenzen der Unbekannten ein, und behandelte Gleichungen bis zum Grad vier sowie unbestimmte Gleichungen, die später nach ihm benannt wurden, aber noch nicht auf ganzzahlige Lösungen eingeschränkt waren.

Hatte die antike Mathematik zur Zeit Diophants ihren Höhepunkt bereits überschritten, so ging das Niveau in den folgenden Jahrhunderten deutlich zurück. Nur wenige erzielten noch neue Ergebnisse, wie etwa Pappos von Alexandria zur projektiven Geometrie. Meist beschränkte man sich auf Kommentare zu den klassischen Werken. Einige Historiker grenzen diese Periode als eine Phase des Niedergangs von der übrigen Entwicklung ab, zeitlich umfaßt sie das dritte bis fünfte Jahrhundert. Die Bewahrung und Tradierung der antiken Mathematik wurde dann ein Hauptverdienst der arabischen Mathematik.

Mathematik des Mittelalters

Dieser Begriff soll hier verstanden werden als die Mathematik des lateinischen Mittelalter (die Entwicklung der Mathematik in Indien, in China, im Islam ist an anderer Stelle dargestellt).

Im Jahre 477 war mit der Absetzung des Kaisers Romulus Augustulus die Geschichte des weströmischen Reiches beendet. Man kann das als Beginn des Mittelalters ansehen. Seit 510 regierte Theoderich von Ravenna aus das Ostgotenreich. Auch in Ravenna lebte Boethius (475/480–524), der sich durch Übersetzungen von mathematischen Schriften des Nikomachos von Gerasa (um 100) und Teilen der „Elemente“ des Euklid Verdienste erwarb. Auch Cassiodorus (480/490–um 575) bezog sich in seinen Schriften vorwiegend auf Nikomachos. Die Werke des Cassiodorus retteten einfachste Teile antiker Mathematik (elementare Arithmetik, elementare Zahlentheorie, Beschreibung grundlegender geometrischer Figuren, Rechenvorschriften für das Vermessungswesen) in die Klosterschulen. Das Christentum stand der antiken Wissenschaft, der Wissenschaft überhaupt, skeptisch gegenüber: Wissenschaft und damit auch Mathematik könne kaum zur Erlösung beitragen, es sei denn, sie erhelle „dunkle“ Stellen der „Heiligen Schrift“ und helfe so der Theologie. Diese Auffassung wurde in den Klöstern Europas gepflegt, die im Verlaufe der Christianisierung seit dem 4. Jh. entstanden waren. Eine zentrale Rolle spielte in der „Klostermathematik“ die Osterrechnung – die Beziehung zwischen dem jüdischen Mondkalender und dem julianischen (römischen) Sonnenkalender, oder die Berechnung des ersten Frühlingsvollmondes (Beda Venerabilis (672/73–735)). Zur Durchführung der eigentlichen Rechnung benutzte Beda die Darstellung der Zahlen durch die Finger und einfachste astronomische Tatsachen. Über Beda hinaus ging erst Alkuin (um 735–804). Seit 796 leitete er ein Kloster in Tours. Für dessen Klosterschule verfaßte er(?) die älteste mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache. Es handelte sich dabei um „Denksportaufgaben“, die mathematisch auf lineare Gleichungen oder elementare geometrische Berechnungen führen. Auch eine Mondrechnung findet sich hier. Der Bezug der Aufgaben zum praktischen Leben war gering. Aus dem 9. Jh. kennt man fragmentarisch eine Handschrift über Vermessungsgeometrie, die Inhaltsberechnungen einfacher Körper enthält. Im 10. Jh.verfaßte Gerbert von Aurillac (vor 945–1003) Schriften zum Rechnen auf dem Abakus und zur ebenen Geometrie, die nur elementarste Grundbegriffe und Verfahren erläuterten. Franco von Lüttich (gest.1083) beschäftigte sich, auf Aristoteles bezugnehmend, mit der Quadratur des Kreises. Seine Arbeit enthielt Aussagen über irrationale Zahlen.

Seit dem 11. Jh. wurden wichtige Werke der griechischen und arabischen Mathematik im lateinischen Europa bekannt. Hauptgrund dafür scheint gewesen zu sein, daß es den Christen gelang, große Teile Spaniens von den Arabern zurückzuerobern. Dabei fielen ihnen deren Bibliotheken, die die gesamte arabische wissenschaftliche Literatur und damit auch die Wissenschaft der Griechen enhielten, in die Hände. Jetzt hatte man auch ein Interesse an diesen Schriften, denn eine neue Schicht von „Intellektuellen“ (Kaufleute, Handwerker, Mediziner, Juristen) in den sich schnell entwickelnden Städten mit ihren Schulen und Universitäten brauchte Fachwissen. Ebenfalls ab dem 11. Jh. entstanden in Spanien, besonders in Toledo, in Südfrankreich und Sizilien Übersetzungen arabischer, aber auch griechischer, mathematischer Schriften. Adelard von Bath (1070/80–um 1146) übersetzte um 1130 die „Elemente“ des Euklid vom Arabischen ins Lateinische und die astronomischen Tafeln des al-Hwarizmi, Gerard von Cremona (1114–1187) übersetzte u. a. Werke von Euklid, Archimedes, al-Hwarizmi, Aristoteles und Ptolemaios. Auf die Übersetzungen folgte die Phase der ersten selbständigen Aufarbeitung des antiken Wissens, allerdings immer noch auf bescheidenem Niveau. Leonardo von Pisa, Jordanus de Nemore (13. Jh.) und Johannes de Sacrobosco (gest. 1221) stehen für diese Phase. Bei ihnen fanden sich aber durchaus auch schon erste weiterführende mathematische Ideen (Leonardo: arithmetische Behandlung einer kubischen Gleichung, Nemore: Einführung von Buchstaben für Zahlen, Sacrobosco: isoperimetrische Betrachtungen). In der zweiten Hälfte des 13. Jhs. erreichte die Übersetzertätigkeit gleichzeitig Höhepunkt und ersten Abschluß. Wilhelm von Moerbeke (um 1215– vor 1286) übersetzte Werke von Archimedes, Heron, Ptolemaios; Campanus (gest. 1296) lieferte eine kommentierte Ausgabe der „Elemente“ des Euklid.

Zum Ende des 13. Jahrhunderts waren erhebliche Teile des klassischen Erbes der Mathematik, aber auch der Physik und Biologie, zugänglich geworden. Fast vollständig unbekannt waren immer noch die Werke des Apollonios (um 262–um 190 v.Chr.) und des Diophantos, des Pappos (um 320) und des Proklos (410–485). Das 14. Jh. brachte erste kritische Auseinandersetzungen mit den naturwissenschaftlichen Schriften der Griechen, insbesondere mit denen des Aristoteles. Dabei ging es nicht um eine grundsätzliche Neubewertung des überkommenen Wissens, sondern vorwiegend um Korrekturen in Einzelfragen. Träger dieser Wissenschaft waren Universitätsgelehrte und Geistliche. Im gesamten Mittelalter hatte das gemeine Volk keinerlei Gelegenheit, sich wissenschaftlich zu bilden. Auch die berufsmäßigen Rechenmeister waren am wissenschaftlichen Fortschritt damals nicht beteiligt. Die erwähnten Korrekturen bezogen sich auf das „Unendliche“, die Gesetze der Bewegung und den Bau der Materie. Thomas Bradwardine (1290/1300–1349), Johannes Buridan (gest. nach 1358) und besonders Nicole Oresme (um 1320–1382) waren typische Repräsentanten dieser Geistesrichtung. Oresme drang dabei bis zu einer graphischen Darstellung von Quantitäten und Qualitäten, der Beschreibung „Krümmung einer Kurve“, zur Summierung einer unendlichen geometrischen Reihe und zur Einführung positiv rationaler Exponenten vor. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts begann diese spekulative, stark von theologischen Vorstellungen geprägte Mathematik zu stagnieren. Mehr der Praxis zugewandt waren die Erstellung astronomischer Tafeln (u. a. die Alfonsinischen Tafeln), Schriften zur Architektur (u. a. „Bauhüttenbuch“ von Villard de Honnecourt, um 1235) und zum Vermessungswesen. Über das Vermessungswesen sind seit dem 9. Jh. Schriften bekannt. Levi ben Gerson (1288–1344) führte den Jakobsstab ein. Eigentlich schon dem Geist der Renaissance verpflichtet waren das Werk des Leonardo von Pisa ebenso wie das des Giotto (1266/67–1336). Leonardo schrieb nicht mehr für Theologen und Universitätsgelehrte, sondern für die Vertreter des aufkommenden Bürgertums. In Giottos Werk, das auch Anfänge der Zentralperspektive enhielt, werden „wirkliche Menschen“, nicht „theologische Vorstellungen“, dargestellt.

Mathematik der Renaissance

Dies ist im wesentlichen die Mathematik des 15. und 16. Jahrhunderts, wenn auch die Anfänge der „Wiedergeburt“ bis in das 13./14. Jh. zurückreichen.

Im 14./15. Jh. bildeten sich in Europa die Elemente des Frühkapitalismus heraus. Der Träger dieser Entwicklung, das Bürgertum, war einerseits an einer kritischen Übernahme der aus der Antike überlieferten Kenntnisse, andererseits an einer Nutzbarmachung von Wissenschaft für ökonomische Zwecke interessiert. In der Zeit der Renaissance ging man soweit wie möglich auf die griechischen Originalquellen zurück und machte die Werke der antiken Mathematiker in der Originalsprache, in einzelnen Fällen aber auch in den Landesprachen, zugänglich. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern förderte nachhaltig die Verbreitung des antiken mathematischen Wissens. So erschienen 1543 die erste italienische Euklid-Übersetzung, 1544 die erste griechische Ausgabe der Werke des Archimedes. Die Weiterentwicklung des aus Antike und Mittelalter überkommenen mathematischen Wissens ging in drei Hauptrichtungen voran.

1. Die Trigonometrie wurde zum geschlossenen System ausgebaut. In den „Fünf Büchern über alle Arten von Dreiecken“ (geschrieben 1462–64, gedruckt 1533) faßte Regiomontanus(?) das gesamte in griechischen, islamischen und europäisch-mit-telalterlichen Schriften verstreute Wissen zusammen und ergänzte es durch eigene Tafeln. Die folgenden Jahrhunderte brachten eigentlich nur Ausgestaltungen dieses Wissens. Erst Vieta (1540–1603) rechnete mit trigonometrischen Funktionen.

2. Ausbau der Rechenmethoden. Durch die gestiegenen mathematischen Anforderungen in Handel und Handwerk entwickelte sich ein selbständiges kaufmännisches Rechnen. Man mußte Währungen umrechnen, Maße sicher beherrschen, Zins- und Zinseszins feststellen, Buch führen. Diese Aufgaben wurden von Rechenmeistern bewältigt, die oft eigene Rechenschulen unterhielten und ihre Kenntnisse in „Rechenbüchlein“ verbreiteten. Die Rechenmeister beherrschten und unterrichteten gleichermaßen das Rechnen auf dem Rechenbrett und das neue schriftliche Rechnen mit den indisch-arabischen Ziffern. Die Schwierigkeiten bei der Durchführung einer schriftlichen Rechnung waren damals enorm, und die neuen Verfahren setzten sich endgültig erst im 17. Jh. durch. Eine wesentliche Vereinfachung des Rechnens gelang mit der Einführung der Dezimalbrüche 1585 durch Simon Stevin (1548–1620). Allerdings waren diese im islamischen Kulturkreis schon lange vorher bekannt. Einen ebenso großen Fortschritt bildete die Bekanntmachung der Logarithmen durch J. Neper 1614 und J. Bürgi 1620.

3. Algebraisierung. Es erwies sich als unumgänglich, die ursprünglich rezeptartig vermittelten rechnerischen Verfahren theoretisch zu durchdringen und algorithmisch aufzuarbeiten. Bereits in der „Coß“ (bekanntester Vertreter: A. Ries (1492–1559)) wurden feste Bezeichnungen für Variable, Potenzen der Variablen, Rechenoperationen verwendet, aber erst mit der äußerst einflußreichen „Arithmetica integra“ (1544) von Michael Stifel (1487?–1567) begannen sich einheitliche Bezeichnungen durchzusetzen.

Um 1500 war in Italien ein „algebraischer Durchbruch“ gelungen. S. del Ferro (1465–1526) entdeckte die Auflösung der kubischen Gleichung, veröffentlichte aber nichts darüber. N. Tartaglia (1499/1500–1557) gelang 1535 die erneute Entdeckung und G. Cardano (1501–1576) veröffentlichte 1545 die Lösung. In Cardanos „Ars magna … “ findet man auch die erste Lösung der Gleichung vierten Grades durch L. Ferrari (1522–1569). Letzter bedeutender Algebraiker der Renaissance war F. Vieta. Er verwendete durchgängig eine feste algebraische Bezeichnungs- und Schreibweise und revolutionierte die algebraische „Umformtechnik“ (veröffentlicht 1631).

Zwei Gebiete, die etwas „abseits“ lagen, erlebten in der Renaissance einen großen Aufschwung. In der Kreismessung gelang Ludoph van Ceulen (1540–1610) die Berechnung von π auf 35 Dezimalen.

Seit Giotto (1267–1336) versuchten Maler und Architekten ein „reales Bild“ des Raumes zu ersinnen. Erst F. Brunelleschi (1377–1446) gelang es um 1400, die Zentralperspektive zu entwickeln. In Schriften von L.B. Alberti (1404–1472), P. della Francesca (um 1420–1492) und A. Dürer (1471–1528) wurde sie weiterentwickelt und meisterhaft dargestellt.

Mathematik in der Zeit der wissenschaftlichen Revolution (1600–1720)

Im Gegensatz zu allen anderen vorausgegeangenen Perioden der Entwicklungsgeschichte der Mathematik wird die Mathematik in der Zeit der wissenschaftlichen Revolution durch einen völligen Auffassungswandel von dem, was Mathematik sei und leisten kann, gekennzeichnet. Die vorausgangene Zeit war bestimmt durch eine große Zahl von erfolgreichen Mathematikern, die aber wenig grundsätzlich Neues schufen. Die Herausbildung der Infinitesimalrechnung ist das wichtigste Merkmal der Mathematik in der Zeit der wissenschaftlichen Revolution. Aber es gab weitere Aspekte, die die Mathematik dieser Zeit bestimmten, wenn sie auch mehr oder minder stark mit dem Infinitesimalkalkül in Verbindung stehen. Es entstand die Theorie der „unendlichen Reihen“. In der Anfangsphase dieser Theorie war man der Meinung, man müsse die Summe jeder unendlichen Zahlenreihe ermitteln können, Konvergenz und Divergenz waren „kein Thema“. Auf dieser Grundlage summierte Leibniz viele Reihen und zog anstandslos divergente Reihen als „Vergleichsreihen“ hinzu. Aus dem Quadraturproblem erwuchs die eigentliche (korrekte) Reihentheorie. John Wallis hatte das Quadraturproblem für y = xm (m reell) bis auf m = −1 im Jahre 1655 lösen können. Das Jahr 1668 brachte dann die entscheidenden Fortschritte. W. Brouncker (1620–1684) gelang es, eine Reihe für ln2 anzugeben, die er durch geometrische Quadratur eines Flächenstücks unterhalb der Hyperbel xy = 1 gewonnen hatte. J. Gregory (1637–1675) untersuchte die Quadratur von Kreis und Hyperbel und führte die Fachtermini „konvergent“ und „divergent“ ein. Im gleichen Jahr stellte N. Mercator (um 1619–1687) den allgemeinen Zusammenhang zwischen Hyperbelquadratur und Logarithmusfunktion her. Die „Logarithmotechnica“ von Mercator löste eine Art „Kettenreaktion“ aus, viele Entdeckungen über spezielle Reihen folgten.

Im Jahre 1669 hinterlegte Newton seine „De analysi per aequationes numero terminorum infinitas“ bei der Royal Society. Die Arbeit begründete eigentlich die selbständige Theorie der unendlichen Reihen, allerdings besaß auch Newton noch keine Konvergenztheorie. Er benutzte die Reihenlehre zum Bestimmen von Wurzeln und setzte sie für Quadraturen und Rektifikationen ein. Die Bi- nomialreihe kannte er schon seit etwa 1665. Ab 1668/70 hatte Gregory die Kenntnis der (allgemeinen) „Taylor-Reihe“ und setzte diese Kenntnisse zur Bestimmung vieler spezieller Reihen ein. Ab 1675 kombinierte er Reihenlehre und die selbständig entwickelten Vorstellungen über Differentialgleichungen. Das gesamte 18. Jahrhundert über ist die Reihenlehre, auch auf dem Kontinent, ein beherrschendes Thema mathematischer Forschung geblieben. Euler, die Bernoullis, und viele andere bauten die formale Seite der Reihenlehre aus und setzten Reihen zur Lösung astronomischer und mechanischer Probleme ein.

Bereits Vieta hatte zwischen variablen und konstanten Größen unterschieden. Fermat und Descartes griffen diese Auffassung auf, aber erst Newtons „fließende Größen“ (Fluenten) und die Potenzreihenentwicklung schufen den ideellen Durchbruch zum Funktionsbegriff. Diesen begründete Leibniz seit 1673 unter maßgeblicher Beteiligung von Johann I Bernoulli (1694, 1718). Hauptsächlich durch Eulers „Introductio in analysin infinitorum“ (1748) wurde er mathematisches Allgemeingut, wobei allerdings offen blieb, ob die Eulerschen „analytischen Ausdrücke“ wirklich alle möglichen Funktionen beschrieben. 1690 stellte Jakob I Bernoulli das Problem der Kettenlinie, dem viele ähnliche Probleme folgten, die das Aufsuchen spezieller Funktionen zum Ziele hatten. Alle bedeutenden Mathematiker der Zeit beteiligten sich an solchen „Lösungswettbewerben“. Neben dem isoperimetrischen Problem brachten derartige Aufgaben die Anfänge der Variationsrechnung hervor.

Um 1600 trat in der Lehre von den Kegelschnitten eine entscheidende Wende ein. Wenn man vom Kreis absieht, waren Kegelschnitte seit der Antike „rein mathematische Gebilde“ gewesen. Seit der „Astronomia nova“ (1609) von J. Kepler war die Ellipse auch ein physikalisch-reales Gebilde, spätestens seit Galileis „Discorsi“ (1638) war bekannt, daß beim Wurf „ohne allen Widerstand“ die Wurfbahn eine Parabel ist. Himmelsmechanik und irdische Bewegungslehre verschafften den Kegelschnitten neue Aufmerksamkeit. Man versuchte, die antike Kegelschnittlehre des Apollonios zu rekonstruieren, und gab zusammenfassende Darstellungen der Lehre von den Kegelschnitten mit Einschluß der fragmentarisch überlieferten antiken Resultate (Gregorius a Santa Vincentio (1584–1667) um 1620).

Entscheidende Fortschritte auf diesem geometrischen Gebiet und weit darüber hinaus brachte aber erst das Jahr 1637: Descartes veröffentlichte seinen „Discours de la méthode“. Die darin vorgeführte Anwendung seines rationalistischen Verfahrens auf die Geometrie, mit dem Ziel, diese für die Lösung algebraischer Probleme nutzbar zu machen, gehörte zu den Quellen der analytischen Geometrie. Descartes führte die „Gleichung“ einer Kurve ein, benutzte eine Art Koordinatensystem und „rechnete“ mit Strecken wie mit Zahlen. Er konnte algebraische Gleichungen durch geometrische Konstruktion lösen oder die Konstruktion des geometrischen Ortes bei vorgegebener Gleichung vornehmen. Er vermutete, daß es Gleichungen n-ten Grades mit n Lösungen gibt, bezog aber keine klare Stellung zu dem u. a. von Girard 1629 formulierten Fundamentalsatz der Algebra.

Möglicherweise sogar schon vor 1637 niedergeschrieben wurde die „Isagoge“ von Fermat. In ihr sprach er das Grundprinzip der analytischen Geometrie aus: „Sobald in einer Schlußgleichung zwei unbekannte Größen auftreten, hat man einen Ort, und der Endpunkt der einen Größe beschreibt eine gerade oder krumme Linie … “. Zur „Versinnlichung“ dieses Zusammenhanges führte er Vorstufen „schiefwinkliger“ Koordinaten ein. Fermats Untersuchungen lieferten auch den Satz: Kurven zweiter Ordnung stellen stets Kegelschnitte (körperliche Örter) dar, er glaubte aber fälschlicherweise, daß das Studium aller höheren Kurven auf das Studium der Kegelschnitte reduziert werden kann. Die weiteren Fortschritte der analytischen Geometrie wurden sehr mühsam errungen. Erst Newton gab 1676 eine Klassifikation der Kurven dritter Ordnung, führte das „cartesische Koordinatensystem“ ein, und verwendete negative Koordinaten.

Seit der Antike sind Rechenhilfsmittel (Rechenbrett, Abakus) in Gebrauch gewesen. Mit dem 17. Jahrhundert setzte auch hier eine neue Entwicklung ein. Um 1600 konstruierte J. Neper seine Rechenstäbchen, um 1620 baute E. Gunter den ersten Rechenschieber. Für den Rechenschieber war die „Erfindung“ der Logarithmen Voraussetzung (erste Veröffentlichungen J. Neper 1614, J. Bürgi 1620). In der Mitte des 17. Jahrhunderts war der Rechenstab voll durchgebildet. Wirkliche Rechenmaschinen bauten 1623/24 W. Schickard (1592–1635) und ab 1640 B. Pascal. Die Schickardsche Maschine konnte Addieren und Multiplizieren, die Pascalsche Addieren und Subtrahieren. Seine erste unvollkommene Vierspeziesmaschine führte Leibniz 1673 in London vor.

Für die Zeit der wissenschaftlichen Revolution war auch etwas Grundlegendes kennzeichnend: Wissenschaftler konnten jetzt in höchste Staatsämter aufsteigen, wobei die gesellschaftliche Emanzipation der Wissenschaft in England viel rascher voranging als auf dem Kontinent. Die Bedeutung der Universitäten nahm gleichzeitig stark ab, weil sie den Vertretern der neuen Naturwissenschaft und der neuen Mathematik oft keine Heimstatt boten. Insbesondere Praktiker der neuen Wissenschaft waren gezwungen, sich selbst zu organisieren um ihre Resultate austauschen zu können, auch gemeinsam arbeiten zu können. Es entstanden, oft mit Unterstützung des absolutistischen Staates, erste wissenschaftliche Gesellschaften (Akademien), so in Rom 1601, Florenz 1657, London 1662, Paris 1666, und Schweinfurt („Leopoldina“) 1687). Die Akademien wurden nun zu den Zentren des Fortschritts in Mathematik und Naturwissenschaft.

Mathematik des 18. Jahrhunderts

Die Mathematik des 18. Jahrhunderts ist geprägt durch den Aufschwung der Analysis und ist in diesem Sinne eine Zeit der Konsolidierung und des Ausbaus der in der wissenschaftlichen Revolution hervorgebrachten neuen Ideen. Zugleich etablierten sich die Akademien als Träger der wissenschaftlichen Entwicklung. Nach den Gründungen in Italien, London (1662) und Paris (1666) kamen mit Berlin (1700) und St. Petersburg (1724) zwei weitere bedeutende Akademien hinzu, die bald durch die in Schweden, Dänemark und Portugal sowie weitere in Italien und Deutschland ergänzt wurden. Mit den Berichten dieser Akademien erlebte auch das wissenschaftliche Zeitschriftenwesen einen deutlichen Aufschwung. Zu Anfang des Jahrhunderts dominierten in der Infinitesimalmathematik noch die geometrischen Methoden, doch zunehmend erkannte man die große Effektivität der analytischen Methoden. Zugleich wurden die Mathematiker immer vertrauter mit der Kraft der neuen Ideen der Infinitesimalrechnung und fanden ständig neue Anwendungsgebiete. Neue tiefgreifende Resultate wurden zu gewöhnlichen und partiellen Differentialgleichungen, zur Differentialgeometrie, zur Reihenlehre und zur Variationsrechnung erzielt. Der Gebrauch der infinitesimalen Methoden, speziell der Differentiale, war sehr freizügig, ohne eine exakte Begründung, obwohl sich viele Mathematiker der Schwächen in der Begründung dieser Methoden sehr wohl bewußt waren und sich auch um deren Beseitigung mühten. Doch die theoretische Absicherung der Methoden war nicht das Hauptziel der Gelehrten, sondern die Lösung der vielfältigen, vor allem mechanischen Probleme, ja, eine ganze Reihe von Wissenschaftlern sahen die Mathematik nur noch als Hilfswissenschaft der Physik. Die physikalische Korrektheit der abgeleiteten Folgerungen diente nicht selten als Rechtfertigung für das angewandte mathematische Verfahren. Die Grundfragen, wie die Konvergenz von Reihen, die Definition und der Gebrauch von Differentialen höherer Ordnung, die Existenz von Integralen, die Vertauschbarkeit von Differentiation und Integration blieben jedoch letztlich unbeantwortet.

Neben der Physik bildete die Astronomie ein zweites großes Anwendungsgebiet. In Verbindung mit der Newtonschen Gravitationstheorie eröffnete die Infinitesimalmathematik den Weg, ein großes Spektrum astronomischer Probleme mathematisch zu behandeln. Die Bahnen der Planeten und Kometen sowie die Bestimmung des Einflusses von Störungen auf diese Bahnen, das Drei-Körper-Problem, die Bewegung des Erdmondes und der Jupitermonde sowie die allgemein interessierende Frage nach der Stabilität des Sonnensystems waren einige Aufgaben, die der Bearbeitung harrten. Die Zahl der neuen Resultate auf dem Gebiet der Analysis war riesig. Bedeutende Beiträge lieferten u. a. die Bernoullis, Euler, Lagrange, d’Alembert, Clairaut und Laplace. Johann I Bernoulli benutze das Verfahren des integrierenden Faktors, Euler publizierte 1743 seinen Lösungsansatz y = ekx für homogene Differentialgleichungen n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten, später auch eine Methode zur Lösung der inhomogenen Gleichungen, 1777 erschien dann die Methode der Variation der Konstanten von Lagrange. Als eine zentrale Gleichung erwies sich die später nach Laplace benannte Gleichung Δu = 0. Sie trat sowohl bei D. Bernoulli und Euler in den Untersuchungen zur Hydrodynamik auf, als auch bei Studien zur Gestalt der Erde und der gegenseitigen Anziehung von Körpern, die Clairaut bzw. Legendre und Laplace durchführten. In diesem Kontext fand Legendre die nach ihm benannten Polynome, und Laplace schuf erste Grundzüge der Potentialtheorie.

Ein weiteres wichtiges Problem war die Gleichung der schwingenden Saite und deren Lösung. Mit der aus experimentellen Erfahrungen gewonnenen Ansicht, daß die Lösung als Superposition eines Grundtons und einer Folge von Obertönen, also als trigonometrische Reihe, erhalten wird, löste D. Bernoulli eine langanhaltende, teils kontroverse Diskussion aus, die bis ins 19. Jahrhundert nachwirkte und u. a. in die Theorie der Fourier-Reihen einmündete. Ebenso heftig diskutiert wurde das 1744 von de Maupertuis aufgestellte Prinzip der kleinsten Aktion, nicht zuletzt wegen der engen Beziehungen des Prinzips zu Fragen innerhalb der Aufklärungsphilosophie. Nachdem zuvor schon viele Variationsprobleme als Einzelfälle behandelt worden waren, entwickelten Euler und Lagrange eine erste Methode, die eine systematische Darlegung der Theorie ermöglichte. Lagranges Anwendung der Variationsrechnung auf die Dynamik brachte den bekannten Formalismus und die später nach ihm benannten Gleichungen hervor. Der Aufschwung der Analysis wurde begleitet durch zahlreiche Lehrbücher, die eine systematische Darstellung der neuen Theorie präsentierten und die Durchbildung des Kalküls weiter voranbrachten. Herausragend waren dabei die Werke Eulers, der die Infinitesimalmathematik, die Differentialrechnung und die Integralrechnung jeweils in mehrbändigen Monographien erfaßte und dabei einen neuen Lehrbuchtyp schuf.

Die Algebra des 18. Jahrhunderts wurde noch im wesentlichen als Theorie der Gleichungen verstanden. Die Frage nach der Auflösbarkeit poly- nomialer Gleichungen in Radikalen stand im Mittelpunkt. Lagrange und Vandermonde eröffneten 1770 neue Gesichtspunkte, indem sie Funktionen der Wurzeln dieser Gleichungen und die von diesen Funktionen bei der Permutation der Wurzeln angenommenen Werte studierten. Am Ende des Jahrhunderts gab Ruffini dann einen ersten unvollständigen Beweis dafür, daß die allgemeine Gleichung fünften Grades nicht in Radikalen auflösbar ist. Ein weiteres Thema, der Fundamentalsatz der Algebra, erhielt entscheidende Impulse durch die Analysis, da das Resultat für die Partialbruchzerlegung im Rahmen der Integration rationaler Funktionen von grundsätzlicher Bedeutung war. Nach Beweisen von Euler und d’Alembert um die Jahrhundertmitte lieferte der junge Gauß 1797 eine erste den damaligen Exaktheitskriterien genügende Bestätigung des Fundamentalsatzes. Er griff dabei auf die komplexen Zahlen zurück, deren Gebrauch und deren Status im Zahlensystem und in der gesamten Mathematik ein ständiger Streitpunkt für die Mathematiker des 18. Jahrhunderts war. Das grundlegende Lehrbuch zur Algebra stammte wieder aus der Feder von Euler (1769, deutsch 1770), ohne daß er jedoch auf die neuen Tendenzen zur Gleichungstheorie eingehen konnte. Auch die lineare Algebra verzeichnete bemerkenswerte Fortschritte.

Die Zahlentheorie des 18. Jahrhunderts war noch eine Sammlung von einzelnen Problemen. Der Kleine Fermatsche Satz wurde von Euler (1736, Verallgemeinerung 1760) und anderen Mathematikern bewiesen. Auch beim Beweis des Großen Fermatschen Satzes erzielte man Fortschritte, Euler bestätigte Fermats Vermutung für n = 3 und 4, Lagrange, Legendre und Gauß vervollständigten diese Ausführungen, schließlich führte Legendre den Nachweis für n = 5. Ein weiteres Themenfeld waren die verschiedenen Zerlegungen ganzer Zahlen in unterschiedliche Klassen ganzer Zahlen. So gelang Lagrange 1770 die Bestätigung von Fermats Behauptung, daß jede positive ganze Zahl die Summe von höchstens vier Quadraten ist. Dabei griff er auf wichtige Teilergebnisse zurück, die Euler in 40-jähriger Forschung zu diesem Problem erhalten hatte. E. Waring formulierte den Sachverhalt für die Darstellung durch Kuben und vermutete, daß jede positive ganze Zahl als Summe von höchstens r k-ten Potenzen ausgedrückt werden kann, wobei r von k abhängt. Auch die später nach Chr. Goldbach benannten Vermutungen, daß jede gerade Zahl (>2) Summe zweier Primzahlen und jede ungerade Zahl (>6) Summe dreier Primzahlen ist, entstammt jener Zeit, Goldbach äußerte sie 1742 in einem Brief an Euler. Bei einigen der genannten und mehreren anderen Problemen spielten Betrachtungen über Formen eine wichtige Rolle. Die wohl wichtigste zahlentheoretische Entdeckung des 18. Jahrhunderts war das quadratische Reziprozitätsgesetz, das unabhängig von Euler (1783, erste Formulierung 1744) und Legendre (1785) angegeben, aber nicht vollständig bewiesen wurde. Schließlich publizierte Legendre 1798 eine systematische lehrbuchmäßige Darstellung der Zahlentheorie.

Die Geometrie stand im 18. Jahrhundert über weite Strecken in enger Verbindung mit der Analysis. In der Anwendung der Analysis auf geometrische Fragen entstanden wichtige Studien, die die Grundlage der Differentialgeometrie bildeten. Clairaut, Lancret, Euler, de Gua de Malves u. a. erzielten interessante Resultate über ebene und räumliche Kurven. Euler, Meusnier und Monge schufen eine Theorie der Flächen im dreidimensionalen Raum, wobei wesentliche Anregungen aus der Herstellung von Karten kamen. Monge war es dann auch, der die geometrische Betrachtungsweise in die Analysis einführte. Mit der Theorie der Charakteristiken bereicherte er die Theorie der Differentialgleichungen und eröffnete die geometrische Interpretation analytischer Ideen. Bereits zuvor, in den 60er Jahren, hatte Monge die wichtigsten Ideen für ein konstruktives Verfahren zur Darstellung von Körpern in zwei Bildebenen gefunden. Aber erst 1798, als die militärische Geheimhaltung hinfällig geworden war, konnte er das neue Gebiet der darstellenden Geometrie in einem Lehrbuch präsentieren. Von den Vorarbeiten zur darstellenden Geometrie seien nur die von J.H. Lambert erwähnt, der 1759 die Darstellung räumlicher Körper mit Mitteln der projektiven Geometrie behandelte. Neben den verschiedenen Neuentwicklungen beschäftigte auch ein uraltes Thema die Geometer jener Zeit: Die Theorie der Parallellinien. Saccheri und Lambert konstruierten in ihrem Bemühen, das Euklidische Parallelenpostulat zu beweisen, erste Teile nichteuklidischer Geometrien, ohne diese als solche zu erkennen. Weitere „Beweise“ lieferten Bertrand 1778 und Legendre ab 1794.

Abschließend sei noch auf Lamberts Beitrag zur Logik verwiesen. Ab 1753 hatte er sich Fragen der Logik gewidmet und baute 1764 in seinem Hauptwerk einen algebraischen logischen Kalkül auf.

Trotz der unbestrittenen Dominanz analytischer Forschungen erlebten auch die anderen Gebiete der Mathematik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen deutlichen Aufschwung. Eine neue Denkweise hatte sich aber noch nicht herausgebildet, ja, unter dem Eindruck der erzielten Erfolge glaubten einige Mathematiker am Ende des Jahrhunderts, daß in der Mathematik die wichtigsten Probleme gelöst seien. Ihr Irrtum sollte sehr bald offenkundig werden.

Mathematik des 19. Jahrhunderts

Die Mathematik des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eine bis dahin nicht gekannte Erweiterungund Spezialisierung der mathematischen Erkenntnisse sowie den Beginn eines grundlegenden Wandels, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkte. Im Rahmen der Industriellen Revolution bildete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein qualitativ neues Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften einschließlich der Mathematik und der materiellen Produktion heraus, das für die Mathematik eine Flut von neuen Anregungen und Anwendungsmöglichkeiten bereit hielt. Die Universitäten erlebten einen neuen Aufschwung und profilierten sich als Stätten der Lehre und Forschung. Neben dem Ausbau der Naturwissenschaften und Mathematik an den bestehenden Universitäten traten zahlreiche Neugründungen. Als völlig neue, den Bedürfnissen der Zeit entsprechende Einrichtungen entstanden die polytechnischen Schulen nach dem Vorbild der 1794 gegründeten Ecole Polytechnique in Paris, aus ihnen gingen später die Technischen Hochschulen hervor. Auch die Zahl der Mathematiker vergrößerte sich enorm, neben Frankreich, England und Deutschland als traditionelle Zentren der Forschung lieferten die Mathematiker Italiens und Rußlands bedeutende Beiträge. Am Ende des Jahrhunderts etablierten sich die USA als neue Forschungsnation, die sehr bald eine Spitzenposition auf vielen mathematischen Gebieten einnehmen sollte. Das starke quantitative Wachstum und die Spezialisierung des mathematischen Wissens führten auch dazu, daß etwa ab den 70er Jahren die früher häufig anzutreffende Personalunion von Mathematiker, Physiker und Astronom verschwand, und die Mathematik nicht mehr in naiver Weise als Naturwissenschaft aufgefaßt und betrieben wurde. Auch hatte ein grundlegender Wandel im Wesen der Mathematik begonnen, der sich zunächst auf eine exaktere Fassung der Grundbegriffe und eine entsprechende Vorstellung von mathematischer Strenge und exakter Beweise konzentrierte. In diesem Prozeß entstanden präzise Definitionen der Grundbegriffe, wie irrationale Zahl, Stetigkeit, Ableitung, Grenzwert, Integral usw., sodaß man am Ende des Jahrhunderts glaubte, das Ziel, die Mathematik auf eine solide Basis zu stellen, erreicht zu haben. H. Poincaré sprach 1900 auf dem 2. Internationalen Mathematiker-Kongreß davon, daß jetzt eine absolute Strenge vorliege. Wichtige Beiträge in diesem Prozeß lieferten B. Bolzano, N. H. Abel, A. Cauchy, P. Dirichlet, und K. Weierstraß. In ihren Arbeiten klärten diese Gelehrten den Umfang der Begriffe, wie Stetigkeit, Differenzierbarkeit, Existenz höherer Ableitungen, Entwickelbarkeit in eine konvergente Potenzreihe, Integrierbarkeit u.ä. auf, und legten die zwischen diesen bestehenden Relationen dar. Der Funktionsbegriff fand in diesen Rahmen eine Neufassung und Präzisierung. Das Bemühen um eine bessere Begründung der Mathematik, speziell der Analysis, war verbunden mit dem Abwenden von geometrischen Anschauungsweisen und dem Bestreben, das Zahlsystem zur Grundlage der Betrachtungen zu machen, ein Prozeß, der auch als Arithmetisierung bezeichnet wurde, und den zunächst verschiedene Mathematiker als formalistische Übertreibung kritisierten. Der notwendige strenge Aufbau des Zahlsystems wurde in mehreren Schritten in Umkehrung der logischen Ordnung geleistet. Nachdem C. F. Gauß der von ihm selbst und einigen anderen Mathematikern entwickelten geometrischen Darstellung komplexer Zahlen durch seine Autorität zur allgemeinen Anerkennung verholfen hatte, gelang R. W. Hamilton 1833 eine arithmetische Interpretation als Zahlenpaare, wobei er zugleich die Aufmerksamkeit auf die Verknüpfungen der als abstrakte Elemente aufgefaßten Zahlen und deren Verknüpfungsregeln lenkte. Die exakte Einführung der irrationalen Zahlen wurde das Werk mehrerer Mathematiker, die unabhängig voneinander, teilweise analoge Theorien aufstellten, genannt seien C. Méray (1869), G. Cantor (1871), R. Dedekind (1872) und K. Weierstraß, der ab 1859 in Vorlesungen dazu vortrug. Abgeschlossen wurde diese Entwicklung durch R. Dedekind und G. Peano, die 1888 bzw. 1889 jeweils eine Theorie hierzu vorstellten, wobei Dedekinds Überlegungen auf die 70er Jahre zurückgingen. Abweichend von diesem genetischen Aufbau des Zahlsystems gab D. Hilbert 1899 eine axiomatische Einführung des Systems der reellen Zahlen. Bei all den Bemühungen um die Fundierung der Mathematik traten drei Aspekte hervor, die den Wandel der Disziplin charakterisieren: Die Herausbildung der Mengenlehre und das allmähliche Vordringen mengentheoretischer Begriffe und Methoden in große Teile der Mathematik, das Bewußtwerden von logischen Problemen bei der Entwicklung und dem Aufbau der Mathematik, sowie die mit der Konzentration auf diese Fragen verbundene Entstehung der mathematischen Logik und die Entwicklung der axiomatischen Methode. Diese Charakteristika bildeten sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts heraus und erfuhren im 20. Jahrhundert ihre volle Ausprägung.

Eine Konsequenz dieser Prozesse, die gleichsam als ein weiteres Merkmal des Wandels gelten kann, war die Tatsache, daß mit der Mengenlehre und der mathematischen Logik zwei Teildisziplinen der Mathematik entstanden, die neben einer Eigenentwicklung als eine wichtige Anwendung versuchten, das gemeinsame Wesen aller mathematischen Teildisziplinen aufzudecken. Die Mathematik wurde damit selbst zum Untersuchungsgegenstand, man grenzt diese Gebiete heute als metamathematische Disziplinen von den übrigen ab.

Da eine vollständige Übersicht über die Fülle der mathematischen Erkenntnisse im 19. Jahrhundert in diesem Rahmen nicht möglich ist, sollen nur einige wichtige Entwicklungen hervorgehoben werden. Die Mengenlehre, die vor allem das Begriffssystem für die neuen Vorstellungen von Strukturen und Methoden zu deren Konstruktion lieferte, wurde in den 70er Jahren von Cantor im regen Gedankenaustausch mit Dedekind geschaffen. Bereits in der ersten vierteiligen Zusammenfassung der Ergebnisse (1879–84) formulierte er das Kontinuumsproblem und stellte eine Theorie der transfiniten Kardinal- und Ordinalzahlen vor. 1895/97 gab er eine verbesserte Darstellung der Theorie und baute die transfinite Arithmetik auf.

In der mathematischen Logik, die letztlich das Wesen und die zulässigen Schlußweisen der deduktiven Methode erklärte, bestanden im 19. Jahrhundert zwei Aspekte, zu einem die Entwicklung formalisierter Sprachen, zum anderen die stärker auf die Verknüpfung der Symbole konzentrierte Algebra der Logik. Die „Algebraisierung der Logik“ wurde vor allem durch G. Boole ab 1847, C.S. Peirce ab 1870 und E. Schröder ab 1890 vorangebracht, während G. Frege und G. Peano mit der Schaffung formalisierter Sprachen grundlegende Beiträge lieferten.

Eine zentrale Position in der Mathematik des 19. Jahrhunderts nahm die Geometrie ein, viele blickten am Ende dieses Zeitabschnitts auf diesen als ein Jahrhundert der Geometrie zurück. Die Geometrie durchlief eine durchaus als revolutionär zu bezeichnende Entwicklung mit einem umfangreichen inhaltlichen und methodischen Erkenntniszuwachs sowie der Entstehung einer neuen inneren Struktur. Angeregt durch die darstellende Geometrie, aus deren dominierender Stellung an den polytechnischen Schulen eine hohe Wertschätzung für die Geometrie entsprang, erlebten die synthetischen Methoden eine spürbare Wiederbelebung. J.-V. Poncelet griff die Anregungen auf und legte 1822 eine zusammenfassende Behandlung der projektiven Geometrie vor. Der weitere Ausbau der Ideen erfolgte dann vor allem zusammen mit dem Mathematikerkreis um J.D. Gergonne und M. Chasles sowie den deutschsprachigen Mathematikern J.Steiner, J. Plücker, A.F. Möbius und K.G.Chr.von Staudt durch die Aufklärung des Dualitätsprinzips und die Vervollständigung des synthetischen Aufbaus. Von Staudt konstruierte in der „Geometrie der Lage“ (1847) und den nachfolgenden „Beiträgen“ (1856/58) eine metrikfreie Begründung der projektiven Geometrie, die F. Klein 1871 abrundete. Dabei spielte die von A. Cayley gegebene Zurückführung metrischer Eigenschaften auf projektive (1859) eine wichtige Rolle. Möbius und Plücker konzentrierten sich auf den Ausbau der algebraischen Methoden und fanden in der Einführung von homogenen bzw. Linien-Koordinaten (1827 bzw. 1828) geeignete Mittel, die letzterer u. a. sehr nutzbringend zum Studium algebraischer Kurven einsetzte und damit den Boden für die algebraische Geometrie bereitete. Die bedeutendste Errungenschaft der Geometrie des 19. Jahrhunderts war die Schaffung nichteuklidischer Geometrien. Nachdem sich Gauß, der etwa ab 1815 nach langem Ringen zu der Überzeugung gekommen war, daß die nichteuklidischen Geometrien richtig waren, nur vertraulich dazu äußerte, erzielten J. Bolyai und N. I. Lobatschewski in der zweiten Hälfte der 20er Jahre wichtige Grundeinsichten in diese Geometrien. Die Ausarbeitungen der beiden Gelehrten erschienen 1832 bzw. 1829/30 und 1835, fanden jedoch zunächst wenig Beachtung, lagen doch damit Geometrien vor, die mathematisch widerspruchsfrei waren, aber deren Verhältnisse mit der täglichen Raumerfahrung nicht übereinstimmten. Die mit diesen Arbeiten angezeigte Notwendigkeit, erkenntnistheoretisch zwischen Geometrie und Raum zu unterscheiden, vollendete dann B. Riemann 1854 (publiziert 1868) mit seinen weitreichenden Vorstellungen zu einer Theorie der Mannigfaltigkeiten in n Dimensionen in einem viel umfassenderen Rahmen. Riemann setzte damit den Ausgangspunkt für mehrere grundlegende neue Entwicklungen in der Geometrie. Die Anerkennung der nichteuklidischen Geometrie kam schließlich durch den Nachweis ihrer Widerspruchsfreiheit durch die Angabe von Modellen (Beltrami, 1869; Klein, 1871) voran. Weitere wichtige Fortschritte der Geometrie waren deren Klassifikation mit gruppentheoretischen Methoden durch Klein 1872 im „Erlanger Programm“ und die axiomatische Charakterisierung durch Hilbert 1899 in den „Grundlagen der Geometrie“. Die Beschäftigung mit den Grundlagen der Geometrie ist im Zusammenhang mit analogen Bestrebungen in anderen Teilen der Mathematik zu sehen. Die Studien wurden in den letzten Jahrzehneten des 19. Jahrhunderts von mehreren Gelehrten, u. a. M. Pasch, G. Peano und G. Veronese, vorangebracht und waren eng mit der Entwicklung der axiomatischen Methode verknüpft. Hilbert setzte in seiner Schrift die strukturtheoretische Auffassung erstmals konsequent in der Geometrie um.

Das herausragende Forschungsgebiet des 18. Jahrhunderts, die Analysis, nahm auch in den folgenden 100 Jahren einen zentralen Platz in der mathematischen Forschung ein. Neben den bereits erwähnten Bemühungen um die Sicherung der Grundlagen erfuhren die einzelnen Gebiete eine starke inhaltliche Bereicherung. Mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften, speziell der Physik, ergaben sich zahlreiche neue mathematische Problemstellungen, die zu neuen Ergebnissen über gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen, zur Potentialtheorie, zur Variationsrechnung etc. führten. Zugleich warf auch die innerlogische Entwicklung der einzelnen Gebiete immer wieder neue Fragen auf. Der Nachweis von Existenz und Eindeutigkeit der Lösung dieser Gleichungen, ein detailliertes Studium der Rand- und Anfangswertprobleme für partielle sowie der Singularitäten für gewöhnliche Differentialgleichungen und der Aufbau einer qualitativen Lösungstheorie für nichtlineare Gleichungen umreißen nur einige der vielfältigen Probleme. Die Wellengleichung, die homogene und inhomogene Potentialgleichung sowie die Wärmeleitungsgleichung, die sich als Prototypen von Gleichungen herauskristallisierten, erfuhren eine intensive Behandlung. Das hervorragende Ereignis der Analysisentwicklung war jedoch der systematische Aufbau einer Theorie der Funktionen komplexer Veränderlicher insbesondere durch Cauchy, Riemann, und Weierstraß. Die Betrachtung komplexer Veränderlicher offenbarte eine gegenüber der reellen Analysis völlig veränderte Situation, war also keine einfache Erweiterung der früheren Untersuchungen. Mit dem heute als Riemannsche Fläche bekannten Gebilde löste Riemann 1851 das grundlegende Problem der Mehrwertigkeit der komplexen Funktionen und machte viele weitergehende Forschungen erst möglich. Gleichzeitig eröffnete er überraschende Verbindungen zu anderen Gebieten der Mathematik. Einen anderen, auf Potenzreihen und dem Prozeß der analytischen Fortsetzung basierenden Aufbau der Funktionentheorie schuf Weierstraß um die Jahrhundertmitte und trug darüber in seinen Vorlesungen vor. Auf der Basis der von ihnen geschaffenen Zugänge erzielten Riemann und Weierstraß wichtige Einsichten in die von Abel und Jacobi begründete Theorie der doppeltperiodischen Funktionen.

Die Algebra verwandelte ihre Gestalt grundlegend und trug am Ende des Jahrhunderts erste Merkmale einer Strukturtheorie. Abel wies 1826 die allgemeine Gleichung fünften und höheren Grades als nicht in Radikalen auflösbar nach, und Galois legte mit den Grundzügen der später nach ihm benannten Theorie die Basis für die Aufklärung des Auflösungsproblems für Gleichungen n-ten Grades. Im Zuge der Bemühungen zahlreicher Mathematiker, die Ideen Galois’ zu verstehen und präzise darzustellen, vollzog sich eine deutliche Hinwendung zu Strukturuntersuchungen. Nachdem A. Cayley bereits 1854 eine abstrakte Definition einer endlichen Gruppen gegeben hatte, wurde der abstrakte Gruppenbegriff in den 70er Jahren in verschiedenen Studien von Cayley, Cauchy, Dedekind, Jordan, Klein, Kronecker, Lie u. a. zur Algebra, Geometrie bzw. Zahlentheorie herauspräpariert und 1882/83 erstmals von W. von Dyck formuliert. Bei den Begriffen des Körpers und des hyperkomplexen Systems wurde der letzte Abstraktionsschritt erst nach der Jahrhundertwende vollzogen, doch waren auch hier große Fortschritte zu verzeichnen. Der Körperbegriff erfuhr als Zahl- bzw. Funktionenkörper vor allem durch Kronecker, Dedekind und H. Weber eine genaue Analyse, wobei zahlentheoretische Fragen, speziell das Studium algebraischer Zahlen, einen wichtigen Anreiz darstellten. Sehr anregend erwies sich auch das von K. Hensel 1897 publizierte Konzept der p-adischen Zahlen, das Ideen der Analysis, Algebra und Zahlentheorie vereinte. In der Theorie der hyperkomplexen Systeme, deren Entstehung stark durch die Betonung der Verknüpfungsregeln beim Operieren mit mathematischen Objekten stimuliert wurde, und die durch Hamiltons Quaternionen (1843) und Graßmanns „Ausdehnungslehre“ erste markante Beispiele erhielt, gelangten B. Peirce, W. Killing, F.E. Molin und E. Cartan zu wichtigen Einsichten zur Klassifikation und Struktur der Algebren.

Ein weiteres Beispiel für die bedeutenden Anregungen, die im 19. Jahrhundert von der Zahlentheorie auf die Algebra wirken, ist der Idealbegriff. Ausgangspunkt war Kummers Bestreben, eine Arithmetik der Kreisteilungskörper zu entwickeln und dabei die eindeutige Zerlegung von Zahlen in Primelemente herzuleiten. Dies führte ihn zu seiner Theorie der idealen Zahlen (1847), aus der dann in den Händen von Dedekind (1871) und Kronecker (1882) auf ganz unterschiedlichen Wegen die Idealtheorie hervorging. Völlig unabhängig und unbeachtet schuf E.I. Solotarew (Zolotarew) eine analoge Theorie. Von den Fortschritten der linearen Algebra seien die Herausbildung des Vektorraum- und des Matrizenbegriffs hervorgehoben. Wichtige Elemente der Vektorrechnung formulierte Hamilton im Rahmen seiner Studien über Quaternionen, Graßmann kreierte eine sehr umfassende, aber lange unbeachtete Theorie der Vektorräume, und Peano formulierte einen axiomatischen Aufbau der Theorie. Die algebraische Theorie der Matrizen, die erst um die Jahrhundertmitte als eigenständiges symbolisches Element der Algebra auftraten, wurde wesentlich durch Cayley und Sylvester vorangebracht. Das Problem der Klassifikation der Matrizen bzw. der durch sie repräsentierten Transformationen wurde von C. Jordan (1870/71) und Weierstraß (1858/68) gelöst. Große Bedeutung erlangten die Matrizen an Ende des Jahrhunderts durch die Entstehung der Darstellungstheorie.

Als ein wichtiges Teilgebiet der Algebra etablierte sich die Invariantentheorie. Angeregt durch eine 1844 von Boole und Eisenstein unabhängig aufgeworfene Frage bei der Transformation von Formen wurde diese Idee sehr rasch aufgegriffen und fand ihren Niederschlag in zahllosen Arbeiten, u. a. von Cayley und Sylvester in England, Aronhold, Hesse, Clebsch und Gordan in Deutschland sowie Hermite und Jordan in Frankreich. Am leistungsfähigsten erwies sich die symbolische Methode von Aronhold-Clebsch, doch stieß auch sie schnell an ihre Grenzen. Das Grundproblem der Invariantentheorie, die Frage nach der Existenz eines endlichen Systems von Invarianten bzw. Kovarianten, entschied dann Hilbert 1890/93 mit einem völlig neuartigen Ansatz positiv. Dabei begründete er zugleich die Theorie der Polynomideale. Die Invariantentheorie trat dann für einige Zeit in den Hintergrund und fand erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf neuer Basis wieder stärkere Beachtung.

Die Entwicklung der Zahlentheorie wurde zunächst wesentlich durch die 1801 erschienen „Disquisitiones Arithmeticae“ von Gauß geprägt. Er verlieh der Theorie eine neue Gestalt, formulierte viele Ergebnisse über Kongruenzen, über binäre quadratische Formen u. a. völlig neu und bereitete den Weg für weitere Untersuchungen. Daran anknüpfend studierten Jacobi und Eisenstein höhere Reziprozitätsgesetze, Dirichlet, Jacobi, Eisenstein und Kummer die Eigenschaften algebraischer Zahlen. Der nachfolgende Aufbau der Theorie algebraischer Zahlen durch Dedekind (1871/1894) und Kronecker (1882) war einer der großen Erfolge der Zahlentheorie. Zusammen mit den Bearbeitungen und Weiterentwicklungen dieser Theorie durch Weber und Hilbert am Ende des Jahrhunderts waren zugleich die Keime für die Klassenkörpertheorie und Teile der algebraischen Geometrie vorgezeichnet. Mit dem „Zahlbericht“ (1897) verwandelte Hilbert die Theorie der algebraischen Zahlen „in ein großartiges Gebäude aus einem Guß“. Eine fundamentale Neuerung war die Verwendung analytischer Methoden in der Zahlentheorie durch Dirichlet 1837. Ein zentrales Problem der analytischen Zahlentheorie wurden dann die Bemühungen um den Beweis des Primzahlsatzes und die in diesem Zusammenhang notwendigen Studien über die ζ-Funktion. Riemann erkannte 1859 in einer äußerst bedeutsamen Arbeit die Analyse der ζ-Funktion als Funktion der komplexen Variablen s als Schlüssel zum Verständnis der Beziehungen zwischen dieser Funktion und den Primzahlen und formulierte mehrere bemerkenswerte Vermutungen, darunter die noch heute offene Riemannsche Vermutung. Der Primzahlsatz wurde 1896 unabhängig voneinander von Hada- mard und de la Vallée Poussin bewiesen.

Anknüpfend an die im 18. Jahrhundert vorgenommene Unterscheidung zwischen transzendenten und algebraischen Zahlen innerhalb der irrationalen Zahlen bildete die Sicherung der Existenz transzendenter Zahlen durch Liouvilles Nachweis, daß die sog. Liouvilleschen Zahlen transzendent sind (1844), ein weiteres folgenreiches Ergebnis der Zahlentheorie. Die Transzendenz von π bewies zum ersten Mal Hermite 1873, die von n Lindemann 1882, und Cantor zeigte 1874, daß „fast alle“ Zahlen transzendent sind.

Die Mathematik des 19. Jahrhunderts, von der hier nur einige markante Entwicklungen erwähnt werden konnten, ging nahtlos in die Mathematik des 20. Jahrhunderts über. Entscheidende Zäsuren lagen entweder über ein Vierteljahrhundert zurück bzw. sollten erst nach etwa einem weiteren Vierteljahrhundert auftreten.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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