Direkt zum Inhalt

Lexikon der Mathematik: Mathematische Biologie

Biomathematik, in Anlehnung an die Bezeichnung „Mathematische Physik“ u.ä. gebildeter Begriff, der in Verbindung mit der Theoretischen Biologie biologische Vorgänge mit mathematischen Modellen beschreibt und damit zu deren Verständnis beiträgt.

Die Modelle haben die Form von gewöhnlichen oder partiellen Differentialgleichungen, Volter- raschen Integralgleichungen und Differenzendifferentialgleichungen, diskreten dynamischen Systemen, Geburts- und Todes-Prozessen, Verzweigungsprozessen, stochastischen Differentialgleichungen u. a.. Ein frühes Beispiel: Daniel Bernoulli 1760 zum Einfluß infektiöser Krankheiten auf die Demographie (Mortalität und Überlebensfunktion).

Maßgeblich für das Verständnis der Genetik und deren Einfluß auf die Evolution ist die Beschreibung von Selektion, Mutation, genetischem Drift (Neutralismus), Kopplung von Erbanlagen (crossing over) durch deterministische und stochastische Modelle (R.A. Fisher, Haldane, Wright, u. a.). Die Kombination von Vorstellungen der Populationsgenetik und der Spieltheorie lieferte die Theorie der evolutionär stabilen Strategien (ESS) und damit eine Begründung für die Koexistenz verschiedener im einzelnen nicht optimaler Verhaltens- oder Ökotypen.

Theoretische Ökologie und Populationsdynamik entwickelten sich gemeinsam mit der qualitativen Theorie gewöhnlicher Differentialgleichungen (Lotka, Volterra, Kolmogorow u. a.), den Erneuerungsgleichungen (Sharpe und Lotka, Volterra, Feller) sowie Systemen hyperbolischer partieller Differentialgleichungen (McKendrick). In solchen Modellen für nach dem Alter oder der Größe strukturierte Populationen wird die Entwicklung von Individuen durch die charakteristischen Differentialgleichungen der partiellen Differentialgleichungen beschrieben (Zellzyklus). Populationen in fragmentierten Habitats werden auch Metapopulationen genannt. Im Zusammenhang mit der Ökologie stehen die Biodiversitätsforschung und die Bioökonomie.

Eine wichtige Rolle spielen mathematische Modelle in der Epidemiologie im Sinne der Dynamik und Kontrolle infektiöser Krankheiten (grundlegende Modelle von Kermack und McKendrick, sog. Schwellentheorem; ein grundlegender Begriff ist die Basisreproduktionszahl, s. a. Immunologie).

Die Modelle der Neurobiologie beschreiben die Erregung von Nervenzellen, die Erzeugung von Folgen von Nervenimpulsen und deren Fortleitung längs Nervenfasern mit gewöhnlichen und partiellen Differentialgleichungen (Hodgkin, Huxley, Fitzhugh u. a.). Neuronale Netzwerke sollten ursprünglich Interaktionen von Nervenzellen beschreiben und haben sich sich jetzt zu einem eigenständigen Werkzeug der Modellbildung und Berechnung entwickelt (Neuronale Netze). Die Modellierung der Herzfunktion und des Blutkreislaufs erfordert Eingehen auf die physikalischen und physiologischen Grundlagen (Bio-Fluid-Dynamik).

Mathematische Modelle dienen dazu, die Entstehung zeitlicher und räumlicher Muster in biologischen Systemen zu verstehen. Zeitliche Muster werden erklärt durch Interaktionen, Rückkopplung, Verzögerungen (z. B. Juvenilstadien in der Populationsdynamik, verzögerter Transport in der Physiologie). Solche Muster sind Oszillationen und Schwingungen in chemischen (Reaktionskinetik, Belousow-Zhabotinsky-Reaktion), physiologischen (Biorhythmus) oder ökologischen Systemen (Räuber-Beute-Zyklus). Räumliche Muster werden durch das Zusammenwirken von Reaktionen und räumlicher Ausbreitung erklärt und modelliert durch Reaktionsdiffusionsgleichungen und entsprechende Transportgleichungen. Ausgehend von den Ideen von Turing und der Aktivator-Inhibitor-Dynamik hat sich ein Gebiet der biologischen Musterbildung und Morphogenese entwickelt (Lindenmayer-System).

In mehreren Gebieten der Mathematik haben biologische Fragestellungen, einfache mathematische Modelle und die biologische Interpretation der Gleichungen bzw. Prozesse (mit Begriffen wie Ausbreitung, Populationsfront, Wettbewerb, Infektion etc.) die Ausrichtung und Entwicklung mathematischer Forschung beeinflußt, z.B. steht die logistische Gleichung am Beginn der Theorie der diskreten dynamischen Systeme bzw. Intervallabbildungen, die Frage nach der Stabilität laufender Fronten (R.A. Fisher, Kolmogorow-Petrowskij-Piskunow) leitete die qualitative Theorie der Reaktionsdiffusionsgleichungen ein, das Studium nichtlinearer Differentialgleichungen mit Verzögerungen begann mit der verzögerten logistischen Gleichung (Hutchinson-Gleichung), Modelle der Chemotaxis führten auf das Phänomen des blow up bei parabolischen Gleichungen. Die Frage nach der adäquaten Modellierung des Wettbewerbs zwischen biologischen Arten förderte die Theorie der kooperativen und kompetitiven Systeme. Die Theorie der stochastischen Prozesse wurde stark durch biologische Fragestellungen beinflußt (Galton-Watson- Prozeß und viele andere).

Die Molekularbiologie führt auf interessante Probleme bei der Analyse des Genoms und des Proteoms sowie der Phylogenie (z. B. beim Vergleich von DNA-Sequenzen, Alignment), die nicht einem einzelnen Gebiet der Mathematik zugeordnet werden können, sondern Methoden der Kombinatorik, der Stochastik und der Algebra verwenden, und deren praktische Lösung auf jeden Fall den Einsatz von Rechnern erfordert. Diese Fragen werden auch von der Bioinformatik behandelt.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.