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Lexikon der Mathematik: Poincaré, Jules Henri

Mathematiker, Physiker, und Philosoph, geb. 29. 4. 1854 Nancy, gest. 17. 7. 1912 Paris.

Der Sohn eines Medizinprofessors besuchte Schulen in Nancy. Bereits 1872 und 1873 gewann er mathematische Preise, die für die Schüler Frankreichs ausgeschrieben worden waren. Ab 1873 studierte Poincaré an der Ecole polytechnique in Paris. Besonders Ch. Hermite, J.C. Bouquet und C.A.A. Briot förderten das ungewöhnliche Talent. Sie lenkten den Studenten auf das Gebiet der Differentialgleichungen, das die Dominante seines gesamten mathematischen Schaffens werden sollte.

Von 1875–79 studierte Poincaré dann noch an der Ecole des Mines. Die Absolventen dieser Pariser Hochschule waren für die höchsten Staatsämter Frankreichs vorgesehen. Während seines Studiums an der Bergbauschule reichte Poincaré seine Dissertation über die „Integration von partiellen Differentialgleichungen mehrerer Variabler“ ein. Noch während des Studiums war er kurzzeitig als Bergbauingenieur in Vesoul tätig, 1879 entschied sich Poincaré jedoch, eine Hochschullaufbahn einzuschlagen. Er siedelte nach Caën über und wurde Lehrbeauftragter für Analysis an der Universität. In Caën wurde das Studium der Arbeiten von L. Fuchs über Differentialgleichungen zur entscheidenden Anregung. Auf dessen Ideen aufbauend und diese großartig erweiternd, schuf Poincaré im Wettstreit mit F.Klein die Theorie der automorphen Funktionen. Er gab ein Bildungsgesetz für diese Funktionen an und stellte sie durch Theta-Reihen dar (Poincaré-Reihen). Die etwa dreißig Arbeiten über diesen Gegenstand ab 1880 brachten ihm Weltruf ein. Wie Klein erkannte er in diesen Forschungen auch die Lösbarkeit des Uniformisierungsproblems mittels automorpher Funktionen und formulierte 1883 einen allgemeinen Uniformisierungssatz, der Beweis war jedoch noch unvollständig. Erst P. Koebe gelang unabhängig davon 1907 ein Beweis des Uniformisierungstheorems.

1881 kehrte Poincaré nach Paris zurück und lehrte zunächst als ordentlicher Professor an der Sorbonne Analysis. An der Sorbonne war er dann ab 1886 Inhaber des Lehrstuhls für mathematische Physik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, ab 1896 des Lehrstuhls für Himmelsmechanik und Astronomie. In seinen Vorlesungen beschränkte sich Poincaré durchaus nicht auf die vom Lehrstuhl vorgeschriebenen Vorlesungsthemen, sondern bemühte sich, weitgehend alle wichtigen Gebiete der Mathematik abzudecken. Ab 1881 begründete er die qualitative Theorie der Differentialgleichungen und begann, seine Interessen für die mathematische Physik insgesamt besonders zu pflegen. Er entwickelte das „Poincarésche Modell“ der nichteuklidischen Geometrie (1881) und bearbeitete (1884/85) erfolgreich das Problem aller möglichen Gleichgewichtsfiguren rotierender Flüssigkeiten. In seiner qualitativen Theorie der Differentialgleichungen gab er u. a. eine genaue Analyse der singulären Punkte, klärte das Lösungsverhalten in den vier verschiedenen Typen von singulären Punkten auf und erzielte wichtige Aussagen über das Auftreten periodischer und fast periodischer Lösungen.

Diese Forschungen regten Poincaré auch zur Einbeziehung topologischer Betrachtungen an. Mit seinen Arbeiten ab 1885 begründete er die klassische kombinatorische Topologie. Er führte die Grundbegriffe der simplizialen Homologietheorie ein, baute die zugehörige Theorie auf, gab 1895 das Dualitätstheorem an, definierte die Euler-Poincaré-Charakteristik und die Fundamentalgruppe eines Komplexes, bewies den Verschlingungssatz, und stellte 1904 die nach ihm benannte Hauptvermutung auf. Im Kontext topologischer Studien formulierte er auch 1912 einen teilweise nach ihm benannten Fixpunktsatz, der ein Jahr später von G.D. Birkhoff bewiesen wurde.

Im Jahre 1889 gewann Poincaré einen Preis des schwedischen Königs, den dieser für die erfolgreiche Behandlung des Mehrkörperproblems ausgesetzt hatte. Poincaré hatte dazu die Resultate von drei Arbeiten von H. Bruns aus dem Jahre 1887 aufgegriffen. Bruns hatte gezeigt, daß über die bekannten Integrale hinaus keine weiteren exakten Integrale der Bewegungsgleichungen existieren. Poincaré ergänzte die Brunsschen Resultate derart weitreichend, daß Weierstraß von einer „neuen Ära der Himmelsmechanik“ sprach. In zwei Werken Poincarés über Himmelsmechanik, „Les méthodes nouvelles de mécanique céleste“ (1893) und „Lecons de la mécanique céleste“ (1905), behandelte er nicht nur seine neuen Methoden (asymptotische Entwicklungen, divergente Reihen, Ergodentheorie), sondern setzte diese auch zur Beschreibung der Mondbewegung, zur Untersuchung der Stabilität der Planetenbahnen und für die Störungsrechnung ein. Im Jahre 1881 hatte A. Michelson gezeigt, daß ein „Ätherwind“ nicht existiert, und damit grundlegend neue kosmologische Fragen aufgeworfen. Poincaré und Lorentz behandelten diese, und als Konsequenz daraus forderte Poincaré 1895 das Relativitätsprinzip für optische und elektromagnetische Vorgänge, kritisierte 1898 die klassischen Begriffe „absolute Zeit“ und „Gleichzeitigkeit“, stellte 1900 die Ätherhypothese in Frage und deutete 1904 die Möglichkeit einer „neuen Mechanik“ unter Festsetzung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit an. Im Jahre 1905 zeigte er den Gruppencharakter der „Lorentz-Transformation“. Poincaré wurde so zu einem der wichtigsten Vorläufer Albert Einsteins.

Auf algebraischen Gebiet führte Poincaré 1903 die Rechts- und Linksideale einer Algebra ein und unternahm erste Schritte zur Axiomatisierung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Seine frühen Untersuchungen über „Fuchssche Funktionen“ enthielten implizit Keime der Mengenlehre.

Poincaré unterstützte massiv die oft heftig angegriffenen Ideen Cantors, konnte sich aber im Laufe seiner Beschäftigung mit den Grundlagen der Cantorschen Auffassungen immer weniger mit dem „Aktualunendlichen“ anfreunden. Noch weniger genehm waren ihm Überlegungen, das Auswahlaxiom auf unendliche Mengen anzuwenden, ebenso wie die Finitheitsforderungen Kroneckers. Dieses Konglomerat von Meinungen Poincarés war begründet in seiner Auffassung von Mathematik, mit der er sich den formalistischen Auffassungen Hilberts näherte: Mathematik studiere nicht die Objekte selbst, sondern die Beziehungen zwischen den Objekten. In der Geometrie speziell sei es daher unwichtig, welche Objekte real existieren, geometrische Sätze seien nur zweckmäßige Übereinkünfte (Konventionen) zwischen freien Schöpfungen des Geistes. In drei außerordentlich einflußreichen Büchern (1902, 1905, 1908) erläuterte er diese von I. Kant (1724–1804) und E. Mach (1838–1916) beeinflußte Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaften. Letztere waren nach Poincaré „nur“ eine Sammlung von Entdeckungen. Die seit 1897 laufenden, direkten Untersuchungen von E. Toulouse (1865–1945) am aktiven mathematischen „Erkenntnisprozeß“ Poincarés bilden den Beginn der „Wissenschaftspsychologie“.

Poincaré gilt als einer der letzten Universalgelehrten, der zu vielen Gebieten der Mathematik und deren Anwendungen wichtige, teilweise grundlegende Beiträge lieferte. Seine Arbeiten umfaßten u. a. Topologie, Differentialgleichungen, Differenzengleichungen, Potentialtheorie, komplexe Funktionen, Variationsrechnung, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Himmelsmechanik, Thermodynamik, Elektromagnetismus, Optik, Hydromechanik, Elastizitätstheorie, Kapillaritätstheorie und Kosmologie.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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