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Lexikon der Mathematik: quantenmechanische Streutheorie

im Rahmen der Quantenmechanik die Beschreibung des folgenden Experiments: Die von einer Quelle erzeugten Teilchen werden in einer Apparatur in gewünschter Weise präpariert (z. B. werden nur Teilchen um einen bestimmten Impuls erzeugt). Ein Teilchen davon wird auf eine sich in großer Entfernung befindenden „Zielscheibe“ (Target) geschossen (dabei ist die Wechselwirkung zwischen Teilchen und Zielscheibe anfangs vernachlässigbar ( freie Teilchen), dann tritt Wechselwirkung (Streuung) auf). Schließlich fängt ein Detektor (wieder in großer Entfernung vom Ziel befindlich) Teilchen auf (wieder als frei zu betrachten).

Die Besonderheiten des Targets haben großen Einfluß auf das Streuresultat: Bei einem dicken Target werden Mehrfachstreuungen auftreten, bei einem Kristall Interferenzen.

Es werden verschiedene Typen von Streuungen unterschieden: Bleibt die gesamte kinetische Energie der stoßenden Teilchen erhalten, spricht man von elastischer Streuung, im gegenteiligen Fall wird der Vorgang unelastische Streuung genannt (beispielsweise können innere Zustände angeregt werden). Ändern sich Zahl und Art der Teilchen, spricht man von Rearrangement-Streuung (ein Spezialfall ist der Zerfall eines Teilchens). Gibt es bei einem solchen Prozeß mehrere Möglichkeiten, dann spricht man von Mehrkanal-Streuung.

In der instationären Streutheorie wird die zeitliche Entwicklung von Zuständen betrachtet und ihr Verhalten in der unendlich fernen Vergangenheit und Zukunft mit dem Streuvorgang in Verbindung gebracht. Der stationären Streutheorie liegt die Vorstellung zugrunde, daß das Target mit einem stationären Strom von Teilchen beschossen wird. Wechselwirkung von Teilchen und Streudaten werden in Beziehung zum asymptotischen Verhalten von Lösungen der zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung gesetzt. Letzterer Zugang ist älter als der andere, er ergibt sich aber aus diesem als Grenzübergang.

Zeitabhängige Streutheorie: Die asymptotische Bedingung ist die Forderung, daß die Zustände, die die Streuung beschreiben, durch Größen ausgedrückt werden können, die in der unendlich fernen Vergangenheit und Zukunft freie Teilchen charakterisieren. Diese Bedingung wird hier für ein System mit nur einem Kanal (siehe oben) formuliert.

Die zeitliche Entwicklung des Zustandes des Systems ohne Wechselwirkung (Streuung) werde durch eine einparametrige stetige unitäre Gruppe mit den Elementen Ut beschrieben. Entsprechend seien Vt die Elemente einer einparametrigen stetigen unitären Gruppe, die die zeitliche Entwicklung des Systems mit Wechselwirkung (Streuung) liefert. Ist \({\hat{H}}_{0}\) der Hamilton-Operator ohne und \(\hat{H}={\hat{H}}_{0}+\hat{V}\) der Hamilton-Operator mit Wechselwirkung, dann gilt \begin{eqnarray}\begin{array}{ccc}{U}_{t}=\exp (-it{\hat{H}}_{0}) & \text{und} & {V}_{t}=\exp (-it\hat{H}).\end{array}\end{eqnarray}

Ein Beispiel ist die Potentialstreuung: Ein nichtrelativistisches Teilchen ohne Spin wird an einem Potential gestreut, das nach der klassischen Physik durch die Funktion V : ℝ3 → ℝ gegeben ist.

\({\mathcal{H}}\) sei der Hilbert-Raum der (reinen) Zustände des betrachteten Systems. Es wird nun angenommen, daß es zu \(\hat{H}\) eine Menge \({ {\mathcal M} }_{\infty }(\hat{H})\) mit folgenden Eigenschaften gibt: \({ {\mathcal M} }_{\infty }(\hat{H})\) ist Unterraum von \({\mathcal{H}}\), und \({ {\mathcal M} }_{\infty }(\hat{H})\) ist invariant gegen die Gruppe {Vt}. Elemente \(g\in { {\mathcal M} }_{\infty }(\hat{H})\) werden Streuzustände genannt. Die asymptotische Bedingung lautet dann: Zu g ∈ ℳ (\(\hat{H}\)) gibt es zwei Zustände f ± mit der Eigenschaft, daß Vt g stark gegen Ut f ± konvergiert für t →± ∞.

\(\begin{eqnarray}{E}_{\infty }(\hat{H})\end{eqnarray}\) sei der selbstadjungierte Operator der Orthogonalprojektion auf \({ {\mathcal M} }_{\infty }(\hat{H})\), und \(f-\in { {\mathcal M} }_{\infty }({\hat{H}}_{0})\) sei der Anfangszustand bei t = 0. Dann fordert die asymptotische Bedingung einmal die Existenz eines \(g\in { {\mathcal M} }_{\infty }(\hat{H})\) mit \begin{eqnarray}\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{t\to \infty }||{V}_{t}g-{U}_{t}{f}_{-}||=0,\end{eqnarray}

und dann die Existenz von \(f+\in { {\mathcal M} }_{\infty }({\hat{H}}_{0})\) mit \begin{eqnarray}\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{t\to \infty }||{V}_{t}g-{U}_{t}{f}_{+}||=0.\end{eqnarray}

Dies ist äquivalent zur Forderung der Existenz von \({\Omega }_{\mp }:={\text{s-lim}}_{t\to \mp \infty }{V}_{t}^{* }{U}_{t}{E}_{\infty }({\hat{H}}_{0})\) (etwas abweichend von der gängigen Definition in der physikalischen Literatur). Die Ω werden Wellenoperatoren genannt, und der Streuoperator S wird durch \({\Omega }_{+}^{* }{\Omega }_{-}\) definiert. Ferner ist \(R:=S-{E}_{\infty }({\hat{H}}_{0})\). Dieser Operator hängt unter einigen Voraussetzungen mit dem Wirkungsquerschnitt zusammen. Die Wellenoperatoren Ω± sind partielle Isometrien, d. h., D±) = \({\mathcal{H}}\) und ΩΩ = E mit der Anfangsmenge \(E {\mathcal H} ={ {\mathcal M} }_{\infty }({\hat{H}}_{0})\).

\({\mathcal{A}_0}\) sei die Menge aller Observablen mit den Eigenschaften \begin{eqnarray}A\in {{\mathcal{A}}}_{\text{0}}\iff A=A{E}_{\infty }({\hat{H}}_{0})={E}_{\infty }({\hat{H}}_{0})A,\end{eqnarray}

und A kommutiere mit Ut. Wir definieren \begin{eqnarray}{A}_{\pm }:=\mathop{\text{s-lim}}\limits_{t\to \pm \infty }{U}_{t}^{* }A{U}_{t}.\end{eqnarray}

Es gilt dann A = A ±.

Mit zusätzlichen Bedingungen folgt aus der Existenz von \({\text{s-lim}}_{t\to \pm \infty }{V}_{t}^{* }A{V}_{t}{E}_{\infty }(\hat{H})\) für alle A ∈ \({\mathcal{A}_0}\) die Existenz von zwei partiellen Isometrien Ω′± mit der Anfangsmenge \({ {\mathcal M} }_{\infty }({\hat{H}}_{0})\), daß \begin{eqnarray}\mathop{\mathrm{s-lim}}\limits_{t\to \pm \infty }{V}_{t}^{* }A{V}_{t}{E}_{\infty }(\hat{H})={{\Omega }{^{\prime} }}_{\pm }A{\Omega }{^{\prime}}^*_{\pm }\end{eqnarray}

für alle A ∈ \({\mathcal{A}_0}\). Diese partiellen Isometrien werden verallgemeinerte Wellenoperatoren genannt.

In der mathematischen Behandlung der Streuung geht es vor allem um Existenzbeweise für die Wellenoperatoren und ihre Verallgemeinerungen. Mit Hilfe der unitären Transformation Ut kann man die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung in eine Form bringen, die nur noch einen umdefinierten Wechselwirkungsterm und nicht mehr den ungestörten Hamilton-Operator \({\hat{H}}_{0}\) enthält (Wechselwirkungsbild).

Stationäre Streutheorie: Der einfachste Fall liegt mit der Potentialstreuung vor. Als Randbedingung für die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung wird ein Zustand gewählt, der einer ebenen Welle und einer auslaufenden Kugelwelle entspricht. Mit dieser Randbedingung wird der Übergang von der Schrödinger-Gleichung zu einer Integralgleichung vollzogen, deren Lösung durch Greensche Funktionen und das Potential ausgedrückt wird.

Diesem Zugang liegt die Vorstellung zugrunde, daß sich ein kontinuierlicher Strom von Teilchen mit einem Impuls in einem engen Intervall auf das Target bewegt. Da der Impuls recht genau bekannt ist, ergibt sich für den Ort der einlaufenden Teilchen aufgrund der Heisenbergschen Unschärferelation eine große Unbestimmtheit. Dies findet seinen Ausdruck in der angesetzten ebenen Welle.

Die ebene Welle laufe in z-Richtung. Dann geht die Wellenfunktion ψ(𝔯) für |𝔯| → ∞ gegen den Ausdruck \begin{eqnarray}{e}^{ikz}+f(k,\vartheta, \varphi ){e}^{ik|{\mathfrak{r}}|}/|{\mathfrak{r}}|\end{eqnarray}

(ϑ und φ sind Kugelkoordinaten). Der Ursprung des Koordinatensystems soll im Zentrum des Potentials liegen. ϑ ist der Winkel zwischen der z-Achse und der Streurichtung, und \(k:=\sqrt{2mE}/\hslash \) (m und E sind Masse und Energie der einlaufenden Teilchen, ħ das normierte Plancksche Wirkungsquantum). f (k, ϑ, φ) wird Streuamplitude genannt. Wenn das Potential nur von |𝔯| abhängt, kann man die Variablen trennen. Zusätzliche Vereinfachung bringt die Symmetrie um die z-Achse.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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