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Lexikon der Mathematik: Versicherungsmathematik

Die Versicherungsmathematik beschäftigt sich als Teilgebiet der Angewandten Mathematik mit Fragen der Versicherungspraxis, soweit diese mathematischen Methoden zugänglich sind und nicht etwa ökonomische oder juristische Aspekte zum Gegenstand haben.

Als Beginn der Versicherungsmathematik wird von einigen Autoren die Veröffentlichung der ersten empirisch gesicherten Sterbetafel durch den Astronomen Edmond Halley 1693 angesehen („An Estimate of the Degrees of Mortality of Mankind drawn from curious Tables of Births and Funerals at the City of Breslaw with an Attempt to ascertain the Price of Annuities upon Lives“), wenngleich sich der Versicherungsgedanke bis in die Antike zurückverfolgen läßt: Aus der römischen Kaiserzeit (etwa um 130 n. Chr.) sind die Statuten einer Sterbegeldkasse überliefert, und die erste bekannte römische Bevölkerungstafel, die sogenannte Ulpian-Tafel mit einer Prognose der zukünftigen Lebensdauer in Abhängigkeit vom Alter, wird auf das Jahr 220 nach Christus datiert.

Den ersten Rückversicherungsverträgen und Seeversicherungen (etwa um 1300) und den später eingerichteten Tontinen ist allerdings gemeinsam, daß sie mathematisch nicht fundiert waren. Das noch heute in der Personenversicherung verbreitete Deterministische Modell ist dann auch erst im achtzehnten Jahrhundert in einer Zeit des allgemeinen Aufschwungs mathematischer Methoden entwickelt worden, und wurde mit dem Gesetz der großen Zahl (Jakob Bernoulli) und dem hierdurch bewirkten Ausgleich im Kollektiv begründet.

Wenn einem On dit zufolge Reine und Angewandte Mathematik überhaupt nichts miteinander zu tun haben (David Hilbert), dann haben das Mathematiker in früheren Jahrhunderten offenbar anders gesehen. Hierzu seien stellvertretend nur zwei Beispiele von herausragenden Mathematikern genannt, die auch für viele praktische Anwendungen Nützliches geleistet haben:

Leonard Euler (1707–1783) hat sich in vier Arbeiten mit Fragen der Kalkulation von Lebensversicherungen beschäftigt und dabei auch explizit das sogenannte Äquivalenzprinzip formuliert [2].

Das zweite Beispiel ist Carl Friedrich Gauß, der auf Bitte des Kurators der Universität Göttingen die finanzielle Lage der Göttinger Professoren-Witwen und -Waisenkasse zu den Stichtagen 1. Oktober 1845 und 1. Oktober 1851 begutachtet hat. In der Einleitung des Gutachtens schreibt Gauß: „Erstlich haben von der Langwierigkeit solcher Rechnungen diejenigen Herren eine sehr falsche Vorstellung, welche glauben, daß sie binnen vier Wochen vollendet werden können…. Zweitens lassen sich die Rechnungen mit Gründlichkeit gar nicht führen, ohne die nöthigen Data, wovon zur Zeit gar Nichts vorliegt. Worin die erforderlichen Data bestehen, werde ich weiterhin angeben, ohne sie kann ich mich auf gar nichts einlassen;…“ ([3], S. 119–188).

Der Verlauf der weiteren Entwicklungsgeschichte der Versicherungsmathematik ist eng verknüpft mit dem Namen zweier schwedischer Mathematiker: Filip Lundberg und Harald Cramér (1893–1985), die mit ihren fundamentalen Arbeiten zum Kollektiven Modell in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Grundlagen der Risikotheorie schufen.

Die numerische bzw. approximative Berechnung der Gesamtschadenverteilung eines Versicherungskollektivs ist neben der Frage der langfristigen Stabilität des Risikoverlaufes (Ruintheorie) eines der klassischen Grundprobleme der Risikotheorie. Hier sind gerade in letzter Zeit durch Computerangepaßte Algorithmen (Nelson de Pril 1986, 1989) wichtige, für die Praxis relevante Fortschritte erzielt worden.

Weitere wichtige Teilgebiete der Risikotheorie beschäftigen sich mit der Theorie der Prämienkalkulation, der Bestimmung des Spätschadenpotentials (das sogenannte IBNR-Problem: Incurred But Not Reported), und der Credibility-Theorie. Überhaupt hat sich das Methodenspektrum der Versicherungsmathematik in den letzten Jahrzehnten deutlich erweitert. Hierzu gehört die Theorie der stochastischen Prozesse, die als Instrument F. Lundberg um 1903 bis 1909 noch nicht zur Verfügung stand; manche seiner eher kryptisch verpackten Ideen sind dann auch erst von H. Cramér mit der notwendigen mathematischen Genauigkeit beschrieben worden. Weiterentwickelt wurde die Ruintheorie dann in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit Methoden der Erneuerungstheorie (W. Feller 1966) und der Martingalmethode (H. Gerber 1973) vor allem durch die Schweizer Schule der Versicherungsmathematik (H. Ammeter, H. Bühlmann und H. Gerber).

Ein ganz aktueller Zweig der Versicherungsmathematik beschäftigt sich mit den Modellen der Finanzmathematik und deren Anwendung auf Fragen der Steuerung von Kapitalanlagen von Versicherungsunternehmen sowie deren Abstimmung mit den vorhandenen Leistungsverpflichtungen. Hier hat sich innerhalb der Internationalen Aktuarvereinigung IAA eine eigene Sektion unter der Abkürzung AFIR (Actuarial Approach for Financial Risk) etabliert.

Vielfältige Methoden werden bei der Modellierung von komplexen Strukturen an den Finanzmärkten heute verwendet. Dazu gehören stochastische Prozesse, Methoden der stochastischen Analysis, der Potentialtheorie, die Theorie partieller Differentialgleichungen und deren numerische Behandlung, um ohne Anspruch auf Vollständigkeit die wichtigsten Gebiete aufzuzählen. Ein häufig geäußerter Kritikpunkt an der Versicherungsmathematik betrifft das vergleichsweise enge Methodenspektrum. Das trifft aus heutiger Sicht sicher für die klassische deterministische Theorie der Personenversicherung zu, nicht aber für die zuletzt genannten aktuellen Entwicklungen.

Literatur

[1] Bühlmann,H.: Entwicklungstendenzen in der Risikotheorie, Jber.Dt.Math.-Verein. 90. Teubner-Verlag Stuttgart, 1988.

[2] Leonardi Euleri Opera Omnia: Series Prima, Band VII. Leipzig, Berlin, 1923.

[3] Gauß, C.F.: Werke, Band 4. Georg Olms Verlag, Hildesheim, 1973.

[4] Krengel, U.: Wahrscheinlichkeitstheorie, S.457-489, in: Dokumente zur Geschichte der Mathematik, Band 6, Ein Jahrhundert Mathematik 1890-1990, Festschrift zum Jubiläum der DMV. Vieweg & Sohn Braunschweig, 1990.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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