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Lexikon der Mathematik: Weyl, Claus Hugo Hermann

deutscher Mathematiker, geb. 9.11.1885 Elmshorn, gest. 8.12.1955 Zürich.

Weyl besuchte das Gymnasium in Hamburg-Altona und studierte ab 1903 auf Empfehlung des Direktors der Schule, einem Cousin David Hilberts, in Göttingen Mathematik. Nachdem er zwischenzeitlich zwei Semester in München studiert hatte, promovierte er 1908 an der Universität Göttingen, habilitierte sich dort 1910 und lehrte dann als Privatdozent. 1913 erhielt er einen Ruf als Professor an die Universität Zürich und trat 1930 die Nachfolge seines Lehrers David Hilbert in Göttingen an. Bereits drei Jahre später emigrierte er wegen der veränderten politischen Verhältnisse in Deutschland und fand am Institute for Advanced Study in Princeton eine neue Wirkungsstätte mit ausgezeichneten Arbeitsbedingungen. Von Princeton aus hat er sich gemeinsam mit einigen Kollegen sehr für die Unterstützung der aus Deutschland geflohenen Mathematiker engagiert. Nach seiner Emeritierung 1951 kehrte er nach Zürich zurück, war aber weiterhin regelmäßig in Princeton zu Gast.

Weyl gilt als der bedeutendste Schüler von David Hilbert. Er hat mit seinen Beiträgen die Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert auf mehreren Gebieten wesentlich geprägt. In seiner Dissertation behandelte er singuläre Integralgleichungen mit symmetrischem Kern und leitete neue Einsichten über das Spektrum des Kerns ab. Dies war der Ausgangspunkt für verschiedene Anwendungen, u. a. auf gewöhnliche Differentialgleichungen vom Sturm-Liouville-Typ. In seiner Habilitationsschrift untersuchte er das Verhalten der Lösungen des Sturm-Liouville-Problems \begin{eqnarray}\begin{array}{l}(p(x){y}{^{\prime}}{)}{^{\prime}}-q(x)y+\lambda r(x)y=0,\\ p(a){y}{^{\prime}}(a)-wy(a)=0,\\ p(b){y}{^{\prime}}(b)-hy(b)=0\end{array}\end{eqnarray}

(p(x) stetig differenzierbar auf [a, b]; r(x), q(x) stetig auf [a, b], p(x) > 0 und r(x) > 0 auf [a, b]; w, h reell) für ein rechtsseitig unendliches Intervall und wies nach, daß unabhängig von der Wahl des Parameters λ(bei Im λ > 0) zwei Fälle zu unterscheiden sind: der Grenzkreis- und der Grenzpunktfall. Im letzteren Fall ist nur eine der Lösungen der Sturm-Liouville-Gleichung auf dem Intervall [a, ∞) quadratisch integrierbar.

Aus heutiger Sicht gab Weyl damit ein erstes Beispiel für den bei unbeschränkten Hermiteschen Operatoren auftretenden Defekt. Aus dem Studium des Spektrums der Gleichung leitete Weyl außerdem Aussagen über die Darstellung von quadratisch integrierbaren Funktionen durch die Eigenfunktionen und die Zahl der zu stellenden Randbedingungen ab. Im Anschluß an diese Untersuchungen analysierte Weyl ab 1911 die asymptotische Verteilung der Eigenwerte für elliptische partielle Differentialoperatoren in einem Gebiet G bei vorgegebenen linearen Randbedingungen. Diese Operatoren, zu denen auch der Laplace-Operator gehört, spielen bei vielen Problemen der mathematischen Physik eine bedeutende Rolle.

Von grundlegender Bedeutung erwies sich Weyls Minimax-Methode zur direkten Bestimmung des n-ten Eigenwerts λn eines Operators, d. h., ohne vorher die Eigenwerte λ1, λ2,…,λn−1 zu bestimmen. Er behandelte damit Fragen der Hohlraumstrahlung und der Membranschwingungen. Weyl und R. Courant, nach dem die Methode heute auch benannt wird, haben dieselbe sehr erfolgreich auf verschiedenste Aufgaben der Funktionalanalysis angewandt, die mit selbstadjungierten vollstetigen Operatoren verknüpft sind.

Ein weiteres der frühen Forschungsgebiete Weyls war die Gleichverteilung der Zahlen modulo 1. Er schuf einen völlig neuen Zugang zu diesen Fragestellungen, sodaß man Weyl auch als Begründer dieses neuen Teilgebiets der Zahlentheorie bezeichnet. Eine Folge (xn) reeller Zahlen heißt gleichverteilt modulo 1, wenn für jedes Teilintervall [a, b] von [0,1] die Anzahlfunktion A(a, b, N) von Elementen xn mit nN und axn < b der Relation \begin{eqnarray}\mathop{\mathrm{lim}}\limits_{N\to \infty}{N}^{-1}A(a,b,N)=b-a\end{eqnarray}

genügt. Als wichtige Resultate seien Weyls Beweis der Gleichverteilung der Folgen {} (α irrational) und {p(n)} (p Polynom beliebigen Grades, dessen Koeffizient der höchsten Potenz irrational ist) genannt. Weyls Ideen haben dann eine wichtige Rolle in der additiven Zahlentheorie, speziell bei der Anwendung der Hardy-Littlewood-Methode, gespielt.

Im Anschluß an seine Vorlesung über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen publizierte Weyl 1913 das Buch „Die Idee der Riemannschen Fläche“. Angeregt durch Brouwers topologische Arbeiten und unter Rückgriff auf Ideen Hilberts, gab er eine exakte arithmetischtopologische Grundlegung der Riemannschen Ideen. Seine Hauptergebnisse waren einerseits der Nachweis der Existenz einer eindeutigen kompakten Riemannschen Fläche bei vorgegebener algebraischer Funktion sowie die Diskussion wichtiger Eigenschaften dieser Fläche, und andererseits der Beweis der Tatsache, daß jede abstrakte kompakte Riemannsche Fläche mit speziellen Eigenschaften die Riemannsche Fläche einer gewissen algebraischen Funktion ist. Das Buch wurde sofort zu einem Standardwerk und hat weitere Forschungen zur Theorie der Mannigfaltigkeiten wesentlich beeinflußt.

Nach der Rückkehr vom Kriegsdienst widmete sich Weyl ab 1916 vor allem Fragen der Relativitätstheorie und lieferte grundlegende Beiträge zu deren mathematischer und philosophischer Begründung. Seine Vorlesungen von 1917 zur Relativitätstheorie bildeten die Basis für das Buch „Raum, Zeit, Materie“, das 1923 in überarbeiteter und erweiterter Form bereits in fünfter Auflage erschien und das einen großen Anteil an der Popularisierung der Relativitätstheorie hatte. In diesem Kontext verallgemeinerte er den Begriff der Parallelverschiebung von Leci-Cevita, indem er ihn durch innere Eigenschaften bestimmte und die Einbettung in eine höherdimensionale Mannigfaltigkeit vermied. Weiterhin definierte er den Begriff des linearen Zusammenhangs und konstruierte verallgemeinerte affine, projektive und konforme Geometrien. Diese Ideen haben die weitere Entwicklung der Differentialgeometrie stark beeinflußt.

Weyl versuchte auf dieser Basis dann eine einheitliche Feldtheorie aufzubauen, die Gravitation und elektromagnetisches Feld einheitlich im Rahmen einer eichinvarianten Geometrie behandeln sollte. Obwohl er diese Idee sehr bald wieder aufgeben mußte, haben seine Vorstellungen wichtige Forschungen in der Quantentheorie und der Theorie der Elementarteilchen angeregt, beispielsweise zur Eichinvarinanz in der Quantentheorie des Elektrons.

Im Zusammenhang mit den Studien zur Relativitätstheorie entwickelte Weyl in den zwanziger Jahren einige sehr anregende kosmologische Ideen. So gehörte er zu den ersten Gelehrten, die eine angenähert lineare Beziehung zwischen der Rotverschiebung des Spektrums von Galaxien und deren Entfernung voraussagten und berechneten.

Die Studien zur Riemannschen Metrik und dem damit verbundenen Raumproblem sowie einige kritische Reaktionen auf seine ersten Veröffentlichungen dazu führten Weyl zur Theorie der Darstellungen und Invarianten von Lie-Gruppen. In zwei Arbeiten legte er 1924 die Grundzüge seiner Methode zur systematischen Analyse der Darstellungen halbeinfacher Lie-Algebren dar. Er kombinierte dabei tiefliegende analytische bzw. algebraische Methoden von A. Hurwitz, I. Schur, G. Frobenius, A. Young, und E. Cartan, gab 1925/26 in einer vierteiligen Arbeit einen vollständigen Überblick über die irreduziblen Darstellungen halbeinfacher Lie-Gruppen, und 1927 zusammen mit F. Peter den Hauptsatz für die Darstellung kompakter Lie-Gruppen. Nachdem Weyl in den folgenden Jahren die Aussage einiger Theoreme noch erweitert hatte, schuf er 1939 mit der zusammenfassenden Darstellung „The Classical Groups, Their Invariants and Representations“ einen weiteren Klassiker. Wichtige Anwendungen fanden die Resultate der in der Mitte der 20er Jahre entwickelten Theorie der Quantenmechanik, und Weyl hat sich sofort mit den Grundlagen der Theorie auseinandergesetzt. Mit „Gruppentheorie und Quantenmechanik“ publizierte er eines der ersten Lehrbücher zur Quantenmechanik und leistete einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der mathematischen bzw. physikalischen Aspekte der neuen Theorie bei Physikern und Mathematikern.

Seit seiner Jugend interessierte sich Weyl sehr für philosophische Fragen, und viele seiner Arbeiten enthalten entsprechende Reflexionen. Dies traf insbesondere auf die Arbeiten zu den Grundlagen der Mathematik zu. In den Diskussionen um die Grundlagen der Mathematik vertrat er eine intuitionistische Position, u. a. gab er 1918 eine konstruktive Analyse der reellen Zahlen und 1921 eine neue Begründung dieser Zahlen.

Weyl hat durch sein vielseitiges mathematisches Schaffen, ergänzend sei noch auf Arbeiten zur Geometrie der Zahlen, zur φ-Funktion, zu fastperiodischen Funktionen und zur Topologie verwiesen, und die außergewöhnliche Gabe, seine Ideen und Resultate geschickt und elegant darzustellen, die Mathematik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflußt.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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