Direkt zum Inhalt

Lexikon der Mathematik: Wiener, Norbert

Mathematiker, geb. 26.11.1894 Columbia, Miss., gest. 18.3.1964 Stockholm.

Nur wenigen Mathematikern des 20. Jahrhunderts ist es wie Wiener vergönnt gewesen, eine derartig große Bedeutung für das moderne Denken und Forschen zu gewinnen. Er hat mit seinen Denkansätzen entscheidend das Entstehen der gegenwärtigen Informationsgesellschaft gefördert.

Wiener stammte aus einer Familie, in der neben der jüdischen Tradition auch deutsche und russische Einflüsse einen hervorragenden Platz einnahmen. Sein Vater war der bedeutende Slawist Leo Wiener. Norbert Wiener erhielt wegen seiner intellektuellen Frühreife eine unorthodoxe Ausbildung, besuchte nur kurz eine öffentliche Schule, und ab 1903(!) eine High School. Ab 1906 studierte er Mathematik und Biologie an einem College, 1909 Zoologie in Cambridge (Mass.), dann Philosophie an der Cornell-Universität. 1913 vollendete er seine Studien in Philosophie und Mathematik in Cambridge (England), Göttingen, an der Harvard- und der Columbia-Universität (1912 M.A. Harvard-Universität, 1913 Ph.D. Harvard-Universität). 1915-16 war er am Philosophy Department von Harvard angestellt und las über mathematische Logik, 1916-17 lehrte er an der Universität von Maine Mathematik. Nach einer unsteten Zeit, in der Wiener verschiedene Berufe ausübte, wurde er 1919/20 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge (Mass.) fest angestellt (1929 a. o. Professor, 1932 ordentlicher Professor). Bis zu seinem Lebensende war Wiener mit dem MIT verbunden. Seine dortige Lehrtätigkeit wurde jedoch durch eine große Anzahl von Gastprofessuren und Studienaufenthalten in vielen Ländern der Erde unterbrochen.

Nach frühen Arbeiten zur Logik (Relationskalkül 1912, synthetische Logik 1913, Theorie des Messens 1919) folgte eine Phase der Beschäftigung mit der harmonischen Analyse und ihrer Beziehung zur Theorie zufälliger Prozesse. Diese Arbeiten ermöglichten es Wiener, die Grundlagen der harmonischen Analyse auf algebraischer Basis neu zu fassen. Angeregt durch Probleme der theoretischen Elektrotechnik befaßte sich Wiener mit der Operatorenrechnung. Es gelang ihm, das bislang übliche, völlig empirische Verfahren von O. Heaviside durch eine weitgehend einwandfreie Methode zu ersetzen (1925).

Wieners Arbeiten zur Potentialtheorie (1923/24) enthielten als Hauptresultate den „Grenzwertsatz von Wiener“ und die Beiträge zur „Methode von Perron-Wiener-Brelot“.

Noch in den zwanziger Jahren entwickelte Wiener das Konzept des linearen normierten Raumes und der Fourier-Transformation im Komplexen. Unter dem Einfluß von A.E. Ingham und Robert Schmidt wandte er sich 1926/27 der Theorie der Tauber-Theoreme zu, suchte diese auf zahlentheoretische Fragen anzuwenden, und arbeitete über Quantenmechanik (Anwendung der Operatorenrechnung).

Wieners früher internationaler Ruf gründete sich vor allem auf seine Untersuchungen zur Brownschen Bewegung (1920-1934). Neben anderen Mathematikern vermochte es Wiener dabei, die Behandlung stochastischer Prozesse in die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu integrieren.

In den Jahren nach 1930 setzte sich Wiener mit Einsteins Relativitäts- und Feldtheorie auseinander, arbeitete über Ergodentheorie und Integralgleichungen. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges entwickelte er eine Theorie der Filter und der optimalen Vorhersage (1940–43). Beide Forschungsgebiete waren von eminentem militärischem Wert, und die Wienerschen Resultate hatten grundsätzliche Bedeutung für Radartechnik und Flugabwehr.

Ab 1933 nahm Wiener am interdisziplinären Seminar der Harvard Medical School unter der Leitung von A. Rosenblueth (1900–1970) teil. Dieses Seminar und die Zusammenarbeit mit Rosenblueth förderten nicht nur Wieners eigene Arbeiten zur Physiologie von Muskeln und Nerven (u. a. Prinzip der Rückkopplung in lebenden Organismen), sondern wurden auch zum Ausgangspunkt der „Kybernetik“.

Neben Rosenblueth haben vor allem J. v. Neumann, W. McCulloch, W. Pitts, und W. Walter wesentliche Ideen zur frühen Wienerschen Kybernetik beigesteuert. 1948 erschien Wieners Werk „Cybernetics... “, das die Disziplin der Kybernetik begründete und viele klassische Resultate aus der Welt der lebenden Organismen, der Technik, Philosophie und Mathematik unter neuen einheitlichen Gesichtspunkten (Steuerung, Regelung, Information, Modell...) betrachtete.

Nach 1948 sah sich Wiener genötigt, die Probleme der Anwendung und die grundsätzliche technische, gesellschaftliche und philosophische Bedeutung der Kybernetik und ihrer historischen Wurzeln darzulegen. Daneben griff er in den wenigen mathematischen Arbeiten schon früher behandelte Themen wie Matrizenrechnung, Vorhersagetheorie, und zahlentheoretische Probleme wieder auf, schrieb daneben aber auch belletristische Werke.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.